Zu blöd für Neue Musik?
Immer wieder bekomme ich Mails, in denen Menschen ihr Leid mit der Neuen Musik klagen. Sie hätten ja alles versucht, studiert, immer wieder zugehört, Konzerte besucht…aber dennoch können sie einfach damit nichts anfangen. Sie fühlen sich „zu blöd“, fühlen sich ausgeschlossen aus einer Szene, die oft in Geheimcodes spricht und „unter sich“ bleibt, fühlen sich ratlos gegenüber einer Musik, die ihnen zunehmend obskur und weltfremd vorkommt usw.
Ich weiche solchen Unterhaltungen nicht aus, denn wer überhaupt die Frage nach dem Verständnis Neuer Musik stellt, hat schon einen wichtigen Schritt getan, den ich nicht abtun will, nur weil der momentane Schluss vielleicht eine Ablehnung ist. Eine besonders ausführliche Antwort schrieb ich letzte Woche – ich stelle sie hier in voller Länge zur Verfügung, weil bestimmt bald wieder eine Mail kommt, die mich dasselbe fragen wird. Die Antwort richtet sich bewusst an Nicht-Experten, daher benutze ich sehr populäre Beispiele – Fachjargon wäre hier fehl am Platz.
Lieber XXX,
Danke für Ihre offenen Worte. Ich glaube, das Allerwichtigste ist erst einmal zu verstehen, dass niemand „zu blöd“ für egal welche Musik ist, es gibt nur unterschiedliche Levels von Vertrautheit und vielleicht auch einen unterschiedlich gearteten Willen, sich auf etwas einzulassen, das einem vielleicht erst einmal fremd ist. Ich finde nicht, dass man Architekturexperte sein muss, um sich in einem Gebäude wohlzufühlen oder nicht, und man muss auch nicht Kunsthistoriker zu sein, um ein Bild von David Hockney schön oder doof finden zu dürfen.
Ich erzähle Ihnen mal eine Anekdote meines lieben Kompositionslehrers Wilhelm Killmayer: ich war mal mit ihm in einer sehr modernen Theateraufführung, in der wirklich alles passierte, was man sich in so einer Aufführung vorstellen kann. Es gab keine Handlung, maskierte Rollstuhlfahrer wurden hereingeschoben und nuschelten Unverständliches, dann stieg ein Schauspieler auf einen Stuhl und beleuchtete 10 Minuten lang stumm eine schmelzende Eiswaffel, die er vorher auf den Boden geklatscht hatte, mit einer Taschenlampe. Im nächsten Moment tauchten zwei nackte Tänzerinnen auf und fragten das Publikum, ob es sich endlich langweile, usw.
Nach gefühlt drei Stunden stand Killmayer auf und sagte zu mir „So, jetzt gehen wir“, mitten in der 6-stündigen Aufführung. Ich folgte ihm natürlich, und fragte ihn draußen im Foyer „Es hat Ihnen sicher nicht gefallen, Herr Killmayer?“. Zu meiner absoluten Überraschung sagte er zu mir: „Ganz im Gegenteil, ich fand es großartig!“. Ich fragte ihn „Warum wollten Sie aber dann gehen? Die Aufführung war doch noch nicht zu Ende?“.
„Weil ich jetzt verstanden habe, was das Stück mir sagen will“, sagte Killmayer.
Was ich Ihnen damit gerne vermitteln würde: Etwas zu „verstehen“ ist nicht unbedingt positiv. Ein essenzieller Teil der Kunst ist das „große Nichtwissen“ (Hans-Ulrich Engelmann). Das, was uns Rätsel aufgibt, uns Fragen stellt, uns verunsichert, ja vielleicht sogar ärgert, gehört ebenso zur Kunst, wie der Umgang mit dem Vertrauten. Killmayer war Zeit seines Lebens neugierig und liebte das Entdecken von Unbekanntem – das Zufällige, Verrückte und Unverhoffte interessierte ihn, die Fallhöhe, die entsteht, wenn Erwartungshaltungen unterlaufen werden. Er schrieb sehr melodische und oft tonale Musik, die aber viel radikaler war als manches Werk von Stockhausen, weil sie sich der schnellen Analyse widersetzt und sich auf Intuition und das Unbewusste verlässt (Stockhausen dagegen kann man wunderbar „verstehen“ und analysieren, ich persönlich finde ihn eher zu verständlich als zu unverständlich).
