Lieber Herr Thierse, warum unterzeichneten Sie beim Debattenraum-Appell?
Lieber Herr Wolfgang Thierse, warum haben Sie eigentlich beim Appell für freie Debattenräume von Milosz Matuschek und Gunnar Kaiser als Erstunterzeichner mitgewirkt? Ich will Sie dafür nicht aus Debatten oder Parteien ausgeschlossen wissen, im Gegenteil. Doch irritiert mich schon diese Selbst-Viktimisierung per Austrittsandrohung auf Kritik aus den Reihen Ihrer SPD-Leitung. Denn Sie nach Ihrer Motivation zur Erstunterzeichnung zu befragen, traut sich im Strudel des Wasserglassturms kaum noch jemand. Sie äußern sich dazu nicht auf Ihrer Homepage, finde ich dazu von Ihnen original Geäußertes bisher nicht in der Presse, auf Suchmaschinen bzw. zog dies an mir sonst stumm vorbei. Sie müssen sich dazu natürlich gar nicht äußern.
Ich will auch gar nicht groß darauf abstellen, dass neben „guten“ Namen wie Günter Wallraff, Götz Aly und anderen Personen im Sinne von der konservativen Mitte bis nach Links bemerkenswerterweise auch Unterzeichnende der „Gemeinsamen Erklärung 2018“ dabei sind. So findet man Vera Lengsfeld, Matthias Matussek oder Uwe Tellkamp. Und unter den später Unterzeichnenden findet man auch Ihren ehemaligen Parteigenossen Thilo Sarrazin (Nr. 16.213) auch 2018 dabei. Aber eben auch Ellen Kositza (Nr. 14.101) – eine von den 2018ern – , womit wir ganz nah am Identitäre wie Martin Sellner begrüßenden Schnellroda und seinen von Götz Kubitschek gegründeten Institutionen wären. Seitens der prominenten sogenannten Corona-Kritiker ist Sucharit Bhakdi als Erstunterzeichner dabei. Ich möchte Ihnen dennoch auch das Beispiel Alexander Kluge nennen, der sich nach seiner Unterschrift nochmals wohl mit dem Appell auseinandersetzte und seine Unterschrift zurückzog. Der Appell wird wohl zudem mit seinem angelsächsischen Pendant verwechselt, was vielleicht auch Sie zur Teilnahme ermunterte.
Was auffällt: einer der wichtigsten Protagonisten der Gemeinsamen Erklärung 2018 fehlt. Henryk M. Broder hat bisher nicht unterzeichnet, obwohl Tichy oder Achgut den Debattenraum-Appell Matuscheks und Kaisers warmherzig besprachen. Daher lohnt sich ein Blick auf Milosz Matuschek, der noch Ende August, Anfang September in seiner NZZ Kolumne versuchte, Verständnis für die Nicht-Querdenkenden unter den Demonstrierenden der beiden großen Querdenken-Demos in Berlin kurz zuvor zu wecken. Problematisch daran war nichts, es sei denn, dass man sich – wie auch ich – darüber aufregte. Geschenkt.
Herr Matuschek, bis dahin eine feste Größe der NZZ, zweitveröffentlichte seinen Text bei KenFM, dem Kanal des besagten Herrn Ken Jebsen. Er soll sogar dort in mehrere Sprachen übersetzt worden sein und wurde nach Protest der NZZ aus dem Netz genommen. Man fragt sich: warum ausgerechnet bei KenFM, der sich Querdenkern sehr offen zeigt? Das andere Problem ist aber die Sache mit Henryk M. Broder und Ken Jebsen. Als Letzterer noch beim rbb moderierte, gab es wohl Moderationen, die Broder als antisemitisch einordnete. Ob Herr Broder nun beim Debattenraum-Appell wegen des Drahtes von Matuschek zu KenFM fehlt, kann ich nur mutmassen.
Nun veröffentlicht Herr Matuschek aber wiederholt bei KenFM (z.B. hier, hier und hier), so dass das schon jemanden ins Auge fallen sollte, der einmal eines der wenigen höchsten Präsidentenämter Deutschlands inne hatte. Daher würde es mich nach wie vor interessieren, warum Sie dort unterzeichneten und ob Ihnen die letzten Wendungen wie die Trennung der NZZ von Matuschek und dessen KenFM-Publizieren nicht auffielen oder was Sie davon halten?
Ich bin wahrlich nicht der Meinung, dass z.B. die Absagen an Herrn Nuhr oder Frau Eckardt letzthin im Jahre 2020 gut waren, ich äußerte mich dahingehend. Ich fand auch das wiederholte Vorgehen von ASTAs gegen Bernd Lucke und Hr. Homburg in den letzten Jahren heikel. Natürlich verstehe ich aber auch immer gewaltlosen Protest und auch friedliche Sit-Ins, da Lucke und Homburg sich selbst höchst umstritten engagierten. Daher ist es auch gut, wenn Sie mit Kritik konfrontiert werden, wenn sich LGBTQI+-Aktivist_innen deutlich äußern. Man muss Ihre Meinung akzeptieren, vielleicht sogar als Opfer von Homophobie ertragen, aber auch Sie müssen die Gegenmeinung und deren Protestformen ertragen.
Wobei ich Sie jetzt nicht einmal hier dezidiert zum Rückzug Ihrer Appell-Unterschrift aufrufen will, obwohl mir dieser Gedanke schon auch über die Lippen trat. Jedem seine Meinungsfreiheit, so sie nicht juristisch fraglich ist – man sieht ja, wie weit man bei Fr. Künast gehen kann und sieht anhand dieses Falles: in Deutschland kann man sich sehr wohl sehr, sehr frei äußern und Sie liegen vielleicht ein wenig mit Ihren Einschätzungen nicht ganz richtig.
Ich denke auch, Sie werden sich weiterhin nicht äußern. Auch verständlich. Aber sehr schade. Daher wäre es besser, Sie schalten auch ein wenig die Gangart herab. Sie erhalten zudem viel Zuspruch, so dass Sie sich nicht allein fühlen müssen. Aber überlegen Sie sich doch, ob man dort unterzeichnen muss, wo ein Initiator erstaunlich oft nahe an dem Kanal einer Person dran bleibt, gegen die Henryk M. Broder mal den Vorwurf „antisemitisch“ erhob.
Komponist*in