Die große Verunsicherung
Die große Verunsicherung
Neulich saß ich in einem Konzert mit Musik von Gustav Mahler (tatsächlich mit großem Orchester und Chor, man hat schon fast vergessen, wie das ist) und dachte mir: diese Musik passt gerade perfekt!
Nicht, dass man Mahler nicht auch sonst gerne anhört, aber seine eigene Mischung aus Sentimentalität, gelegentlich unverhohlenem Kitsch und tiefer emotionaler Abgründigkeit entspricht unglaublich genau der Gefühlswelt unserer Zeit, die man vielleicht als eine Art Schwebezustand zwischen Post-Corona-Taumel und Prä-Corona-Frust bezeichnen könnte. Denn irgendwie ist uns ja allen klar, dass die Sache noch nicht ausgestanden ist.
Wir erleben alle gerade wieder Konzerte und langsam auch Großveranstaltungen, und auch wenn noch nicht die alten Mengen in die Konzertsäle strömen können, so hat man doch schon das Gefühl von einem Hauch von Normalität. Gleichzeitig bleiben aber viele Veranstalter vorsichtig, die Opernhäuser horten vorsorglich ihre angesparten Etats und man bleibt als Musiker immer noch nervös bei Terminen bis ins Jahr 2022, weil man dann letztlich immer noch nicht sicher ist, ob die dann auch stattfinden werden.
Man ist also gespannt und gleichzeitig gehemmt und fühlt sich wie ein Sprinter, der auf den Startschuss wartet, während gleichzeitig nicht klar ist, ob die Laufbahn überhaupt benutzbar ist. Wie man mit dieser Situation umgeht, ist jedem selbst überlassen – für manche ist die psychische Belastung kaum erträglich und es ist ihnen schwer zu vermitteln, dass es eben nie vollkommen rund läuft und es manchmal auch nur die Wahl zwischen „schlimm“ und „ein ganz klein bisschen weniger schlimm“ gibt. Die meisten haben solche Situationen noch nie in ihrem Leben erlebt und sind überfordert.
Die ewig nörgelnden Coronazweifler und Besserwisser werden daher nicht so schnell verstummen und sich weiterhin einreden, schon immer „recht gehabt“ zu haben, wenn irgendwo etwas nicht ganz perfekt läuft. In ihrer Welt gibt es die Vorstellung, dass selbst in einer ungewissen Situation wie momentan jederzeit ganz klare Direktiven möglich sein müssten, was natürlich schlicht und einfach nicht funktionieren kann. Und es gelingt ihnen das erstaunliche Kunststück, in einem Zustand der absoluten Ahnungslosigkeit jederzeit die Behauptung aufzustellen, sie „hätten es ja schon immer gewusst“, weil sie mal wieder einen Internetartikel gefunden haben, der ihnen beim flüchtigen Lesen irgendeinen Aspekt ihrer persönlichen Coronatheorie bestätigt. Das Internet fungiert dabei immer mehr wie eine Art universale Selbstbestätigungsmaschine – egal wie abstrus die eigenen Ansichten sind, irgendwo findet man einen Artikel dazu. Jeder und jedem das seine – und irgendwann macht es vielleicht auch keinen Sinn mehr, zum hundertsten Mal das Präventionsparadox zu erklären, wenn sich das Gegenüber mit Haut und Haaren dagegen sträubt.
Aber wie geht es nun weiter? Es gibt hierüber vollkommen unterschiedliche Ansichten – die einen propagieren die höchste Wahrscheinlichkeit einer baldigen Rückkehr zu „business as usual“ (sobald man mal alle Virusvarianten durchgemacht hat), die anderen eine Art neue Weltordnung der musikalischen Welt. Wer wird Recht behalten?
Genau die Tatsache, dass man das nicht im Geringsten weiß und auch nicht wissen kann, macht uns alle gerade so nervös. Viele Klassik- und Neue Musik-Fans schauen auf die Traditionsfestivals und werden erst wieder ruhig schlafen, wenn Bayreuth oder Salzburg oder Donaueschingen oder Darmstadt wieder exakt so wie früher ablaufen. Aber wollen wir das wirklich? Können wir durch die Coronakrise gehen und dann so tun, als ob nichts gewesen wäre?