Mir geht es ganz oft beim Hören von Musik so, dass ich sie zu gut „verstehe“ und sie mich daher komplett langweilt. Ein typischer 08/15-Popsong zum Beispiel folgt so eingefahrenen und festen Strukturen, dass man schon nach zwei Takten weiß, wie das ganze Lied weitergehen wird. Ich will das dann gar nicht mehr hören, es nervt mich richtiggehend, so als stelle sich jemand vor mich und sagte unentwegt „Ja, so ist es, ja, so ist es…“. Einen Song von den Beatles kann ich dagegen unendlich oft hören, weil es selbst in ihren populärsten Hits so viele ungewöhnliche und unkonventionelle Elemente gibt, die nicht dem Schema F folgen, dass ich immer wieder als Hörer staunen kann, gerade über die Seltsamkeiten, die ja bekanntermaßen selbst in einem Lied wie „Yesterday“ existieren.
Das gilt auch für die Klassik, in der Sie sich ja gut auskennen – wer hört noch die zahllosen braven Stückchen aus dem 18. Jahrhundert und 19. Jahrhundert an, die den vorgebebenen Normen der Zeit gefolgt sind, exakt die Konventionen erfüllten und daher von jedermann damals sofort verstanden wurden? Die sind vergessen, weil sie niemanden herausforderten und einfach nur den Status Quo der Kunst wiedergaben. So etwas mag gefallen und kurz gefeiert werden, es stellt aber keinerlei Fragen mehr, ist schon die Antwort, und wenn man die dann kennt, ist die auch nicht mehr so interessant.
Was hören wir heute stattdessen aus der Vergangenheit? Das, was außergewöhnlich war, was nicht der Norm folgte, was Grenzen sprengte und auch Rätsel aufgab (wie zum Beispiel so ziemlich alles vom späten Beethoven, der – im Gegensatz zum vergessenen Hummel – sehr wohl umstritten war und vielen zu „sperrig“ oder „verrückt“ erschien). Das, was uns heute noch Fragen stellt, die noch nicht beantwortet sind. Viele der Stücke, die heute brav in den meist unglaublich rückwärtsgewandten klassischen Konzertprogrammen von heute gespielt werden, selbst „Hits“ wie „Bolero“ oder „Clair de Lune“ stießen bei ihren jeweiligen Erstaufführungen keineswegs auf uneingeschränktes Verständnis und wurden oft kontrovers diskutiert. Lesen Sie mal die Neue Zeitschrift für Musik aus der Schumann-Zeit – wie leidenschaftlich stritt man sich über Komponisten (in dieser Zeit leider nur Männer), die heute entweder vergessen oder uneingeschränkt bewundert werden. Keineswegs „verstand“ man alles. Man stritt über Deutungen und Irrwege und manches, was heute als „Kuschelklassik“ verkauft wird, wurde damals gar als kompletter Verrat an der Musik deklariert, und zwar mit ähnlichen Argumenten wie den Ihren, es sei „dem menschlichen Körper fremd“, die „Melodien seien nicht melodisch genug“ etc. Das können Sie alle nachlesen, die Formulierungen ähneln Ihrer Kritik, nur mit der Sprache der damaligen Zeit.
Ich bin ehrlich gesagt sicher, dass schon im alten Ägypten über solche Dinge gestritten wurde und es immer irgendetwas gab, an dem sich die Menschen rieben. Und das ist auch gut so, denn es ist essenziell für jede Kunst, Teil der menschlichen Kommunikation zu sein, daher freue ich mich auch über Ihre E-Mail, denn Sie wollen ja sichtlich über dieses Thema kommunizieren. Und das ist gut. Ich könnte z.B. sehr gut damit leben, dass Sie mir sagen, dass Sie mich nicht verstehen, auch damit, dass Sie meine Musik nicht mögen. Was mich aber zutiefst traurig machen würde: wenn Sie mir sagten, dass meine Musik Sie vollkommen kalt ließ oder exakt ihren Erwartungen entsprach. Das empfände ich als fatal, denn dann wäre ich als Künstler gescheitert.
