Glaubenssysteme und Kühlschränke

Glaubenssysteme und Kühlschränke

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Was ist stärker – ein Glaubenssystem oder Fakten? Spontan würde man vielleicht sagen, dass Fakten sich am Ende immer durchsetzen, da sie einen vor vollendete Tatsachen stellen. Wenn man aber die momentanen Diskussionen für oder wider Impfen verfolgt, hat man das Gefühl, dass man manche Menschen noch nicht mal mehr erreicht, wenn man ihnen die Fakten wie in einer Johannes-Kreidler-Aktion mit einem Lastwagen vor der Haustür abliefern würde.

Es gibt Coronaleugner, die (schon halbtot) im Krankenhaus Bilder ihrer zerstörten Lunge gezeigt bekommen und nach wie vor die Existenz von Viren oder irgendeiner Pandemie bezweifeln. Es gibt Flatearther, die man mit einer Rakete auf den Mond schicken könnte, und die danach immer noch glauben würden, dass die Erde flach ist und man ihnen einfach nur eine perfekte Illusion geboten hat. Selbst als eine ausgerechnet noch von Trump-Unterstützern durchgeführte Neuauszählung der Stimmen in Arizona das angezweifelte Ergebnis bestätigte, hat dies nicht im Geringsten den Glauben an einen Stimmendiebstahl erschüttert.

Man möchte Idioten wie Michael Wendler, Xavier Naidoo oder Attila Hildmann gerne schütteln und ihnen ins Gesicht brüllen: „Es gibt keine Chemtrails! Es gibt keine jüdische Weltverschwörung! Es ist keine „Fake-Pandemie“!“, aber man würde scheitern, zu sehr sind sie schon in ihren Glaubenssystemen gefangen.

Man könnte Schwurbler wie Bhakdi, Wodarg oder Schiffmann in einen Raum mit den 10.000 führenden ExpertInnen dieses Planeten sperren, die geduldig jeden ihrer unzähligen Denkfehler und Falschbehauptungen widerlegen…es würde nichts nützen, denn sie sind schon so lange bei der Covidiotenbrigade, dass ein Eingeständnis eines Irrtums der Erkenntnis eines grundsätzlichen Lebensversagens gleichkäme, und das ist für viele Menschen eine wesentlich schlimmere Vorstellung als sich einfach nur zu irren.

Aber selbst das ist nur ein Glaubenssystem – denn warum sollte man sich nicht irren dürfen? Eine gute Wissenschaftlerin würde jederzeit eingestehen, dass sie sich geirrt hat, weil dies zu jedem seriösen analytischen Prozess gehört. Gute Künstler kennen auch das Scheitern, gute Musikerinnen wissen, dass sich jeder mal verspielt. Aber das oft narzisstische Glaubenssystem der eigenen Unfehlbarkeit ist stärker als diese eigentlich simplen Erkenntnisse. Wer sich selbst gegenüber nicht zulässt, dass er auch mal was verbockt hat, wird nie aus seinen Fehlern lernen. Im besten Fall ist man aber selbst sein eigener schärfster Kritiker – korrigiert und verbessert gewissenhaft das, was man gemacht hat, denkt die Sachen nicht nur hastig einmal sondern mehrmals durch. Das ist eine tägliche Anstrengung, klar.

Ich bewundere daher Fußballer und Trainer, die sich vor die Fernsehkamera stellen und sagen können: „Ich habe einen Fehler gemacht“, wenn mal etwas nicht ideal lief, und nicht die Schuld auf andere schieben, um sich vor der Verantwortung zu drücken. Hier agiert dann kein Glaubenssystem, sondern man schaut Tatsachen ins Auge. Wäre es nicht schön, wenn es auch bei den Coronaleugnern so wäre?

