Die Geschichte einer Fahne

 

Die Geschichte einer Fahne

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Einer meiner Studenten kam neulich auf die Idee, eine Regenbogenfahne in unserem Klassenzimmer aufzuhängen. Er fragte höflich an, ob ich etwas dagegen hätte, ihm persönlich sei das wichtig.

Da mir bunte Symbole der Toleranz und der Vielfaltigkeit keinerlei Alpträume verursachen, sagte ich ihm natürlich sofort, dass ich nicht das Geringste dagegen hätte, und gemeinsam hängten wir die gar nicht mal große Flagge an einer der sonst eher kahl und unfreundlich wirkenden Wände von Raum 245 in der Musikhochschule auf, als kleines Zeichen der Liebe und Menschenwürde in einem Gebäude, das historisch als „Führerbau“ und Machtzentrum der NSDAP und nicht gerade für seine liebenswürdige und menschenfreundliche Atmosphäre bekannt ist.

So weit so gut.

Natürlich fragten wir uns, wie lange diese Flagge da wohl hängen würde. Schon in der Vergangenheit hatte ich nämlich immer wieder mal versucht, den tristen Raum 245 aufzuhübschen, zum Beispiel mit freundlichen Star-Wars- oder Doctor-Who-Postern. Einfach so als Zeichen gegen die manchmal bedrückende Spießigkeit dieser Räumlichkeit, in der noch Regale und Schränke stehen, die noch nicht einmal zu Hitlers Zeiten als „modern“ empfunden worden wären: düstere und abgedunkelte braune Monstren, die niemand außer fanatischen Reichsbürgern in sein Wohnzimmer stellen würde, in der wir aber unsere Noten, Partituren und Unterrichtsmaterialien lagern müssen.

All diese Versuche waren letztlich immer gescheitert. Vielleicht passen solche Poster auch nicht in eine altehrwürdige Musikhochschule, in der man sich lieber mit Palästrina und Perotin beschäftigen soll als mit Außerirdischen und Zeitreisen. Kann sein. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich mir meinen Raum teilen muss, denn eine Musikhochschule ist natürlich ein geschäftiger Ort – ganze Dutzendschaften von fleißigen Kolleginnen und Kollegen sowie Studierenden gehen in „meinem“ Zimmer ein und aus, wenn ich nicht da bin. Man ist also eine Art Wohngemeinschaft, der Raum „gehört“ mir nicht allein. Und da kann so ein Star-Wars-Poster schon mal verschwinden. Vielleicht stehen auch die Studierenden drauf und leihen sich solche Poster. Wäre vollkommen ok, ich mache gerne Menschen eine Freude!

Umso gespannter waren daher mein Student und ich also, was mit der Fahne nun in den kommenden Tagen geschehen würde. Welches Schicksal würde dieser zaghafte Versuch einer kleinen Raumverschönerung ereilen? Schließlich hängen auch andere Kolleginnen und Kollegen Poster in „ihren“ Räumen auf, lustige Kollagen mit Bildern von Studierenden, Kunstdrucke von zum Teil scheußlichster Natur oder Plakate mit ihren tollsten Konzerten. Darf man doch, oder? Alles besser als diese tristen Naziwände, in denen immer noch der Rauch von Görings Tabakpfeife hängt (ich weiß zwar nicht genau, ob Göring geraucht hat, aber es wäre zumindest vorstellbar, dass er sich einen Scheiß um damalige Nichtraucherbestimmungen geschert hat).

Zu unserer großen Überraschung war die Regenbogenflagge aber in der nächsten Woche noch da! Allerdings hing sie nicht mehr an der Wand, sondern am Kleiderständer direkt neben der Tür. Was war also geschehen?

Natürlich sind viele Szenarien vorstellbar. Vielleicht fiel die Fahne von der Wand (die von den Nazis verwendeten Wandfarben sind dafür bekannt, eine gewisse Widerständigkeit gegen fremdländische Haftmaterialien wie zum Beispiel Tesafilm zu besitzen) und eine freundliche Seele bückte sich, weil sie es einerseits nicht ertragen konnte, dass die schöne Regenbogenfahne nun mit den Füßen getreten werden könnte, andererseits aber auch nicht die Energie aufbrachte, auf einen Stuhl zu steigen und die Fahne wieder aufzuhängen. Das kann man ja nun wirklich niemandem übelnehmen! Oder jemand hängte die Fahne bewusst ab, weil der Kleiderständer einfach als besserer Präsentationsort empfunden wurde. Ein zwar irrer aber irgendwie noch nachvollziehbarer Gedanke.

