Der braune Honigtopf

Winnie the Pooh, drawn in in 1926 by E.H. Shepard

Der braune Honigtopf

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Dass nach knapp anderthalb Jahren Pandemie bei den meisten von uns die Nerven blank liegen, sollte nicht überraschen. Die Empfindlichen werden immer empfindlicher, die Fanatischen immer fanatischer. Zu den unangenehmen Begleiterscheinungen dieser Situation gehört nicht nur eine bis zur Unerträglichkeit gestiegene Zurschaustellung der eigenen Hysterie, die in sozialen Medien zunehmend aus dem Ruder läuft (wer von uns erträgt noch ein einziges Video, in denen Coronaleugner in ihrer Wohnküche unbeholfen dramatisch in die Kamera sprechen, dabei immer wie ein Mantra zuerst das Datum des aktuellen Tages sagend, als sei es ein wichtiges historisches Dokument?) , sondern auch der fruchtlose Versuch, ständig Schuldige zu benennen und diese allerorten anzuprangern. Deswegen muss ständig geklagt, für irgendetwas „aufgestanden“ und demonstriert werden, es geht gar nicht um die Sache an sich, sondern eher um eine Art Selbsttherapie. Für viele ist das anscheinend besser, als wie ein Kaninchen auf die vermeintliche Schlange zu starren, und sie befeuern allzu gerne den großen neurotischen Klagechor, der ständig um dieselben Themen und eingebildeten Gefahren kreist.

Bei einer Pandemie – die Naturereignis, nicht böser Wille ist – funktionieren die typischen Bewältigungsmechanismen in einer Stresssituation nicht. Es gibt keine eindeutig auszumachenden Schuldigen, eine unbekannte Fledermaus aus Wuhan kann diese Rolle nicht übernehmen. Daher muss etwas anderes „angeprangert“ werden, und das geschieht nach keiner erkenntlichen Logik. Gibt es Coronamaßnahmen, weil die Krankenhäuser sich füllen, so sind diese natürlich trotz dieses offensichtlichen Gegenbeweises „übertrieben“. Wirken die Coronamaßnahmen aber und die Krankenhäuser sind wieder entlastet, wird dies wiederum ebenfalls als Beweis angesehen, dass man ja schon vorher angeblich Recht gehabt hatte. Macht jemand eine Modellierung, die zeigt, was passieren würde, wenn man nichts gegen die Pandemie tut, wird diese verhöhnt, wenn sie nicht eintritt – dabei war ja genau dies der Zweck der Modellierung: zu verhindern, dass das Schlimmste eintritt, weil man dann Maßnahmen gezielt dagegensetzen kann. Die Liste solcher logischen Irrtümer und Präventionsparadoxien ließe sich beliebig fortsetzen.

Welche Absurdität manche Ängste inzwischen annehmen, hätte man vor einem Jahr nicht geahnt. So sind viele Menschen inzwischen fest davon überzeugt, dass einen eine Impfung nicht nur mit einem implantierten Genchip versieht, mit dem man einerseits ferngesteuert, patentiert und gegen seinen Willen unsterblich wird (hey, wieso „gegen meinen Willen“?), man wird auch noch unfruchtbar gemacht, vergiftet, direkt getötet, auf ewig krank, mit der Genschere verändert und dann noch in eine Cloud hochgeladen, in dieser Reihenfolge. Und das alles mit einer einzigen kleinen Spritze – dagegen ist jeder hanebüchene Plan eines James Bond – Schurken ein Ausbund an Realismus!

Dass der große Pool von zunehmend Verzweifelten ein gefundenes Fressen für Populisten, Manipulatoren und Demagogen ist, ist offensichtlich. Deswegen sind Letztere inzwischen sehr geschickt darin geworden, ihre Honigtöpfe überall dort aufzustellen, wo die Verzweiflung am größten ist. Und der Honig in diesen Töpfen ist braun, riecht streng und haftet länger, als es manchem lieb ist.

Inzwischen werden diese Honigfallen auch bewusst dort aufgestellt, wo eigentlich wohlmeinende Menschen hineintappen. Viele sind süchtig nach ein bisschen Bestätigung, weil sie sich mit  ihrer Familie oder ihren Freunden im Streit über Coronamaßnahmen entzweit haben (solche Geschichten kennen wir alle), plötzlich stoßen sie z.B. auf ein Video oder eine Meinung, die sie bestätigt…und die Falle schnappt zu. Sie werden dann Teil einer Agenda, die nichts mehr mit ihrer ursprünglichen Kritik zu tun hat, ob sie es wollen oder nicht.

Inzwischen muss man bei jedem Anliegen, bei jeder Nachricht eine ausführliche Quellenanalyse anstellen, um sicherzugehen, dass es nicht von der falschen Seite kommt, etwas, dass die Schauspieler von #allesdichtmachen zum Beispiel eher nicht getan haben. Auf antisemitischen und coronaleugnenden Telegram-Kanälen wurden ihre Videos tausendfach geteilt und fanden viel Applaus – kann man das wirklich ignorieren, sich allein mit Ironie oder zufälliger Meinungsgleichheit herausreden, wie es Liefers tat? Die Schauspielerinnen und Schauspieler mögen das nicht beabsichtigt haben, aber gerade wegen ihrer Prominenz wurden sie instrumentalisiert und natürlich auch gezielt angesprochen mit dieser Honigfalle.

