Das Allerletzte. Ein Anfang.
(Dieser Text erschien auch als Grußwßort im internen Newsletter des Deutschen Komponist:innenverbandes)
Was ich mir zum neuen Jahr wünschen würde? Ach, wo soll ich da anfangen…was alles los war in den letzten Jahren, wisst ihr ja. Und was immer noch los ist.
Ich will nicht nostalgisch werden, aber wir erinnern uns alle an 2006, das „Sommermärchen“, und wie wir alle plötzlich das Gefühl hatten, doch eigentlich in einem ganz schönen Land zu leben, nach einer langen Zeit des Selbsthasses und der Selbstgeißelung. Und wie sich auch der Blick des Auslands auf uns veränderte und man sich plötzlich auch als Nicht-Fußballfan nicht mehr schämen musste, einen gewissen Nationalstolz zu empfinden (den alle anderen Länder haben, den wir Deutschen uns aber – aus Gründen der verständlichen Scham – lange nicht erlaubten).
Aus dem Rückblick scheint dieses Gefühl von damals flüchtig, wie aus einer fernen Zeit. Denn spätestens seit dem Beginn der Coronakrise machen wir Deutschen vor allem wieder das, was wir am Allerbesten können, nämlich uns selbst zu geißeln. Und die diesjährige Fußball-WM ist das beste Beispiel. Es ist sehr leicht, die Spieler des Teams als „Versager“ zu schimpfen und sich über sie lustig zu machen. Aber wie konnten sie denn überhaupt etwas richtig machen? Wären sie mit stolzgeschwellter Brust ins Turnier gegangen, hätte man ihnen Ignoranz gegenüber der völkerrechtlichen Situation in Katar und der dubiosen Auslosung vorgeworfen. Hätten sie tatsächlich gewonnen, hätte man den Sieg als „beschmutzt“ empfunden und sich jegliches Feiern verboten. Nun, da sie schnell ausgeschieden sind, schämt man sich ebenso für sie und macht sich sogar über ihren mutigsten Moment des Turniers – nämlich ihre Protestaktion – lustig.
Ich kann mir genau vorstellen, wie sich die Spieler fühlten: vollkommen ohne Unterstützung, allein gelassen mit dem Gefühl, es nicht richtig machen zu können, egal was sie tun. Kein Wunder, dass da keine sportlichen Glanzleistungen entstehen können, dazu muss man nicht viel von Psychologie und Motivationsforschung verstehen.
Ich bringe dieses Beispiel, weil es symptomatisch ist für viele Dinge, die in unserer Gesellschaft im Moment falsch laufen. Denn es sind vor allem wir selbst, die uns ständig Steine in den Weg legen, alles klein reden, immer alles nur im möglichst schlechten Licht sehen.
Auf allen Seiten sind die Fronten hysterisiert. Diejenigen, die es ganz gewiss am schlechtesten mit uns meinen, faseln ständig von Diktatur und Unterdrückung, hinterfragen den Sinn von Rundfunkgebühren, Steuern oder überhaupt irgendeinem Gemeinwesen und schmieden Regierungsumstürze.
Aber als ob das nicht schon übel genug wäre, ist ansonsten auch niemand zufrieden. Jede globale Krise wird immer automatisch den Regierenden in die Schuhe geschoben, die es dann auch nie allen recht machen können, egal was sie tun. Und auch sonst ist ja „dem Gefühl nach“ nichts in Ordnung: Die Coronamaßnahmen sind entweder zu hart oder zu schwach, die Krankenhäuser sind heruntergewirtschaftet, die Deutsche Bahn ohnehin, und das Europaparlament ist korrupt. Viele fühlen sich nur noch als Spielball höherer Mächte, empfinden, dass man „den Mittelstand aushöhlen“, uns alle knechten, den „Great Reset“ erzwingen, uns mit Chemtrails vergiften, das Bargeld wegnehmen, die Menschheit abschaffen will…wir kennen alle diese Mythen. Aber leider kennen wir auch alle immer mehr Menschen, die im Bann von den Ängsten sind, die aus der ständigen Thematisierung dieser Mythen entstehen. Und selbst unter den Vernünftigen hat sich schon seit langer Zeit eingebürgert, eigentlich nur noch über das zu reden, was schiefläuft.
In sozialen Medien gehört es inzwischen schon zum Sport, genüsslich über schlimme Verspätungen der Bahn zu sprechen und sich mit immer verrückteren Erzählungen darüber gegenseitig zu übertreffen. Das verursacht das Phänomen, dass die Verantwortlichen in den Zügen inzwischen nur noch mit einer Art Galgenhumor an die Sache gehen, denn sie wissen: wenn sie pünktlich sind, wird sich keiner freuen, wenn sie es nicht sind, werden sie ausgelacht. Also ist es ihnen zunehmend egal, wie gut es läuft.
Ich habe es inzwischen schon oft erlebt, dass sich Zugbegleiter selbst kaputtlachen, wenn sie wieder eine Verspätung ankündigen, denn: es ist ja eh wurscht. Sie können gar nicht gewinnen, in der öffentlichen Meinung sind sie schon ganz unten. Genauso wie die Nationalmannschaft vor dem Turnier.