Wenn Sie fordern, dass Neue Musik „verständlicher“ sein soll, dann ist es ungefähr so, wie wenn Sie von einem Krimiautor verlangen würden, schon im ersten Kapitel alles minutiös zu erklären, sodass auf keinen Fall irgendwelche Missverständnisse darüber aufkommen, wer der Mörder ist und was sein Motiv war. Gerade die Überraschungen sind aber das, weswegen wir Krimis lesen, und so geht es mir auch bei der Musik. Grundsätzlich haben wir es bei allen Künsten mit vollkommen offenen und unendlichen imaginativen Räumen zu tun (ich nenne das „wilder Raum“), in denen alles möglich ist und sein sollte. Jede Regel, die wir darin aufstellen, hat nur so lange Bestand, wie sie mit der jeweiligen Zeit kommuniziert. Genau wie sich Sprache, Traditionen und Kulturen stetig verändern, vermischen und sich gegenseitig beeinflussen, so ist auch Musik Teil einer komplexen Kommunikation, die auf ganz vielen gesellschaftlichen Ebenen stattfindet, weil sie ganz unterschiedliche Funktionen erfüllt, sei es als sogenannte „Hochkultur“, populäre Kultur oder einfach nur als Hintergrundmusik im Supermarkt. So wie Sie sich scherzhaft als „zu blöd“ gegenüber Neuer Musik empfinden, fühlen sich die meisten Menschen schon einem Menuett von Mozart gegenüber als „zu blöd“, da sie nicht in einem Umfeld aufgewachsen sind, in dem eine solche Musik selbstverständlich ist, zum Beispiel wenn Vater oder Mutter Musiklehrer in einem Gymnasium sind.
Die „Regeln“, die Sie für eine „verständliche“ Musik benennen, sind zudem auch sehr abendländisch geprägt – ich könnte Ihnen aus dem Stegreif ein Dutzend außereuropäische Musikkulturen nennen, in denen diese Regeln nicht gelten. Gamelang-Musik zum Beispiel besteht aus hochkomplexen rhythmischen Patterns ohne Bezug auf einen menschlichen „Atem“, die auf einem vollkommen abstrakten Tonsystem basieren, das nicht im Geringsten auf die Obertonreihe zurückzuführen ist und die Oktave recht willkürlich unterteilt hat. Dennoch ist diese Musik für Menschen aus dieser Kultur vollkommen leicht „verständlich“, weil sie Teil ihres Alltags ist und sie sich organisch aus dieser Kultur heraus entwickelt hat. Wir müssen uns immer wieder bewusst machen, wie vielfältig der „wilde Raum“ der Musik ist, und was darin alles möglich ist. Deswegen liebe ich (wie zum Beispiel Ligeti einst auch) die Musik der nordafrikanischen Pygmäen, die eine komplexe Polyphonie singen, in denen jede Stimme ihrem eigenen Rhythmus folgt, ohne einen erkennbaren Takt. Oder die Musik der nordamerikanischen Indianer, die komplexe melodische Linien im Unisono singen, die keiner von uns spontan nachsingen könnte, dazu einen immer wieder unmerklich langsamer oder schneller werdenden Trommelrhythmus schlagend.
Schon ein simpler türkischer Popsong ist für unsere Ohren unglaublich „schwierig“, die meisten würden sich schwertun, die Melodie nachzusingen, weil uns die typischen Melismen dieser Musik nicht vertraut sind. Sind wir „zu blöd“ dafür? Nein, wir sind es einfach nicht gewohnt. Schließlich muss ich darauf hinweisen, dass schon ein simpler Mollakkord aus der Obertonreihe nicht abzuleiten ist (er kommt darin nachweislich nicht vor) und eine eigentlich abstrakte „dissonante“ Konstruktion ist, die als solches Konzept einzig und allein in der abendländischen Musik existiert und uns daher vertraut ist. Chopin ist also ein Komponist, der vornehmlich „Dissonanzen“ verwendete, die nicht den Grundregeln der Obertonreihe folgen, das müssen Sie sich klarmachen, ebenso wie die Tatsache, dass die Musik von 1650 von Menschen heute als „schräg“ empfunden würde, wenn sie mit den damals üblichen Stimmungssystemen aufgeführt würde, die der wohltemperierten Stimmung vorausgingen. Auch die wohltemperierte Stimmung ist eine rein abstrakte und mathematische Konstruktion, die mit der Obertonreihe nicht das Geringste zu tun hat, dennoch wird heute fast alle Musik damit gespielt, obwohl sie alles andere als „natürlich“ ist, eigentlich sogar richtiggehend unnatürlich.
Jemandem, der nicht in der abendländischen Kultur aufgewachsen ist, entgehen viele Feinheiten, die wir in der allein in Europa erfundenen Dur-Moll-Tonalität wahrnehmen können. Dennoch ist bekanntermaßen die 9. Symphonie in Japan ungemein beliebt, obwohl die dortigen Hörer ganz sicher nicht von Anfang an Experten der Sonatenhauptsatzform waren und sie sicherlich vieles nicht „verstanden“. Ist dies Ausdruck für die große Überlegenheit der Musik Beethovens? Nein, es ist Ausdruck einer großen Neugier, die in der japanischen Kultur mit ihrem eigenen Wirtschaftswunder nach Jahrhunderten der Isolation entstanden war. Aus demselben Grund lieben Chinesen klassische Musik – weil diese in der Kulturrevolution verboten und verfemt war und alle verfolgt wurden, die sich damit beschäftigten. Als sich China der Welt gegenüber öffnete, galt es als Privileg reicher Schichten, sich abendländische Musik ins Heim zu holen oder selbst zu spielen. Aus demselben Grund gibt es in Arabien Scheichs, die die Opern von Wagner lieben.