Meine Theorie ist, dass diese Zeit wie ein Beschleuniger wirken wird (und es schon tut) – Prozesse, die vorher schon im Gange waren, werden dynamisch aufgeladen und laufen schneller ab als sonst. Das heißt im Klartext, dass das, was schon im Prozess der Zersetzung war, sich schneller zersetzen wird. Es heißt aber auch, dass neue Ansätze mehr Schwung bekommen könnten.
Kurz vor der Pandemie plante ich gemeinsam mit Axel Brüggemann eine Performance für das Beethovenorchester, die wir als eine Art großen Abgesang auf all das konzipierten, das wir in der Klassik als „abgefuckt“ empfanden: den Star- und Wunderkindkult, die hohle Verehrung von Ikonen, den künstlerischen Ausverkauf als läppische „Neoklassik“, die Eitelkeiten und die Vereinnahmung durch Politik und Populismus. Wir hatten sehr viel Spaß mit dem Entwurf einer langsam aus dem Ruder laufenden „Beethoven-Gala“ und machten uns lustig über viele Banalitäten des Klassikbetriebes.
Schon bald nach Pandemieausbruch war uns beiden aber klar, dass man das jetzt so gar nicht mehr machen kann, weil es einer Art Leichenschändung gleichkäme. Denn erst einmal muss die Klassik und damit die ganze Kultur ja wiederauferstehen, überhaupt erst wieder existieren als gesellschaftliches Phänomen. Man kann nicht über etwas lästern, das am Boden liegt.
In einem Gespräch mit Axel vor ein paar Wochen stellte ich ihm die Frage, was ihm in der nahen Zukunft am meisten Sorge bereitete. Ich hätte die übliche Antwort erwartet: Angst vor Kürzungen im Klassikbereich, Orchesterfusionen, Sparmaßnahmen usw. Aber nein, seine Antwort war so treffend wie auch prägnant. Er sagte „Meine größte Angst ist, dass es so wird wie früher“.
Und das ist auch genau das, was ich spüre. In diesen verrückten Zeiten der gestreamten Wohnzimmerkonzerte, der Befindlichkeiten, des Lamentierens und der Unsicherheiten, der unverschuldet gescheiterten Lebensentwürfe und des Stillstands, ist eine Art essenzielle Frage entstanden, die nun im Raum steht und nicht mehr verschwinden wird. Und ihre Beantwortung ist eine Herausforderung vor allem an die junge Generation, die sich ihren Platz erst noch erkämpfen muss und erkämpfen wird. Die Beantwortung dieser Frage wird die kommenden Jahre auf eine Weise prägen, die wir vielleicht noch nicht erahnen können. Manches Liebgewonnene wird verschwinden, und das vielleicht auch für immer. Manch anderes wird entstehen und bleiben.
Auch in der Welt der klassischen Musik gibt es keinen wirklichen Anspruch auf Ewigkeit, auch wenn wir mit unseren Büsten und Heiligenverehrungen Rituale vollführen, die genau diese Ewigkeit und Allgemeingültigkeit ständig suggerieren. Vielleicht werden wir – und das ist meine persönliche Hoffnung – mehr als in den letzten hundert Jahren das Heutige brauchen, weil uns nur das Heutige Antworten auf die komplexen Fragen unserer Zeit geben kann. Der Abschied von manchen Gewohnheiten wird vielen schwer fallen und viele werden erbittert darum kämpfen, den Status Quo aufrechtzuerhalten. Aber es ist wie bei einem Umzug – es gehört zum Lauf der Dinge, dass man Sachen zurücklässt. Dass man sie im Moment des Weiterziehens nicht mehr benötigt, heißt nicht, dass sie nutzlos sind oder waren, denn auch das Zurückgelassene lebt in uns weiter, weil es uns geprägt und geformt hat.
Und am Ende ist uns allen klar, dass es keine „besssere“ oder „schlechtere“ Klassikwelt geben wird, sondern einfach nur eine „andere“. Und das ist keine Vision, die mir besondere Angst macht.
Die Vorstellung eines ewigen eingefrorenen und hochprätentiösem Stillstands dagegen schon.
Moritz Eggert, 27.6.2021
Komponist