Man stelle sich mal vor: Sucharit Bhakdi veröffentlicht ein Video, in dem er sagt: „Leute, ich habe mir mal die Zahlen noch einmal ganz genau angeschaut – die Impfstoffe sind doch nicht so gefährlich, wie wir alle immer dachten“. Es wäre eine Sensation. Meinen Respekt hätte eine solche Aktion, denn es würde mir Hoffnung machen, dass simple Fakten den Panzer eines hartnäckig etablierten Glaubenssystems durchbrechen können. Aber natürlich wird das ein frommer Wunsch bleiben, denn wenn der Panzer eine bestimmte Dicke erreicht hat, besteht keine Hoffnung mehr, dass da noch etwas durchdringt. Wir rechnen nicht wirklich damit, dass Attila Hildmann sich plötzlich bei jüdischen Mitbürgern entschuldigen wird, wir wissen, dass da der Zug ins pathologische Paranoia-Land schon längst abgefahren ist.

Um zu vermeiden, dass man sich nicht von einem Glaubenssystem irreleiten lässt, muss man die Tatsachen immer wieder neu evaluieren. Und das ist sehr viel Arbeit. Jede neue Information kann wie ein Puzzlestein wirken, der das ganze Puzzle komplett verändert.

Im Kleinen leisten wir das jeden Tag. Wir glauben z.B., dass wir noch genug Milch im Kühlschrank haben, schauen hinein und sehen, dass das nicht stimmt. Sofort sind wir in der Lage, umzuschalten und uns von der Nichtexistenz der Milch überzeugen zu lassen. Für uns bricht damit keine Welt zusammen, obwohl uns das zeigt, dass uns unsere Erinnerung getäuscht hat. Aus Erfahrung wissen wir aber, dass ein Irrtum möglich war, und akzeptieren es sofort.

Glaubenssysteme wie die Angst vor einer „Deep-State“-Weltverschwörung oder einer gefälschten Mondlandung etc. sind aber nicht so leicht zu evaluieren wie bei einem Blick in den Kühlschrank. Was daran liegt, dass es gar keinen „Kühlschrank“ gibt, in den man blicken könnte. Da diese Vorstellungen so unglaublich absurd und irreal sind, fehlen uns auch die Mittel, sie mit Tatsachen zu widerlegen. Diese Glaubenssysteme schaffen ihre eigenen und frei erfundenen „Fakten“. Um das obige Beispiel fortzuführen: das ist ungefähr so, als ob jemand behauptet, im Kühlschrank sitze jetzt der Geist von Walt Disney und ich müsste dieser Person nun beweisen, dass das nicht stimmt. Es wäre unmöglich, denn für einen „Geist“ kann man beliebige Regeln erfinden, z.B. warum er jetzt gerade keine Lust hat, sich zu zeigen. Man kann einfach behaupten, dass er „da“ ist, selbst wenn es vollkommener Quatsch ist.

Auch Antisemitismus ist ein solches irreales Glaubenssystem. Die Vorstellung, dass alle Juden böse sind, ist genauso hirnrissig wie die Behauptung, dass alle Schneeflocken gleich aussehen. Aber die Personen, die diesem Glaubenssystem anhängen, sind dessen Gefangene. Sie fühlen sich im Besitz eines überlegenen „Geheimwissens“, das ihnen den „Durchblick“ gewährt, in Wirklichkeit glotzen sie blöde und dumpf auf immer dieselben Trugbilder, während das Leben an ihnen vorbeizieht. In der Sucht nach Bestätigung erzeugt sich dieses Glaubenssystem seine eigenen Bestätigungs-Imaginationen, an denen sie wie Junkies zappeln – nicht ohne Grund ist der Schritt zum gewalttätigen Fanatismus oder zur pathologischen Störung dann auch nicht sehr weit, das Glaubenssystem ist schon in seinen Grundzügen krank machend, weil es Hass auf andere braucht, um sich selbst zu bestätigen.