Umgekehrt stehen wir ratlos gegenüber den Feinheiten der indischen klassischen Musik, auch diese eine langgewachsene kulturelle „Erfindung“, die ganz anderen Regeln folgt als bei uns. Wir können aber trotzdem indische Musik genießen und bewundern (so wie einst George Harrison), obwohl wir eigentlich „zu blöd“ dafür sind.
Im Grunde ist jede Art von Musik „interessant“, vor allem, wenn sie uns erst einmal fremd ist. Macht nichts, wir können sie „kosten“ wie ein uns bisher unbekanntes Gericht. Sicherlich erinnern Sie sich daran, wie Sie als Kind bestimmtes Essen nicht mochten und ablehnten, später aber dafür einen besonderen Geschmack entwickelten? Genauso ist es mit Musik. Ich fand genau wie Sie Neue Musik erst einmal schräg und seltsam, aber genau deswegen fand ich sie faszinierend und wollte immer mehr davon! Und egal, mit was man sich beschäftigt, es kann auch eine Abnutzung entstehen. Inzwischen sitze ich manchmal in einem Konzert mit Neuer Musik, die Sie wahrscheinlich als komplett abartig und unhörbar empfinden würden, und langweile mich – aber nicht, weil ich die Musik nicht verstehe, sondern weil ich sie zu gut verstehe. Sie ist mir zu vertraut – die Musik gibt mir eine Antwort, die ich schon kenne, die ich hundert Mal gehört habe. Welche Wahrnehmung ist jetzt „richtig“, welche „falsch“? Hauptsache es gibt eine ästhetische Erfahrung, würde ich sagen. Ihre Bewertung, meine Bewertung – beides ist ein „Erlebnis“.
Was Sie ehrlich in Ihrer Mail zum Ausdruck gebracht haben, ist im Grunde ein Gefühl des Fremdseins gegenüber Neue Musik. Und das kann ich sehr gut nachvollziehen, denn sie ist nicht mehr Teil unseres Alltags, so wie es einst die Musik von Komponisten wie Bach oder Haydn war. Sind Sie sicher, dass die damaligen Kirchgänger der Thomaskirche in Leipzig die Musiken von Bach so „verstanden“ haben, wie Sie es als gelernter Musikkenner ganz sicher tun? Dass sie wussten, wie Fugen und Kontrapunkte funktionieren und es zu schätzen wussten, wie viel Mathematik und komplexe Symmetrie in seiner Musik steckt? Ganz sicher nicht. Aber diese Musik war einfach „da“, es gab jede Woche eine Kantate, bei der auch Laienmusiker mitwirkten, man ging jeden Tag in die Kirche und es gab halt dort die Musik von Bach, sie war einfach da, Teil des täglichen Lebens. Und das ist das Entscheidende auch bei der Entstehung dieser Musik, war also wichtig für Bachs Komponieren. Er war jeden Tag „Vermittler“ seiner Musik, musste sie im „echten Leben“ managen, schlug sich mit Trompetern herum, die zu spät zur Probe kamen oder musste noch spät nachts irgendein Stück transponieren, weil der Sänger die hohen Töne nicht traf. Er befand sich also in direkter Kommunikation mit seiner Umwelt, seine Musik war Teil des Lebens, aber gleichzeitig kam das Leben auch in seiner Musik vor.
Und das ist der Punkt, wo ich Sie tatsächlich gut verstehen kann. Neue Musik ist nicht mehr Teil des Alltags. Die Opernhäuser und bürgerlichen Konzertsäle sind nicht mehr Treffpunkte der Gesellschaft, wie sie es einst tatsächlich einmal waren. Was auch daran liegt, dass wir kein Bürgertum mehr kennen, wie es im 18/19. Jahrhundert entstand – stattdessen haben wir eine immer schwerer zu definierende Mittelschicht, die immer mehr an den Rändern ausfranst, solange die Einkommensschere zunehmend wächst. Neue Musik findet – da ihr in den unglaublich spießigen und musealen Konzertprogrammen unserer Zeit nur selten ein kleines Plätzchen gelassen wird – fast ausschließlich in „Expertenkreisen“ statt, einer Art „Geek Culture“, die sich um bestimmte Festivals und Orte versammelt und mehr oder weniger unter sich bleibt. Die Frage ist aber nun: ist das wirklich die „Schuld“ dieser Musik? Oder ist es Ausdruck von komplexen gesellschaftlichen Prozessen wie oben beschrieben? Ich denke letzteres.
