Wo man denkt, da lass dich nieder

By Unknown author - Photo by Szilas, 2013-03-04, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=36520519

Wo man denkt, da lass dich nieder (impfen wäre auch nicht schlecht)

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Vor ein paar Tagen sah ich einen entsetzlichen Cartoon, den ich hier ganz bewusst nicht poste. Vielleicht hat ihn der eine oder die andere gesehen: auf ihm sind lauter dumpfe, nackte und unförmige Menschen zu sehen, die ihre Gehirne ablegen vor einem Standbild auf dem die Buchstaben „The Science“ zu lesen sind.

Mal abgesehen davon, dass „The Science“ im Englischen einen vollkommen unnötigen Artikel benutzt (was die fehlende Bildung des Cartoonisten erahnen lässt) – was soll uns dieser Cartoon vermitteln außer der vollkommen bescheuerten Vorstellung, dass man sein Gehirn abgeben muss, wenn man forschen will? Das ist ungefähr so unsinnig wie die Idee, dass man zum Musikhören taub sein muss. Wissenschaft IST die Benutzung des Gehirns. Es geht gar nicht ohne.

Wissenschaftsskepsis bis unverhohlene Feindlichkeit gegenüber jeglichem fundierten Wissen durchdringt unsere Gesellschaft heute auf eine Weise, wie wir sie bisher noch nicht erlebt haben. Die Argumentation der meisten Impfgegner und Coronaleugner basiert auf frei erfundenen Ängsten („Graphene“! „Mikrochips“! „Es gibt gar keine Viren!“), unverhohlen gefälschten Fakten („Geimpfte sind gefährlicher als Ungeimpfte!“, „Alle Geimpften sterben nächste Woche!“) und einem fast schon mittelalterlichen Aberglauben, der den übelsten esoterischen Scharlatanerieprodukten aus der Grabbelkiste und für Menschen schädlichen Pferdearzneien mehr Heilkraft zutraut als einer erst nach umfassenden Studien und strengen Kontrollen durch tausend Instanzen genehmigten Impfstoffherstellung. Wobei man dem Mittelalter hier Unrecht tut, denn es war insgesamt weniger abergläubisch und vernünftiger als heute!

Jedem das Seine würde man normalerweise sagen und in weniger bewegten Zeiten einfach freundlich mit den Achseln zucken, wenn einem der anthroposophisch geprägte Freund oder die „spirituelle“ Freundin wieder einmal erzählen, dass wir eigentlich meistens selbst schuld sind, wenn wir krank werden, und dass man alle Krankheiten mit kleinen Zuckerkügelchen oder der „richtigen“ Einstellung heilen könnte. Aber wenn selbst Kolleginnen und Kollegen, die man womöglich vorher für verständig oder gebildet hielt, in diesen Zeiten mit Argumentationen kommen, die noch nicht einmal den simpelsten Bildungsstandards entsprechen und voller offensichtlicher Missverständnisse und Fehlschlüsse sind, dabei Fakten aus reiner Unkenntnis nach Belieben zurechtbiegend, kann man schon langsam die Geduld verlieren. Das kann man nicht mehr allein mit Populismus oder Aluhüten abtun, dieses Problem geht wesentlich tiefer.

Früher ging man auf die Straße, um gegen Atombomben oder Atomkraftwerke zu protestieren. Auf den ersten Blick könnte man sagen: „die haben doch auch gegen die böse Wissenschaft demonstriert“. Aber nein: Der feine Unterschied zu den militanten und absolut alle verifizierbaren Erkenntnisse ignorierenden Impfgegnern von heute besteht in einem wichtigen Detail: man ging damals nicht gegen Wissenschaft an sich auf die Straße, sondern gegen die gefährliche bis leichtsinnige Verwendung von Technologien, die aus Erkenntnissen der Wissenschaft entstanden. Das sind zwei verschiedene Dinge. Gegen Impfungen demonstrierten in den vergangenen Jahrzehnten immer nur eine Handvoll Menschen, denn Impfungen retteten nachweislich schon damals mehr Menschenleben als der gelegentliche Murks damit (der allen menschlichen Tätigkeiten zu eigen ist).

Dass junge Menschen gegen den Klimawandel auf die Straße gehen, IST Anerkennen der Wissenschaft, resultiert aus einem Wissen, dass auf jahrzehntelangen empirischen Analysen und immer wieder verifizierten Prognosen beruht, die täglich neu bewertet und kritisch betrachtet werden. Diesen Zorn kann man verstehen, er beruht auf Erkenntnissen, der Zorn der Impfgegner beruht dagegen auf purer Einbildung.

Wissenschaft ist grundsätzlich Erkenntnisgewinn, ist aber auch Anerkennen, dass diese Erkenntnis nie vollkommen sein wird und immer wieder neu errungen werden muss. Wer anfängt zu lernen, weiß, dass das Lernen nie ein Ende haben wird.

Gerade dies entlarvt die Schwurbler am meisten: sie präsentieren ihr Nichtwissen mit einem Selbstbewusstsein, das dem echten Wissenssuchenden vollkommen abgeht. Wo sich Wissenschaftlerinnen sehr vorsichtig und zurückhaltend äußern, wo sie erst nach ausführlichen Studien und langen Tests irgendwelche Statements abgeben, dort wird mit ziemlicher Sicherheit am meisten ernsthaft nachgedacht. Dummheit dagegen hat schnell ein plakatives Statement zur Hand, meistens mit der Halbwertzeit einer BILD-Schlagzeile.

