„Alle meine Entchen werden Brüder!“ – Beethovens geklaute Kinderlieder

Jede/r Pianist:in der Welt kennt die Klaviersonaten Ludwig van Beethovens. Doch nur diejenigen, die sich intensiver mit der Sonata quasi una Fantasia Es-Dur op. 27 Nr. 1 beschäftigt haben, wissen: Beethoven kannte das berühmte deutsche Kinderlied Hänschen klein, da er es gleich zu Beginn der Sonate überdeutlich zitiert! (Nun ja. Nein.)

Werbung

Hänschen klein
[Hier in der Beethoven-Version als pdf]

Die Sonate stammt aus den Jahren 1800 und 1801. Der Text von Hänschen klein wurde zwar erst 1860 erstmals von dem Lehrer am König’schen Institut in Dresden Franz Wiedemann (1821–1882) veröffentlicht, doch da steckte die »zugehörige« Terz-Fall-Melodie offenbar schon so gut wie „im Volksmund“. Eine frühe Quelle dieser ursprünglichen Tanzmelodie stammt bereits aus dem Jahr 1784. Beethoven hätte die Melodie also potentiell kennen können.

Natürlich ist wirklich nur der Beginn der Sonate ein kleines bisschen Hänschen klein. Doch wie würde das Ganze – „unter der Gänsefeder Beethovens“ – wohl wirklich aussehen, hätte Beethoven Hänschen klein direkt (!) zitiert?

"Hänschen Klein" in der Klaviersonate Es-Dur op. 27 Nr. 1

„Hänschen Klein“ in der Klaviersonate Es-Dur op. 27 Nr. 1

Schlaf, Kindlein, schlaf
[Hier in der Beethoven-Version als pdf]

Kein Fake! Im dritten Satz von Beethovens 1801 und 1802 verfertigter „Sturmsonate“ (eigentlich: Sonate d-Moll op. 31 Nr. 2) hören manche bei einer Ab(g)leitung des Themas ungefähr in der Mitte des Satzes tatsächlich die Melodie der Textzeile: „… da fällt herab ein Träumelein“ des Liedes Schlaf, Kindlein, schlaf. Lustig nur, dass das Kind sofort daraufhin schreckhaft geweckt wird, denn am Ende der vermeintlichen Liedzeile kippt Beethoven die ganze Heimeligkeit über Bord – und schmeißt b-Moll, eine tiefe Lage und ein böses „Forte“ hinterher!

Auch Schlaf, Kindlein, schlaf könnte Beethoven bereits gekannt haben! Erste Fassungen des Liedes datieren auf das Jahr 1611. In der heutigen Form – Melodie und Text hatten es bis dato schon zum Status „Volkslied“ geschafft – schrieb das Lied schließlich Johann Friedrich Reichardt (1752–1814) auf.

Und wie würde es klingen, wenn Beethoven nicht nur einen Teil der Melodie von Schlaf, Kindlein, schlaf in seine „Sturmsonate“ eingebaut hätte?


"Schlaf, Kindlein, schlaf" in der Klaviersonate d-Moll op. 31 Nr. 2 ("Sturmsonate")

„Schlaf, Kindlein, schlaf“ in der Klaviersonate d-Moll op. 31 Nr. 2 („Sturmsonate“)

Alle meine Entchen
[Hier in der Beethoven-Version als pdf]

Okay, okay, okay, die hehre (einem Grafen Waldstein gewidmete) „Waldsteinsonate“, die Sonate C-Dur op. 53 aus dem Jahr 1803 hat nun wirklich gar nichts mit dem tödlich-nervigen Spielplatzfolter-Hit Alle meine Entchen zu tun. Alle meine Entchen ist dafür in dem Sinne ein „echtes Volkslied“, als dass die potentiellen Autor:innen von Text und Weise nicht bekannt sind. Manche Vermutungen gehen davon aus, dass Lied in den 1820er Jahren entstanden sein könnte. Der berühmte Schriftsteller Wilhelm Raabe (1831–1910), nach dem gefühlt jedes zweite Gymnasium und jede dritte hässliche Doppelhaushälftenstraße in Niedersachsen benannt wurde, erwähnt das Lied in einem Roman aus dem Jahr 1859. 1824 oder 1859: Hauptsache Beethoven! (Beziehungsweise: Nee, halt einfach zu spät!)

Die – allerdings sehr lustige – Überleitung zum zweiten Thema des ersten Satzes der „Waldsteinsonate“ spielt tatsächlich mit banalen Versatzstücken einer staccatierten H-Dur-Tonleiter. Doch wie klänge es „in echt“, wenn hier etwaige Entchen ihre possierlichen Köpfchen ins Fahrwasser von Beethovens motorisch bewegter „Waldsteinsonate“ stecken würden?

"Alle meine Entchen" in der Klaviersonate C-Dur op. 53 ("Waldsteinsonate")

„Alle meine Entchen“ in der Klaviersonate C-Dur op. 53 („Waldsteinsonate“)

Morgen kommt der Weihnachtsmann
[Hier in der Beethoven-Version als pdf]

1778 komponierte Wolferl Mozart seine schön einfachen Variationen über Ah, vous dirais-je, Maman – hier, in Alman-Land Morgen kommt der Wehrmachtsmann Weihnachtsmann genannt. Aber was ist mit Beethoven? Warum hat er nicht noch geilere Variationen drüber geschrieben, mh? (Das fand er doch so super, andere durch viel zu viele Variationen abzuwerten!) War er sich zu fein? War er zu besoffen – oder zu sauer und kinderfeindlich, weil er knapp an dem Zuschlag des Sorgerechts für seinen Neffen Karl vorbeigeschliddert war?

Wir wissen es nicht! Doch wir wissen jetzt (siehe unten), wie es hätte klingen können, wenn sich Beethoven in seiner ebenfalls sehr lustigen – in den Jahren 1796 bis 1798 geschriebenen – Sonate F-Dur op. 10 Nr. 2 einfach zu der seit ca. 1761 (manche vermuten auch: 1740) bestehenden Melodie, auf die 1835 von dem Deutschlandlied-Nazi-Komponisten Hoffmann von Fallersleben jener populäre Weihnachtsmanntext gedichtet wurde, bekannt hätte!

"Morgen kommt der Weihnachtsmann" in der Klaviersonate F-Dur op. 10 Nr. 2

„Morgen kommt der Weihnachtsmann“ in der Klaviersonate F-Dur op. 10 Nr. 2

Wer diese vier Noten-Ausschnitte auf seinem Instrument persönlich einspielt, auf YouTube hochlädt und hier in den Kommentaren entsprechend verlinkt, der bekommt ein Exemplar meines Buches op. 111. Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt (2020 erschienen im Wolke Verlag) geschenkt (solange der Vorrat reicht.)

Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.