Dass Sie Neue Musik nicht „verstehen“, liegt daran, dass Ihnen – genauso wie einem Großteil des Publikums – die Zwischenschritte, die von Schumann direkt zu Stockhausen führen (und das übrigens mit einer vollkommen verständlichen Logik, die jedem einleuchten kann, der sie analytisch im Rückblick betrachtet) nicht genauso vertraut sind, wie die Zwischenschritte, die von Bach zu Schumann führen. Warum? Weil besonders spektakuläre Zwischenschritte – zum Beispiel die Wiener Schule oder Stravinsky in den 1910er und 1920er Jahren – zeitgleich mit dem Ersten Weltkrieg stattfanden, einem entsetzlichen und bisher in dieser Form noch nie dagewesenen globalen Ereignis, das viel Aufmerksamkeit beanspruchte. Direkt danach ging es in Europa und vor allem bei uns in eine ganz besonders dunkle Zeit, in der diejenigen, die gerade an den spannendsten musikalischen Entwicklungen arbeiteten, entweder umgebracht oder als „entartet“ verboten wurden, viele davon – wie Schönberg – flohen ins Ausland und überlebten als Kompositionsprofessoren in Universitäten. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs fehlten also den meisten Menschen das Wissen um 30-40 Jahre musikalische Entwicklung, gerade im schnellen 20. Jahrhundert eine ganz besonders dramatische Lücke, ungefähr so, als würde man direkt von Mozart zu Wagner springen. Da wäre Wagner dann auch komplett „unverständlich“! Jemandem, der diesen Sprung machte, würde Wagner als perversen Lärm empfinden, und genauso ging es dann vielen Musikhörern, als sie plötzlich Boulez und Stockhausen hörten. Ihnen fehlten die Zwischenschritte – es war wie Musik von einem anderen Planeten. Boulez und Stockhausen sahen sich aber – und das übrigens völlig zu Recht – als logische Konsequenz der Kunstmusik bis zu diesem Punkt, da sie aufgrund ihrer jeweiligen (privilegierten, da aus gebildeten Elternhäusern) Biografien die Zwischenschritte individuell nachvollzogen hatten und von da aus weitermachten.
Von dieser „Lücke“ hat sich die Neue Musik nie wirklich erholt – plötzlich war sie abgetrennt vom klassischen Musikbetrieb und fand im Alltag nicht mehr statt, gleichzeitig wollte sie aber auch nicht die Errungenschaften verraten, die sie zum Teil unter großem Leid und dramatischen persönlichen Schicksalen erreicht hatte. Ich kann Adornos Argumentation damals durchaus verstehen – er ist für mich heute nicht mehr aktuell, aber ich kann sehr gut nachvollziehen, dass man nach Jahrzehnten von „deutschnationaler“ oder „stalinistischer“ Musik und der krassen Verfolgung und Ermordung alles Andersartigen nicht unbedingt Lust darauf hatte, mit einer einem „Verständlichkeitsdogma“ folgenden Musik weiterzumachen und brav „völkisch“ zu komponieren, wie es die Nazis und Kommunisten forderten (oder heute die AfD).
Die Komponisten zogen sich also in eine Art gesicherte Isolation zurück – finanziert von einer im Grunde sehr noblen und guten Idee der Förderung einer freien Kultur seit den Nachkriegsjahren machen sie seither eher Musik für Spezialisten und es gibt nur wenig Berührungspunkte mit einer größeren Öffentlichkeit. Vielleicht haben sich es manche in dieser Isolation allzu bequem gemacht, vielleicht sind manche auch mit rein akademischen Lorbeeren zufrieden oder kruschteln gerne in ihrer eigenen „Geek Culture“ vor sich hin. Aber ich kann Ihnen versichern, die meisten Kolleginnen und Kollegen wollen einfach tolle, spannende, verrückte und wunderbare Musik schreiben, und das gelingt ihnen auch, selbst, wenn viele das nicht mitbekommen. Und jede Woche erlebe ich bei meinen Studierenden eine spannende und hungrige neue Komponistengeneration, voller neuer Ideen und neuer Themen, voller Brillanz und Talent. Es wird heute genauso gute Musik geschrieben wie vor 200 Jahren, das ist sicher. Diese Musik ist auch sicher kein „Irrtum“, sie ist Konsequenz des Vorhergehenden, genauso wie das Leben an sich, das ja nun auch nicht wirklich ein „Irrtum“ ist, sondern einfach entstand.