Traurig und etwas verkrumpelt hing also die Fahne am Ständer, aber immerhin: sie lebte noch, sie existierte, sie durfte existieren! Ein kleines Blümchen trotzte dem Nazibau! So muss sich ein Gänseblümchen fühlen, das den Beton durchdringt: unsere kleine Fahne als stolze Botschafterin des Friedens und der Liebe in einem Bau, der eine solche Botschaft wahrlich mehr als nötig hat.

Jede Woche dann die erneute Spannung: Hängt die Fahne noch am Ständer?

Ja, sie hing. Es wurde fast schon ein Ritual vor jeder Unterrichtsstunde – der sogenannte „Fahnencheck“. Denn solange die Fahne hing – wenn vielleicht auch nur traurig schlapp am Kleiderständer – war ein Stück Schönheit und Liebenswürdigkeit in dieser Welt, und allein das kann ja Trost verleihen in diesen schwierigen Zeiten.

Doch die Idylle sollte nicht ewig wahren.

Von einem Tag zum nächsten war die Fahne verschwunden.

Nicht etwa erneut heruntergefallen und schnell in eine Schublade gestopft, sondern eliminiert, ausgelöscht, ausgerottet. Noch nicht einmal im Mülleimer fanden wir die Fahne, nein, jemand ging in Raum 245 mit der bewussten Absicht, ein Symbol der Toleranz, des Friedens und der Vielfalt nicht nur zu entfernen, sondern gezielt zu vernichten.

Welche unendliche Mördergrube muss in einem Herzen sein, dass sich eine solche Regenbogenfahnenvernichtungsagenda auf die…äh…Fahnen geschrieben hat? Wie viel Hass muss man in sich tragen, um zu sagen: ich finde Regenbogenfahnen scheiße?

Eine Fahne, die in verschiedensten Formen und Variationen immer nur für positive Dinge stand, nicht nur als Symbol für LGBT, sondern auch als Friedensfahne, Symbol der Hoffnung, Frieden, Aufbruch und Erneuerung, eine Fahne, in deren Namen noch nie Länder erobert oder Menschen ermordet wurden, die über alle politische Gesinnungen hinweg eigentlich nur eins aussagt: wie wäre es, wenn wir uns einander ein bisschen lieber haben würden? Wie kaputt muss man sein, um eine solche Fahne bewusst zu vernichten, zu entfernen und zu unterdrücken?

Bei einer solchen Person muss jede Erziehung versagt haben. Schlimmer noch: diese Person ist vielleicht eine Kollegin oder ein Kollege, gar eine Studierende! Sie spaziert unschuldig tuend durch die hallenden Gänge der Hochschule, schaut sich aber abends heimlich Regenbogenfahnenvernichtungspornos an und reibt sich dabei die Hände. Diese Person findet auch insgeheim Orbans Kulturvernichtungsagenda gut, verachtet Fußballer, die nach Toren Herzsymbole machen und findet womöglich noch, dass man alles ausrotten muss, was nicht der „Norm“ entspricht. Warum studiert oder lehrt eine solche Person Musik? Warum spielt sie Tschaikowsky oder Henze? Weiß sie nicht, dass eines von Richard Wagners Hobbys das Anziehen von Frauenkleidern war? Was ist so schlimm daran zu akzeptieren, dass Menschen ganz unterschiedlich sein können, was ihre Art zu lieben und zu leben angeht? Was ist daran hassenswert?

Wer auch immer diese Person ist: lass uns reden. Vielleicht ist noch nicht alle Hoffnung verloren. Häng die Fahne wieder auf, meinetwegen am Kleiderständer, und alles ist gut. Jeder hat mal einen schwachen Moment. Aber man kann sich jederzeit überwinden und ein bisschen Freundlichkeit in diese Welt lassen. Es tut nicht weh, versprochen.

Und wenn ich in einer der nächsten Unterrichtstunden die Fahne wieder entdecke, werde ich mich ganz still und heimlich freuen. Ein Anfang ist gemacht, der nächste Schritt kommt bestimmt.

Ich habe nämlich noch ein wunderschönes Star-Trek-Poster, das ich schon immer einmal aufhängen wollte.

Zum Beispiel das mit dem Spock-Zitat: „Infinite Diversity in Infinite Combinations“. Aber damit hat dann bestimmt auch wieder irgendjemand ein Problem.

 

Moritz Eggert

 

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Eine Antwort

  1. 14. Juli 2021

    […] „Bei einer solchen Person muss jede Erziehung versagt haben. Schlimmer noch: diese Person ist vielleicht eine Kollegin oder ein Kollege, gar eine Studierende! Sie spaziert unschuldig tuend durch die hallenden Gänge der Hochschule, schaut sich aber abends heimlich Regenbogenfahnenvernichtungspornos an und reibt sich dabei die Hände.“ https://blogs.nmz.de/badblog/2021/07/14/die-geschichte-einer-fahne/ […]