Habt Geduld mit Öffnungen von Kulturstätten, koordiniert Euch
Jetzt gehen sie los: die Öffnungsdebatten. Dabei ist es noch zu früh, um valide Aussagen über das Infektionsgeschehen zu treffen und daraus abzuleitende Forderungen zu stellen. Die Wissenschaft rechnet bekanntlich mit dem vermehrten Auftreten der neuartigen Mutationen des Sars-Cov2-Virus und sie ist momentan bei allen unterschiedlichen Fragen zur Datenlage der Ansicht, dass sie ansteckender und mutmasslich auch in ihren Folgen gefährlicher als die ursprüngliche Variante sein könnten, so z.B. Clemens Wendtner vom Krankenhaus Schwabing, das von Anfang der Krise klinisch an dem Corona-Virus dran ist.
Aufregung
Ein Gros der Musikszene ist derweil mal wieder aufgeregt, da Tabellen-Screenshots einer Studie aus Berlin die Runde machen. In dieser wird der R Wert für spezifische Raumnutzungen bei spezifischer Befüllung mit und ohne Maskenschutz moduliert. Theaterräume schneiden nach dieser Studie bei einer Belegung von z.B. 30% anscheinend sehr gut ab. Allerdings schrieb der Spiegel z.B. auch, dass diese Studie erstens noch nicht peer-reviewed ist und zweitens es eine theoretische Modellierung ist. Deshalb kann man diese Studie nicht wie eine Monstranz vor sich hertragen und davon ausgehend auf Öffnungsforderungen für Theater und andere Kulturstätten schliessen.
Es werden zudem immer wieder die Studien der Bayerischen Staatsoper und die des Fraunhoferinstituts angeführt. Diese geben Hinweise, dass Theater- und Konzerträume bei modernster Belüftung und sehr gutem Einlass- und Sitzplatzmanagement ein mutmasslich hohes Mass an Sicherheit bieten könnten. Doch lassen sie das Vorher und Nachher der Veranstaltung sowie den Unsicherheitsfaktor „Mensch“ in unglücklichen Situationen ausser Acht.
Man hat den Eindruck, als wedelte jedes Theater- und Konzerthaus mit seinem wohl besten Hygienekonzept und seinen besten Lüftungsanlagen. Und die Verantwortung für das Publikum endet an der Haustür der Spielstätte. Dazu gesellt sich, dass mancherorts bei Öffnungen am liebsten sofort das Maximum von teilweise 50-60% Belegung, ja, nicht wenige Stimmen fordern z.B. unter Berufung auf eine umstrittene Charité-Studie eines einzelnen Mitarbeiters, die von der Charité-Leitung abgelehnt wurde, eine Belegung zu annähernd 100%, damit sich Veranstalten auch wieder für ungeförderte Private lohne.
Was passiert bei Maximalöffnungen?
Angenommen man würde am Tag x auch nur mit der 60% Belegung z.B. in München Staatsoper, Staatsschauspiel, Kammerspiele, Gärtnerplatztheater, Gasteig, Herkulessaal, Volkstheater, alle Kinos und etliche weitere Spielstätten öffnen, wohl meistens um 19 und 20 Uhr, würde es in der Innenstadt zu signifikant erhöhter und zu dieser Zeit geballter Mobilität kommen. Um so etwas zu riskieren, müsste man sich der Eindämmung des Virus sehr sicher sein wie zuletzt vielleicht im Juli 2020. Daher wäre diese Art von Betrieb und Belegung nicht das erste Ziel, sondern ein mittelfristiges Ziel.
Es gibt Klageansinnen, die unter Berufung auf die o.g. Studien der Staatsoper und des Fraunhoferinstituts diese Art von Belegung gerichtlich erzwingen wollen. Nach einem Interview in Concerti will man dieses Ansinnen an Öffnungsszenarien für den Einzelhandel koppeln. Was klar sein dürfte: wenn der Einzelhandel öffnet, wird er es nur unter strengen Auflagen dürfen. D.h., eine 60% Sofortbelegung wäre bei Klageerfolg sehr schnell als Szenario denkbar. Will man allerdings mit höchster Sicherheit von Kulturstätten vor jeglicher Art anderer Räume werben, wird man sich wohl eher auf die 30% mit sehr geringen R Wert der eingangs erwähnten Studie einlassen müssen.
Koordination ist gefragt
Daher muss man gerade die großen Kulturstätten, also Opern-, Theater- und Konzerthäuser hier in die Pflicht nehmen, nicht sofort das mögliche Maximum ausreizen zu wollen. Für München würde das z.B. bedeuten, dass man zuerst wieder auf 25-40% Belegung setzt, sich als große Häuser zu den abendlichen Spielzeiten abspricht, statt selbst breiter zu öffnen, erst einmal der freien Szene und deren Spielstätten Vorrang einräumt, weil die Mobilität bei weitem in dem Bereich erst einmal geringer ausfallen würde.
Allein an der Idee hier, der freien Szene z.B. Vorrang beim Öffnen zu gewähren, sieht man, dass die Frage nicht gestellt oder gar beantwortet wird, welche Kultur denn öffnen soll. Nur die mit den besten Lüftungen und Hygienekonzepten? Auch Räume mit schlichten Lüftungsmöglichkeiten wie geöffneten Türen, Lüftungspausen hatten bis November 2020 ihre ebenfalls guten Hygienekonzepte. Hier wurde Experimentelles, aber auch Populäres gespielt. Die großen Häuser setzen derweil v.a. auf Hochkultur in Musik und Theater, mag da auch Neues und Provokantes dabei sein, so ist das doch in der Minderzahl der Progammierung. Jazz, Pop, Kabarett, freier Tanz, zeitgenössische Musik, etc., fallen bei Bevorzugung der großen Räume der Hochkultur durch das Raster.
