In der Dunkelheit erglühn die Herzen – Songs vor Weihnachten

In der Dunkelheit erglühn die Herzen –Songs vor Weihnachten

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von Jobst Liebrecht

 

Tand, Tand, Tand – ist alles Werk von Menschenhand!  Während in Berlin-Mitte ein Hotelaquarium mit 1 Million Liter Wasser  und 1500 Fischen explodiert, sitzen wir drumherum in unseren dunklen und kühlen Wohnungen und versuchen schockgefrostet Strom, Gas und Öl zu sparen. Über Trübsinn und Frösteln vor Weihnachten hinaus ist es die katastrophische Gefühlslage, in die uns dieses ganze Jahr über der Ukrainekrieg gestürzt hat, die uns schwer zu schaffen macht – und nicht zuletzt ein großes moralisches Ungenügen über die eigene Larmoyanz dabei.

And  In The Darkness, Hearts Aglow“, ruft uns da eine Liedermacherin aus dem fernen Kalifornien zu. Weyes Blood, die mit bürgerlichem Namen Natalie Mering heißt, bringt ihr neues Album heraus, und wird bereits in einem Atemzug genannt mit Joni Mitchell oder Brian Wilson. Mit Joni Mitchell wegen ihrer Stimme, und mit Brian Wilson verbindet sie zumindest die lyrische Schönheit ihrer Melodieerfindungen und die skurrile Eigenwilligkeit und formale Kraft ihrer künstlerischen Ideen. Wer das folgende Eröffnungsvideo ihres Albums zum Song „It´s Not Just Me It´s Everybody” einmal gesehen hat, vergisst es so schnell nicht wieder:

Über die Ebene der Musik, einem langsamen Blues-„Slow Burner“ in C-Dur, werden in dem Video in einem Anflug von sowohl dunklem als auch versponnenem als auch beißendem Humor zumindest zwei weitere Bedeutungsebenen gelegt:

Mit Eleganz tanzt die Sängerin Natalie Mering in einem Marinekostüm, begleitet von der Zeichentrickfigur eines tanzenden Smartphones – dieses geradewegs als  Anspielung auf den gemeinsamen Tanz des Matrosen Gene Kelly mit Jerry the Mouse in dem Klassiker „Anchors aweigh“ von 1945:

 

Sie tanzt dabei durch die opulente Kulissen des Foyers eines alten Prunktheaters, das angefüllt ist mit ermordeten Leichen, die im Stil der hyperrealistischen 70er Jahre- Kunst von Duane Hanson gekleidet und als „Everyday People“ erkenntlich sind. In der Mitte des Videos öffnet sich der Vorhang des Theaters und auf der Bühne geht der Tanz weiter in einem ebenso hyperrealistischen Bühnenbild zerstörter Gebäudereste, in die von oben links eine glänzende Rakete/Drohne hineinragt. Auch hier liegen überall Leichen herum.

Zwischen diesen Ebenen entsteht ein symbolisches Spiel. Die Künstlerin im Marineanzug tanzt beschwingt und penibel choreografiert durch diese Kulissen. Dieses könnte sowohl den Drahtseilakt der Kunstausübung symbolisieren als auch den verzweifelten Versuch, in dem momentanen Gewaltexzess in der Welt  eine wenn nicht fröhliche so doch tröstende Botschaft an ihr Publikum zu entsenden. Dieser Versuch einer versöhnlichen Botschaft steckt auch in dem Songtitel: es betrifft nicht nur dich oder mich, es betrifft jede/n. Auf der Comic-Ebene gibt es sodann die Figur des tanzenden Smartphones, das Jerry mouse als alter ego abgelöst hat: ein fordernder, sich ereifernder Geselle, der sich von dem Blut der daliegenden Leichen ernährt – ein beißender Kommentar zu dem Voyeurismus, der der momentanen Mediennutzung und dem Internet innewohnt. Die hyperrealistischen Leichen schließlich sind durch ihr bloßes Daliegen der „Elefant im Raum“. Wie kann man, so fragt man sich, vor derartiger Kulisse bloß in C-Dur singen?