Wie geht man nun mit dem Applaus von der falschen Seite um? Es gibt auch in der Musikszene viele „Querdenker“ und Kritiker, die anscheinend kein Problem damit haben, dass quasi alle ihre Argumente von der rechten Szene komplett vereinnahmt werden, beziehungsweise überhaupt erst bereitgestellt wurden. Im Dienst der „gemeinsamen Sache“ schließt man dann gerne auch einmal einen Pakt mit dem Teufel, wie es scheint. Diejenigen, die das nicht wollen, sind dazu gezwungen, ihre Argumente sehr sorgfältig abzuwägen und vor Vereinnahmung zu schützen. Das ist zunehmend schwer geworden.

Gerade jetzt braucht es enorme Selbstdisziplin und innere Stärke, denn sonst kann selbst eine wohlmeinende Agenda am Ende zerstörerische Auswirkungen haben. In Zeiten der medialen Überflutung, bei denen die meisten Menschen gefühlt 24 Stunden am Tag vor sozialen Medien hocken und unablässig kommentieren, ist eine Strategie der zunehmenden Askese vielleicht diejenige, die einen am meisten schützt.

Denn was passiert, wenn man sich leidenschaftlich äußert? Man wird dann genauso benutzt: Weicht man nämlich der braunen Honigfalle nicht nur aus und tut dies vielleicht sogar mit einer gewissen Vehemenz, kommt sofort der Vorwurf der „Cancel Culture“. Und das ist bewusste Strategie der neuen Rechten – zuerst benehmen diese sich bewusst daneben und provozieren so sehr, dass es geradezu eine starke Reaktion herausfordert, kommt diese dann, wollen sie sich auf die vermeintliche Übertriebenheit dieser Reaktion berufen. Aus „das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ wird dann im Nachhinein „ich habs doch gar nicht so böse gemeint, warum regst Du Dich so auf?“. Der braune Wolf frisst Kreide, und plötzlich stehen diejenigen, die nichts weiter als die Demokratie und den gesunden Menschenverstand verteidigen wollten, als vermeintlich böse „Cancel“-Schergen da. Dass dies wiederum keine Entschuldigung für einige der absurderen Auswüchse momentaner politischer Überkorrektheit ist, macht die Sache noch komplizierter, aber im Grunde kann man sehr schnell verstehen, dass Fanatismus nie hilfreich ist, egal woher er kommt, ob von links oder von rechts. Es gilt also, die Mitte zu verteidigen.

Gerade Künstlerinnen und Künstler stehen zunehmend im Fokus einer Art schleichenden rechten Unterwanderung. Populisten sind magisch angezogen von größeren Massen von Unzufriedenen, denn diese lassen sich leicht mobil machen für die eigene Agenda. Wir wissen alle, dass das Einzelschicksal ihrer Landsleute Selbstdarstellern wie Trump oder Putin recht egal sein dürfte, sie aber sehr geschickt darin sind, die Unzufriedenen und Sich-zu-kurz-gekommen-fühlenden zu mobilisieren. Und wo gibt es mehr Unzufriedene als in der Kunst, wo selbst die Erfolgreichsten sich als „unterschätzt“ empfinden, eben weil ihr Job auch die Selbstdarstellung ist? So langsam wird das Potenzial dieser Frustrierten entdeckt – sie werden gegeneinander aufgehetzt in einem Umfeld, in dem die zunehmende Polarisierung der unterschiedlichen Meinungen immer neue Konflikte erzeugt. Manche Künstler und Intellektuelle waren sogar schon immer rechts und trauen sich erst jetzt damit an die Öffentlichkeit. Der Honigtopf ist aufgestellt und wer unvorsichtig ist, fällt hinein.

Vor kurzem beklagte mir gegenüber ein Musikerkollege die Tatsache, dass die große Mehrheit der Menschen in diesem Land – nämlich diejenigen, die diese Pandemie mit stoischer Solidarität und großem Aufopferungswillen Monat für Monat überstehen – genau die Gruppe von Menschen ist, die leider am wenigsten Aufmerksamkeit bekommt. Und das ist richtig: erst im Nachhinein wird man verstehen, wie sehr diese Zeit eigentlich diejenigen brauchte, die sich weder im Windmühlenkampf gegen vermeintliche Grundrechtsberaubungen noch in unverständiger Interpretation von Infektionszahlen aufrieben, sondern einfach nur ihren Job machten, freiwillig und aus Mitgefühl und Respekt vor anderen auf vieles verzichteten und schlicht und einfach den Laden am Laufen hielten.

Wenn man mich nach der richtigen Strategie in diesen Zeiten fragt, so kann ich nicht anders, als erst einmal dieser schweigenden Mehrheit zu huldigen. Schweigend nicht, weil sie Angst haben zu sprechen, sondern weil sie schlicht und einfach besseres zu tun haben, als die ganze Welt mit ihren eigenen Befindlichkeiten zu überschütten. Weil anderes im Moment wichtiger ist.

Auch das ist eine Besinnung auf sich selbst – aber nicht aus Narzissmus, sondern aus Achtsamkeit. Man muss in diesen Zeiten mehr als sonst auf sich aufpassen. Die nächste Honigfalle lauert schon. Und wer tatsächlich noch glaubt, dass hinter dieser Falle ein guter Wille steckt, hat schon längst vom braunen Honig gegessen.

Sich immer wieder bewusst dagegen zu stellen und den Zusammenhalt einer gesellschaftlichen Mitte beharrlich zu verteidigen, ist kein „canceln“, sondern der Wunsch nach einem weiterhin respektvollen und achtsamen Umgang der Menschen miteinander, ohne den unseligen Cocktail aus Hysterie und gegenseitigen Vorwürfen, den wir momentan erleben.

Der täglich mühsam errungene kühle Kopf ist daher die wichtigste Wehrhaftigkeit, die wir im Moment haben. Wir sollten ihn weiterhin bewahren.

Moritz Eggert

Winnie the Pooh, drawn in in 1926 by E.H. Shepard

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