Wichtig wäre also zumindest regional und lokal Runde Tische zu bilden. Denn die freie Szene kann z.B. viel schneller und flexibler mit ihren mobilen und offenen Formen auf eine sich plötzlich sehr schnell abzeichnende Öffnung reagieren als die großen Tanker. Die sprechen z.T. vom Premierenstau, doch werden sie 2-4 Wochen im Schnitt benötigen, um spielbereit zu sein. Manche scheinen es sich sogar leisten zu können, den Sommer 2021, so Öffnungen unter strengen Auflagen möglich wären, zu verschlafen. Wenn also die großen Tanker die Öffnungsdebatte dominieren, fallen die kleinen und freien wieder durch das Raster. Daher ist der Dialog unter allen Akteuren der Kultur- und Spielstätten sinnvoll und vonnöten. Daher ist eine Rücknahme von Maximalöffnungen und eine Beschränkung der Großen auf ein paar Spieltage statt einer dann voll durchgespielten Woche zu überlegen. Lieber das klären und auf Mai statt April setzen, so es die Infektionslage überhaupt zulässt.
Hilfen nicht vergessen!
Öffnungen werden derzeit auch als ein Mittel propagiert, um die finanzielle Not der Soloselbstständigen in der Kulturbranche zu lindern. Dabei ist auch klar, dass für absehbare und verantwortungsvolle Öffnungen die Belegung eben vielleicht bei nur 30-40% bleibt, bis das Impfen oder Anderes eine andere Möglichkeit bietet. D.h., die von Finanzminister Scholz nun endlich in Aussicht gestellten finanziellen Übernahmen von nicht belegbaren Plätzen lindern erst einmal die Not der Veranstalter. Kirchen, auf die mancher mit Klageansinnen neidvoll schaut, weil sie im Lockdown unter einfachen Auflagen aufblieben und so in religiösen Kontexten Auftritte boten, werden eine Rolle spielen. Daher sollte man sie bei aller Kritik und Glaubensferne jetzt lokal wertschätzen statt Neid zu äußern.
Deshalb werden Forderungen nach stetigen Verbessern der Künstler- und Unternehmerhilfen an Stelle aller Gedanken dieses Textes die Hauptbeschäftigung bleiben. Denn z.B. Alle, die nur zu 40-49% ihre Einnahmen aus freiberuflicher künstlerischer Tätigkeit erwirtschaften, bleiben derzeit auch auf der Strecke. Fragen einer angemessenen urheberrechtlichen Vergütung von Streamings als Ersatz von Live-Konzerten sind bisher ungeklärt, selbst wenn der Veranstalter Live-Tarife kalkuliert hat, diese gefördert bekommt und leisten möchte.
Und neben diesen kleineren Details ist noch offen, ob man z.B. im Sinne der Kulturinitiative 21 nicht pauschal mit dem 1180 EUR Minimum jeden Ausfallmonat für freiberufliche Künstler ersetzen könnte. Davon abgesehen werden weiterhin Ideen und Forderungen v.a. gefragt sein, die die finanzielle Situation der Soloselbstständigen auffangen. Dialog und Geduld untereinander sind dazu das richtige Mittel statt mit Einzelbelangen an den Anderen vorbeizupreschen. Die Frage ist also immer: welche Kunst und Kultur meint man denn, wenn man etwas fordert und hat man sich mit den Anderen koordiniert?
Komponist*in
In Folge von Studien aus Japan und Singapur hat eine FFP2 Maske eine Schutzwirkung von ca. 86% in Bezug auf Aerosol-Infektionen. Inzwischen hat die amerikanische CDC (Centers for Diesease Control and Prevention) eine Studie mit „Double-Masking“ gemacht. Das Ergebnis ist verblüffend: Sollten beide Kontaktpersonen doppelte Masken tragen, reduzierte sich die Exposition des Empfängers um 96,5 Prozent. Eine kleine Dosierung der Viren macht in der Regel nicht krank. Warum dann nicht diese Methode für Theater anwenden? In den meisten Theater/Konzertsälen gibt es zusätzlich sehr gute Belüftungsanlagen. Sollte jeder Theaterbesucher eine Doppel-Maske tragen und Schnelltests eingesetzt werden, könnte der Theatersaal ein infektionsfreier Raum werden. Ein guter Teil der Besucher dürften bald geimpft sein. Sie können dann nur eine Maske tragen. Theater/Konzertsäle könnten dann sogar vollbesetzt werden.
Wie wirkt das Tragen einer Doppel-Maske? Viele einschließlich ich selbst tragen schon lange Doppel-Masken und ich finde kaum einen Unterschied zur Single-Maske. Mein Lungenvolumen befindet sich von Natur aus im unteren normalen Bereich und ich finde das Tragen derselben sogar angenehmer als das Tragen einer Maske mit einem dicken Innenfilter. Ich glaube, dass viele Klassikliebhaber diese Option begrüßen würden, mit der Aussicht Vorstellungen erleben zu dürfen, da die Sehnsucht auf Theater/Konzert Events enorm ist.