Aber genau das ist der Punkt: wenn alles ständig „das Allerletzte“ ist, wenn alle ständig immer nur Klagen, Schimpfen und Jammern, entsteht irgendwann das, was man z.B. von Mobbingopfern kennt: der komplette Verlust des eigenen Selbstwertgefühls. An diesem Punkt sind wir schon. Wir verachten uns selbst, wir sind zunehmend unsere eigenen Mobber, machen uns klein, deklarieren uns als Versager, in vorauseilendem Gehorsam.
Und das kotzt mich an.
Ich habe dieses ständige Jammern und Zagen und apokalyptisches an-die-Wand-malen sowas von satt. Ja, es läuft vieles schief, aber wir müssen nicht immer ständig so tun, als ob ALLES schief läuft. Inzwischen spricht man schon gar nicht mehr von den guten Dingen. Zum Beispiel wie uns die ganze Welt um unser nach wie vor unglaublich reichhaltiges Kulturleben beneidet, zu dem auch wir als Komponistinnen und Komponisten zählen. Oder um viele andere Dinge, auf die wir eigentlich stolz sein könnten. Stattdessen ist inzwischen alles schon so mit Negativität aufgeladen, dass man ohne Not an Dingen zweifelt, die wir uns eigentlich problemlos leisten können (zum Beispiel Kultur). In dieser vorherrschenden Grundstimmung der Negativität wird es dann leider auch immer Personen geben, die genau dies instrumentalisieren und den Applaus von der falschen Seite bekommen.
Und dagegen wehren wir uns nicht genug. Stattdessen werden wir kleinlaut, ergehen uns in endlosen Debatten und woken Scheingefechten, in denen wir uns immer wieder aufs Neue sagen, was gerade alles wieder ganz schlimm und unmöglich ist und nicht geht.
Ich bin nun der Letzte, der behauptet, dass alles ok ist, und dass man die Hände in den Schoß legen kann. Demokratie ist immer Arbeit, sie will erkämpft sein und sie muss aktiv erhalten werden. Das kostet Kraft. Aber was ich ganz sicher weiß, ist, dass man diese Kraft verliert, wenn man immer nur hinter allem einen generellen Niedergang wittert.
Wir Deutschen sind von Natur aus pessimistisch und neigen auch dazu, Miesepeter zu sein (nicht ohne Grund gibt es das Wort „Schadenfreude“ im Deutschen). Aber wir kriegen auch vieles ziemlich gut hin, haben eine wesentlich tolerantere und vielfältigere Gesellschaft aufgebaut als es sie je in diesen Gefilden gab und gelten in der Welt sogar als einigermaßen vernünftig und verlässlich (was bei unserer Geschichte viel heißen will). Unser tiefliegender Glaube daran, dass immer etwas schief gehen kann, schützt uns sogar vor mancher Leichtsinnigkeit. In dem Märchen von den „drei kleinen Schweinchen“ ist das Schweinchen mit dem Steinhaus wie wir, denn es rechnet mit dem Schlimmsten und hat sich für das Schlimmste gewappnet (dieses Märchen ist übrigens englisch, aber es ist eigentlich das deutscheste Märchen überhaupt).
Kurzum: wenn wir immer nur auf das Schlechte in diesem Land schauen, vergessen wir irgendwann das, was wir gut hinbekommen.
Und damit komme ich wieder zurück zum Fußball. Und schaue diesmal auf die Gewinner: Argentinien. Ein Land in Dauerkrise. Ein Land, in dem so ziemlich alles momentan schiefläuft und um das man sich in vielerlei Hinsicht Sorgen machen muss. Ein Land, in dem es den Durchschnittsbürgern ganz sicherlich wesentlich schlechter geht als hier, in denen ihnen wesentlich größere Gefahren drohen. Oder ich schaue in den Osten, in die Ukraine, ein Land, das einem sinnlosen und schlichtweg dummen Krieg ausgesetzt ist, in dem jeden Tag Menschen alles verlieren, was sie haben, ihr Leben, ihr Hab und Gut. Und in dem dennoch jede kleine Gelegenheit genutzt wird, Normalität zu erzeugen, Theater zu spielen, zu singen und zu musizieren, bis zum nächsten Bombenalarm. Ein Land, das sich nicht aufgibt, egal was kommt.
Beiden Ländern ist eindeutig etwas nicht abhandengekommen, was wir so dringend benötigen. Und genau dies, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist auch das, was ich mir zu Weihnachten und fürs Neue Jahr für uns alle wünsche.
Ich wünsche mir: mehr Optimismus.
Denn nur, wenn wir wieder an die Möglichkeit des Guten glauben, bekommen wir das Gute auch hin. Nicht nur Argentinien und die Ukraine, sondern auch die vielen anderen Menschen auf diesem Planeten, die in der Lage sind, trotz widriger Umstände ein positives Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, sollten uns Vorbild sein. Wäre doch gelacht, wenn wir das nicht auch schaffen könnten.
Und das betrifft auch uns Komponierende. Kultur ist nicht nur Konzerte, Songs, Events und Trallala. Sondern auch Destillat dessen, wie sich ein Land fühlt und wie es mit sich selbst kommuniziert. Und da gibt es definitiv Nachholbedarf bei uns.
Mit den besten Wünschen fürs neue Jahr,
Euer Präsi,
Moritz Eggert
Komponist