Ich persönlich würde mir nichts mehr wünschen, als dass diese unsere Musik wieder mehr Teil Ihres Alltags ist. Und es nicht mehr darum geht, ob sie mehr oder weniger „verständlich“ ist, sondern dass sie einfach da ist. Was da ist, mit dem wird umgegangen. Es ist Teil des Alltags und einer täglichen Auseinandersetzung mit den Wundern und Geheimnissen unserer Welt, zu der die Künste einen Beitrag leisten.
Wie können wir dieser Vision näherkommen?
Sie, in dem Sie sich eine grundsätzliche Neugier bewahren und z.B. Musik nicht nur nach dem „Verständnis“ sondern auch dem „Erlebnis“ befragen (und etwas zu „erleben“ heißt nicht, dass immer alles so passiert, wie man es erwartet oder für gut befindet, das ist ganz wichtig).
Die IntendantInnen und KonzertveranstalterInnen könnten ihre immer unbegreiflichere Politik der schlaffen und zunehmend lustloseren Befriedigung eines schwindenden Publikums beenden und die Gegenwart endlich gleichberechtigt in die Konzertsäle lassen, ihr einen gleichen Anteil an den Konzertprogrammen geben wie die Musik der Vergangenheit (die selbstverständlich weiterhin erklingen muss, als Chronik der Gefühle und Leidenschaften vergangener Epochen).
Und wir KomponistInnen könnten uns mehr dafür interessieren, was in der Welt außerhalb unserer meist akademisch geprägten Lebenswirklichkeit geschieht, wir könnten „atopischer“ denken, außerhalb von Stilkonventionen und Genres, einen neuen Blick werfen nicht nur auf eine Musik der Spezialisten, sondern auf ALLE Musik, so wie es eigentlich die Komponisten der Vergangenheit mit ihren jeweiligen Mitteln immer getan haben.
Für mich persönlich wird das sicher ein Lebensthema bleiben, für Sie hoffentlich auch,
Herzlich,
Ihr
Moritz Eggert
Komponist
Lieber Moritz, mit diesem Schriftstück hast du dich eingetragen in das große Buch des Lebens. Es wird in 10 und in 100 Jahren noch gelesen werden + darüber hinaus. Es ist ein geschliffener, bestechender Zeitraffer, dein Christian R.
klasse! danke!
das mit der kriegslücke ist neu in meine gedankengänge geworfen wurden, weil ich mir schon immer gedanken darüber gemacht habe, warum es trüb aussieht beim thema neue musik.
und, es lässt sich auch auf einige andere bereiche ausdehnen: z.b. pädagogik (ja, ich bin pädagoge). auch da findet keine entwicklung mehr statt. ausser in einer kleinen szene.
der artikel ist fast ein manifest! ;-)
logisch wäre aber, dass sich die kluft vergrössert, weil die szene sich weiterentwickelt, aber die masse nicht hinterherkommt. hinzu kommt, wenn ich 100 euro für eine karte in der elphie zahlen muss: wer kann das? wer will das?
Die Weltkriege und die Zeit dazwischen für den Misserfolg Neuer Musik beim Publikum verantwortlich zu machen, ist schon abenteuerlich. „Nach Ende des Zweiten Weltkriegs fehlten [sic] also den meisten Menschen das Wissen um 30 bis 40 Jahre musikalische Entwicklung […]“
Der 30jährige Krieg etwa war für viele Menschen in Europa auch eine schreckliche Zeit, die Zahl der Toten (vor allem durch Hunger und Seuchen) gemessen an der Bevölkerungszahl weit größer als in den beiden Weltkriegen, aber die in diesen Jahren entstandene Musik wurde nicht als fremd und unzugänglich angesehen. Und auch wenn man von „Weltkriegen“ spricht, so gibt es doch viele Länder, die kaum oder gar nicht involviert waren. Die USA waren zwar Teilnehmer, aber der Krieg war nicht auf ihrem Territorium, und so ging das Leben weiterhin seinen normalen Gang. Komponisten wie Schönberg emigrierten dorthin. Hat es die Neue Musik in den USA wesentlich leichter als bei uns?
Ein weiteres Gegenargument liefern Sie selbst, indem Sie auf die Beliebtheit westlicher klassischer Musik in Asien verweisen. Die Liebe der Chinesen zu klassischer Musik begründen Sie sogar damit, dass „diese in der Kulturrevolution verboten und verfemt war und alle verfolgt wurden, die sich damit beschäftigten“. – In China führte die Verfemung bestimmter Musik also zu einem besonderen Interesse, in Deutschland, wo der Nationalsozialismus avantgardistische Musik verfemte, soll der Effekt genau gegenteilig gewesen sein?