Daher hatte auch ein stets sehr sorgfältig und akribisch argumentierender Wissenschaftler Typ Christian Drosten (der auch mal eine Einschätzung zurücknimmt, weil es neue Erkenntnisse gibt) nie eine Chance bei gegen die plakativen Äußerungen der Wodargs und Bhakdis (zumindest nicht bei Coronaleugnern). Letztere geben immer vor, alles ganz genau zu wissen und täuschen sich angeblich nie, ein Drosten dagegen sagt immer wieder, dass er sich nicht für kompetent genug für eine Antwort hält, wenn es um ein Gebiet geht, in dem er sich weniger auskennt (oder er verweist auf die Arbeit anderer oder darauf, dass bestimmte Forschungen noch keine klaren Ergebnisse brachten).

Schnell ist da das Argument „wir haben als Land bei der Bildung versagt“ zur Hand, und man suhlt sich in einer generellen Larmoyanz darüber. Aber es ist zu einfach, sich über die „Dummen“ lustig zu machen. Letztlich sind wir nämlich alle dumm – niemand kann alles wissen.

Wir müssen in unserem Leben grundsätzlich auf ein Netzwerk von Kompetenzen vertrauen, zum Beispiel auf die Tatsache, dass unsere Friseurin vermutlich Haare besser schneiden kann als wir selbst, oder dass unser Automechaniker vermutlich mehr über die Funktion unseres Autos weiß als wir, usw. Meistens vertrauen wir diesen Menschen ganz unbekannterweise, weil allein schon die Existenz des Friseursalons beweist, dass dort anscheinend Haare geschnitten werden können. Und wenn sie unser Vertrauen einmal enttäuschen (was immer vorkommen kann), meiden wir sie und suchen uns Kompetentere.

Auch Wissenschaftler täuschen sich, selbstverständlich tun sie das. Aber genau wie in der freien Wirtschaft (die grundsätzlich eine Konkurrenz von Friseursalons erzeugt, sodass man auf jeden Fall seine Haare irgendwo zuverlässig und gut schneiden lassen kann, weil ein bestimmtes Niveau sich durchsetzt), setzt sich auch in der Wissenschaft ein Grundniveau durch, sonst würden wir weiterhin in Höhlen hocken. Mit diesem Grundniveau haben wir es jetzt nach fast zwei Jahren Corona zu tun, wenn es um Impfungen geht. Die Impfstoffe hat nicht irgendein Zausel in seinem Wohnzimmer gebraut, weil ihm ein Geist das eingeflüstert hat, sondern sie sind das Resultat einer globalen internationalen Anstrengung von unzähligen klugen und sich gegenseitig übertreffen wollenden Köpfen, dafür sorgt allein schon die internationale Konkurrenz.

Der eine Impfstoff mag wirksamer sein, der andere weniger. Aber grundsätzlich können wir davon ausgehen, dass sie a) funktionieren und b) wir nicht damit in eine Cloud hochgeladen werden. Und wir können auch davon ausgehen, dass Impfungen ein wichtiger Schritt in Richtung Normalität sind. Andere Länder machen es uns vor, das ist schon längst empirisch belegbar.

Man könnte also wirklich verzweifeln (und ich tue es) wenn man sieht, wie zum Beispiel MusikerkollegInnen einerseits vehement für die sofortige Abschaffung aller Coronaregeln demonstrieren und dagegen Petitionen unterschreiben, sich aber gleichzeitig ebenso vehement gegen Impfungen positionieren und der Wissenschaft – und damit Bildung an sich – grundsätzlich ihr Misstrauen aussprechen.

Vielleicht sollte man sie daran erinnern, dass die holde Kunst der Musik auch einmal als Wissenschaft begann und aus Forschungen über Klangerzeugung und die Analyse von akustischen Phänomenen hervorging, nicht erst seit Pythagoras (oder Hippasos von Metapont)

By Unknown author – Photo by Szilas, 2013-03-04, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=36520519

. Komponistinnen und Komponisten sind bis heute auch der Wissensvermehrung verpflichtet, denn wir sind alle Reisende auf gigantischen unerforschten Ozeanen bisher ungehörter und noch nicht verstandener Klänge.

Rein formal sind die Ausbildungsinstitute der Bildenden und Darstellenden Künste gleichwertiger Teil unseres Universitätssystems. Man kann endlos darüber streiten, wie inklusiv oder akademisch verbohrt das alles ist, und selbstverständlich bilden sich sowohl Musikerinnen als auch Computerspezialisten gelegentlich erfolgreich fern der Akademien aus, Tatsache aber ist: Musiker/in zu werden ist Resultat eines Ausbildungsprozesses, der auf der Vermehrung von Wissen und fortgeschrittenen Fertigkeiten beruht, darin der Wissenschaft an sich zutiefst verwandt. Man lehrt Musik und Kunst in Schulen (leider eher zu wenig), weil man diese Disziplinen als gleichwertig wichtig für die Wissensvermehrung erachtet wie Lesen und Schreiben. Nicht umsonst spielen viele Ärzte und berühmte Forscherinnen auch Instrumente und musizieren eifrig – das ist nicht weit entfernt von ihrer Welt.

In letzter Konsequenz leugnen also die impfverweigernden und aufbegehrenden Musikerkolleginnen und Kollegen nicht nur die Gefahren von Corona, sie leugnen auch ihre eigene Herkunft aus einem System, das in allen Aspekten genauso funktioniert wie die Wissenschaft, der sie nicht vertrauen.

Oder anders gesagt: wer Impfungen ablehnt, darf eigentlich auch keine Fugen von Johann Sebastian Bach spielen.

Denn den komplexen Kontrapunkten darin kann man ja nun wirklich gar nicht trauen. Oder doch?

 

Moritz Eggert

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