Es ist eine der Geißeln der Menschheit, dass gerade die irrealen Glaubenssysteme viel mehr Macht erlangen als diejenigen, die nur auf Tatsachen basieren. Im Dienst von vollkommen unnötigen Glaubenssystem geschehen jeden Tag Dinge, die einen nur den Kopf schütteln lassen. Sehr oft geschieht das auch im Namen von Religionen und Traditionen, auch dies letztlich irreale Glaubenssysteme.

Wir gehen aber auch spielerisch mit Glaubenssystemen um. Wenn wir ein Brettspiel spielen, lassen wir uns auf vollkommen willkürliche Regeln ein, die für eine begrenzte Zeitdauer gelten. Wir treten in das Glaubenssystem „Monopoly“ ein, treten dann aber auch wieder aus. Es ist ein Vertrag auf Zeit, auf den man sich nur nach Lust und Laune einlässt.

Die abendländische Musik mit all ihren Regeln ist auch nichts weiter als ein Glaubenssystem, ebenso absolut alles, was mit zeitgenössischer Musik zu tun hat. Trends, Stile, Moden – nichts als Glaubenssysteme, nichts als Walt Disneys im Kühlschrank. Wir lassen uns auf diese Glaubenssysteme so beharrlich ein, weil sie – genau wie das Brettspiel – niemandem wehtun und sie gleichzeitig einen kulturellen „Wert“ erschaffen, den wir „Tradition“ nennen und mit dem wir uns identifizieren können.

Aber es hilft, wenn wir uns immer wieder klar machen, dass es nur Glaubenssysteme sind, dass viele der Beschränkungen, die wir uns auferlegen (z.B. die Regeln, wie Musik „zu sein hat“), wie auch die Irrtümer, die wir machen, auf Glaubenssystemen basieren, deren Gültigkeit wir jederzeit aufkündigen können. Wenn dies in einem Rahmen passiert, der mit der Gesellschaft produktiv interagiert, kann es etwas positiv verändern. Der Einsiedler, der aus Frust über die Sünden der Zivilisation einsam im Wald lebt, verändert nicht viel, die Forscherin, die nachhaltige Energienutzung nach neuen Konzepten entwickelt, dagegen schon.

Wenn man an die Stelle eines alten Glaubenssystems schnittartig ein Neues setze, wird es das sehr schwer haben, selbst wenn die Idee interessant ist. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum im Grunde hochoriginelle und produktive Ideen wie serielle Musik nie so wirklich durchstarteten, und in der Ausformung eines noch rigideren Glaubenssystems endeten, das dann irgendwann niemandem mehr richtig Freude machte.

Die Veränderung eines bestehenden Glaubenssystem geschieht also am besten „von innen“, indem man Schritt für Schritt neue Gedanken einführt. Das ist mühsam und dauert, ist aber möglich. Das Gute dabei: während der Prozess am Laufen ist, hat man dann genügend Zeit, immer wieder alles neu zu überprüfen, und Gedankenfehler anhand von neuen Tatsachen zu korrigieren.

Letztlich ist jede neue Idee erst einmal Ketzerei, da sie das Vorhergehende in Frage stellt. Wir brauchen aber ständig neue Ideen und neue Sichtweisen, weil nie alles perfekt läuft. Alles muss beständig neu evaluiert werden. Dem müssen wir uns immer stellen, auch wenn wir sicher sind, „Recht“ zu haben.

Und das ist eine Anstrengung, die denjenigen zu viel ist, die man momentan nicht mehr erreichen kann. Sie stilisieren sich als Kämpfer gegen eine imaginierte Diktatur und halten sich für agil und widerständig. In Wirklichkeit sind sie die eigentlich Bequemen, die „Schlafschafe“, denn sie haben es sich in ihrem Glaubenssystem so behaglich eingerichtet, dass ihnen jede Anstrengung, die eine Neu-Evaluation nötig machen würde, zu viel geworden ist.

Oder anders gesagt: sie können nicht sicher sein, dass genug Milch im Kühlschrank ist, da sie zu faul sind, diesen aufzumachen. Lieber glauben sie es einfach.

Na dann, viel Spaß.

Moritz Eggert

 

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