Ihr Erklärungsversuch scheitert an seinen eigenen Widersprüchen. Nein, es bleibt dabei, was Kritiker der Neuen Musik (verstanden im Sinne einer weitgehenden Abkehr von der Tonalität, also radikaler als etwa Debussy oder Ravel) von Anfang an festgestellt haben: Diese Musik ist nicht menschengemäß, weil sie die Gesetzmäßigkeiten der Hörempfindung missachtet, das, was jenseits individuellen Geschmacks allen Menschen gemeinsam ist.
Die Apologeten dieser Musik erinnern an die Sozialisten, die zufällig (?) ebenfalls seit rund einem Jahrhundert herumexperimentieren und immer wieder damit scheitern. Eine rätselhafte Anziehungskraft für sehr viele Menschen hat diese Ideologie dennoch. Von der Neuen Musik kann man nicht einmal das behaupten.
Lieber Moritz Eggert,
den Brief an „Lieber XXX“ habe ich mit großem Interesse und Vergnügen gelesen. Zusammenhänge werden einfühlsam und plausibel beschrieben und ich stimme sehr oft zu. Vor allem bei den „unterschiedlichen Levels von Vertrautheit“ finde ich mich wieder.
Aber der Werdegang der Neuen Musik, raus aus der Mitte der Gesellschaft und rein in die versteckten Hinterzimmer der Spezialisten ist doch ein großes Ärgernis. Da kann man auch mal salopp sagen: wenn’s kompliziert und ungewohnt wird haben viele keine Lust mehr zum Zuhören… schade.
Die fehlende Selbstkritik der heutigen KomponistInnen kommt mir aber doch zu kurz. Und der Wusch, die KomponistInnen könnten die Welt außerhalb ihrer „meist akademisch geprägten Lebenswirklichkeit“ stärker wahrnehmen, kann ich zwar gut nachvollziehen, ist mir doch zu umkonkret. Wir brauchen dringend praktische Vorschläge!
Und gleichzeitig: wir brauchen eine bessere Analyse der Geschichte. So treffend die Überlegungen zu Bach, Haydn und Beethoven sind, so sehr kommen sie doch ins Stolpern wenn es losgeht mit dem Umzug in die Hinterzimmer, also bei der Betrachtung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die zwei Weltkriege und die schreckliche Nazi-Zeit reichen als Erklärung für das globale Hinterzimmer-Phänomen nicht aus.
Als die Herrn Stravinsky, Schönberg und co. ihre wunderbaren Werke schrieben, entstand parallel dazu eine ganz andere Musik und eine andere Art des Musik machen’s. Heute hören wir aus jeder Boom-Box und jedem Handy die Musik, die von Louis Armstrong u.v.a. auf den Weg gebracht wurde. Jimmy Hendrix und Kollegen gelten heute zurecht als kulturelle Heroen. Parallel zum Aufstieg der Afroamerikanischen Musik und nachfolgenden Musikrichtungen nimmt die gesellschaftliche Bedeutung der alten Europäischen Musik ab. Nicht nur die Werke, der zur Zeit aktiven KomponistInnen der Neuen Musik sind in die Hinterzimmer verbannt. Auch klassische Kammermusik und eher komplexere Werke werden immer seltener aufgeführt. Hat sich schon mal jemand gefragt, woran das liegen könnte? Ist eventuell die gesellschaftliche Relevanz und die Ausdrucksmittel der Neuen Musik (inklusive des, in Schwarz gekleideten Habitus) nicht mehr so groß? Hinzu kommt die spezialisierte Aufteilung in KomponistInnen und SpielerInnen. Jimmy Hendrix war beides. Das erzeugt größt mögliche Authentizität.
Zugegeben: das ist auf die schnelle sehr undifferenziert und oberflächlich dargestellt. Aber trotzdem. Das und vieles mehr muss selbstkritisch hinterfragt werden. Sonst kommt keine Bewegung in die Sache.
Mit freundlichen Grüßen, immer gesprächsbereit – Christofer Varner, Musiker
P.S. Ich selbst denke, dass ich durchaus manchmal zu blöd bin für irgendwas, manchmal auch für Musik. Das sage ich weil ich mir bewusst bin, dass sich mein Hörverhalten im Laufe der Zeit stark verändert hat.