 (Eine Frage, die so ähnlich Helmut Lachenmann in den 70er Jahren in einem berühmten Streit bei einer Podiumsdiskussion Hans Werner Henze entgegenschleuderte )

Frau kann. Und es ist ja nicht nur C-Dur. Der ganze Song hat eine ich würde sagen aufreizende, fast schunkelnde Langsamkeit. Die Harmonien haben die Gewöhnlichkeit des Blues-Schemas eingeschrieben, um doch immer wieder plötzlich einen kleinen verführerischen Abweg zu nehmen. Ebenso im Arrangement flackert es im soliden Popuntergrund ständig auf. Irritierende, spacige Synthesizercluster, -akkorde und -ornamente drängen sich vor, Chorharmonien treten hinzu, eine opulente Harfe glissandiert rauf und runter.  Ein Merkmal vieler Weyes Blood-Songs tritt hervor: sie hören nicht einfach auf, sondern nehmen mit einer beängstigenden Hartnäckigkeit, von der jeder Stückeschreibprofessor sofort abgeraten hätte, immer noch eine Kurve. Kalauernd könnte man sagen, Natalie Merings Songs mären sich aus. Aber ich persönlich möchte dort keine Minute missen.

Dass diese Songs fast alle 5 oder 6 Minuten lang werden, ist nämlich künstlerisch vollständig gewollt, und bietet Anlass, an die Vorgeschichte der Künstlerin in der Noise Art der West Coast zu erinnern. Weyes Blood begann als jugendliche Figur, die Platz hätte in einem Tim Burton-Film, mit Klangexperimenten, Lärm und Computermusik. Bei den Performances kam e s darauf an, dem spontan Entstehenden komplett zu folgen, sich zu verlieren in ausufernden Klängen. Sie habe, sagt Natalie Mering, irgendwann gemerkt, dass sie mit ihrer Stimme und einfachen Songs das Publikum viel besser direkt erreichen könne. Sie veröffentlichte dann in steter Folge ein tolles Album nach dem anderen, die sich auch durch prägnant witzige Titel auszeichneten wie zuletzt „Front Row Seat to Earth“( 2016 ) oder ihr riesiger Pandemie-Vorboten-Erfolg „Titanic Rising“ ( 2019 )

Die Künstlerin hat einiges zu sagen. Der Eingangssong „It´s Not Just Me It´s Everybody” spricht mit lapidaren Zeilen wie  “Living in the wake of overwhelming changes / We’ve all become strangers/ Even to ourselves” auch ohne Videoverfilmung bereits direkt zu seinen Zuhörern. Der zweite Song „Children of the Empire“ ist eine überwältigende Hymne zwischen Protestlied und Barock-Pop  und findet zu noch lapidareren Textzeilen wie „So much blood on our hands“ oder „Trying to break away / From the mess we made“.  Gleichzeitig beginnt er mit einem Klavier wie ein Supertramp-Song, ruft die Harmonien der Beach Boys auf, schnipst wie ein Gospel ,  kulminierend in der Zeile „Oh we don´t have time anymore to be afraid!“. Bei einer der folgenden Zeilen, „Children understand that they pay for their sins“ – der Chor singt immer noch  wie bei den Mamas & Papas – treten plötzlich störende Synthesizerklänge hinzu, dann Kirchenorgel und Röhrenglocken. Alles mündet in ein vermeintliches Instrumental-Outro mit improvisierender Sängerin und schwelgerischen Streicherklängen. Wir sind aber erst bei Minute 4, und mit der Zeile „We wanna be free“ setzt eine fulminante, fast rockige Entwicklung ein, die noch eine Minute weiterträgt, um dann plötzlich in ein Streichernachspiel zu münden, das zuerst rhythmisch prononciert an Reich und Glass erinnert, dann aber elektronisch verfremdet wird, in wirklich elektronische Klänge führt, um in einer von der Harfe angeführten Coda sozusagen zu kollabieren. Hier ist größte formal-musikalische Gestaltungskraft am Werk:

Der Gipfel des lapidaren Ausdrucks auf dem Album ist, von einem inbrünstigen Minimalismus beseelt, in dem Song, „God Turn Me Into a Flower” erreicht. Seine Gedichtzeilen, die ein Gebet darstellen, beginnen wie folgt: „As long as I stand / to face the crowd /to know my name / to know its sound / It´s good to be soft when they push you down/Oh God, turn me into a flower”. Es wird sowohl aufgerufen allgemein die buddhistische Weisheit vom Werden und Vergehen, als auch konkret der Mythos des Narziss, der nur sein Ebenbild lieben konnte und sich bei seinem Tod in eine Blume verwandelte. Die Musik beginnt wie ein kirchliches Erbauungslied („Laudato, si“ ) G-Dur – e-moll-CDur -…. jedoch in größter Langsamkeit gespielt und gesungen, sodass bereits eine Minute bis zum Ende der ersten Gedichtzeile vergangen ist. In aller Einfachheit begegnet uns hier allerdings sofort größte Raffinesse in der Klanggestaltung. So wird die zentrale Liedzeile in dem schon zu Brian Wilsons Zeiten häufig angewandten Double-Tracking eingesungen: die Solistin doppelt sich selbst. Ein kurzer Synthesizer-Klang glitzert auf. Die zweite Strophe schließt ebenso an, nur mit mehr gospelhafter Freiheit im Ausdruck gesungen, sie endet auf der Zeile „It’s the curse of losing yourself  / When the mirror takes you too far“. Hier folgt als Einschub ein kurzes mirakulöses Vokalisen-Duett der Sängerin mit sich selbst. Die dritte Strophe bringt keine Änderung: „You see the reflection  /And you want it more than the truth / You yearn to be that dream / You could never get to /‘Cause the person on the other side / Has always just been you”. Ab hier begibt sich die Musik ins Sprachlose. Wir befinden uns erst bei Minute 3, also in der Mitte des Songs, da beginnt das nicht enden wollende Outro. Drei Wellen werden dabei übereinandergelegt. Am Beginn refrainartige, langgezogene Vokalisen von Natalie Mering über einem Basso ostinato, eine Art Kanon mit sich selbst ohne Kanon zu sein. Dort hinein passiert der Auftritt des Synthesizer-Meisters Daniel Lopatin alias Oneohtrix Point Never, der hier mitwirkt und naturhaft gleißende und wabernde Klänge darüber legt. Ab etwa Minute 4`30 dann als die dritte Welle der Auftritt von realen Vogelstimmen. Gesangsstimmen und Synthesizerklänge verlassen dann sukzessive den Raum, bis am Ende bei 6´26  nur die Vogelstimmen übrig bleiben.

Der Vergleich mit Brian Wilson ist hier erkenntnisreich, denn auch dieser hat ans Ende vieler seiner Songs ein krönendes Outro gesetzt, häufig einen besonders schönen Kanon, eine besonders reizende neue Idee – doch anders als bei dem elegisch grundierten Temperament von Weyes Blood hat er häufig auf dem Witz des guten Verkäufers beharrt, aufzuhören, bevor das Schönste völlig verbraucht ist. Von daher wurde ihm dann von seinen Fans vorgeworfen: magisch schön, aber zu kurz. Häufig auch wirken die Outros von Brian Wilson wie nur hinskizziert, mit leichter Hand. Da ist das hier in seiner entschiedenen Hinwendung zum Ambient-Sound etwas ganz anderes. Doch auch hier ist der formale Aufbau meisterhaft: Drei Strophen von jeweils einer Minute Dauer, dann die Verwandlung des Narziss als Höhepunkt, und ein kathedralenartiges textloses Nachspiel von etwas mehr als der gesamten Länge aller drei Strophen – besser kann das Hinabtauchen in den Spiegel des Sees und die Natur nicht symbolisiert werden.

In der Dunkelheit erglühen die Herzen. Die zehn Songs dieses Albums von Weyes Blood, einer so gut wie der andere, können eine richtige Weihnachtsmusik bilden. Sie schaffen Ruhe, bringen das Tempo des Lebens herunter. Sie halten stand großen inneren Anfechtungen und äußeren Desastern. Sie sind äußerst poetisch. Sie stellen auch die richtigen Fragen, wie es überhaupt weitergehen kann mit den Menschen, und laden zum Innehalten ein.

 

Weyes Blood tritt auf ihrer kommenden Europatournee auch zweimal in Deutschland auf:  Am 28.Januar 2023 in Berlin und am 3. Februar 2023 in Köln.

 

Jobst Liebrecht

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