Sehr geehrter Herr Eggert, jetzt muss ich als Bildungsbürger und Konzertbesucher doch auf diesen Blog antworten. Ich kann alle Ihre Gedanken nachvollziehen. Ich verstehe die moderne Musik sogar sehr gut. Ja, auch ich langweile mich bei zu einfachen Strukturen. Aber den wesentlichen Aspekt haben Sie unterschlagen: Mir gefällt (so wie vielen anderen) die moderne Musik einfach nicht. Für einen Konzertbesuch mit moderner Musik ist mir die Zeit daher wirklich zu schade. Ich möchte auf hohem Niveau gut unterhalten werden. Dafür bin ich bereit, viel Geld für Eintrittskarten auszugeben. Aus dem gleichen Grund der guten Unterhaltung gehe ich auch nicht mehr in Konzerte, wenn die Interpreten nicht absolut hochkarätig sind. Warum sollte ich also z. B. in das Augsburger Stadttheater gehen, wenn es eine Staatsoper gibt. Wie gesagt: Für mein Eintrittsgeld und für meine knappe Zeit möchte ich erstklassig unterhalten werden.
Nach dem Kommentar unter „Fridays for Opera“ versuche ich es auch hier. Zunächst einmal: volle Zustimmung bezüglich Erlebnis und Verständnis.
Mit Verständnis ist es aber auch so eine Sache. Im Artikel wird Killmayer so zitiert: „Weil ich jetzt verstanden habe, was das Stück mir sagen will.“ Das ist m.E. etwas anders als „ich habe verstanden, was das Stück will.“
Ich habe mal vor einem Neue Musik Konzert meinen Schülern ein Stück vorgespielt. Die Reaktionen waren so in etwa: „ich bin total irritiert, ich kann damit nichts anfangen, das Stück erzählt mir keine Geschichte, hat keinen Höhepunkt“, „vielleicht bin ich zu blöd, aber soll das eine Übung sein, wo Terzen und Quinten verboten sind?“ Laut Erläuterungstext war genau das die Intention des Stückes (Dekonstruktion der herkömmlichen Form und Experiment einer neuen Ordnung der Hierarchien usw.), insofern haben die Schüler das Stück schon verstanden, sehr gut sogar. Sie empfand die Situation aber trotzdem so, dass sie nichts verstanden hatten. Und sie fühlten sich auch nicht berührt von dem Stück, im Gegenteil.
Es ist bei solchen Stücken ja nicht mal klar, ob man sich überhaupt durch die Musik berührt werden soll, ob man das Stück überhaupt schön finden soll, ob die Musik einem überhaupt was sagen will.
Bei dem Vergleich mit dem Essen zu bleiben, geht es hier nicht so darum, dass ein Liebhaber der deutschen Küche plötzlich thailändische Küche ausprobieren soll. Vielmehr es geht darum, dass ein Liebhaber der deutschen Küche plötzlich Schweinebraten mit Schokosoße und Lakritztopping probieren soll.
Schwierig wird es bei solchen Stücken nach meinem Empfinden, wenn der Komponist oder die Komponistin sich auch nicht so im Klaren ist, welche Reaktion sie am Liebsten haben möchte, z.B. wenn er sagt, dass die Reaktion des Publikums ihm egal ist, aber eigentlich tief im Herzen doch möchte, dass das Publikum das Stück schön findet. Schwierig wird es auch, wenn man als Spieler nicht so recht weiß, wen man mehr glücklich machen soll, den Komponisten oder das Publikum. Wie geht man mit Erwartungshaltungen um? Soll man ein Stück ohne Höhepunkt tatsächlich ohne Höhepunkt spielen, oder soll man Höhepunkte einbauen? Und wie behält man da das Interesse der Zuhörer, soll man lieber „Hilfsmittel“ einsetzen, z.B. Kleidung, Bild, Hund auf der Bühne, große Gesten, Eindruck machen durch Lautstärke, Einführung usw. oder geht es ohne? Was ist zwingend, was Kosmetik? Was ist sinnvoll, was ist Verschandlung?
Das sind natürlich Fragen, die auch heikel sind, zumal sie keine reinen aufführungstechnischen Fragen sind, sondern auch sehr persönlich werden können. Mehr Austausch würde ich dennoch gut finden.
Sehr geehrter Herr Eggert,
als „gut verdienender Bildungsbürger“ bin ich bereit, viel Geld für Konzertkarten auszugeben. Aber ich gehe nur in Konzerte, die mir gefallen und mich unterhalten. Die Musik darf auch sehr anspruchsvoll sein. Zudem lege ich Wert auf höchste Qualität.
„Moderne Musik“ höre ich mir aber sicher nicht mehr an. Warum? Sie gefällt mir, wie so vielen anderen potentiellen Konzertbesuchern, nicht. Diese Art von Musik hat ein ästhetisches Problem. So einfach ist der Sachverhalt. Der zweite Weltkrieg ist nicht schuld!