Blog of Bad Virus: „Whataboutisms“ (weitere Coronamissverständnisse)

Welche Diskussionstechnik gibt es, die jeder von uns schon einmal benutzt hat? Vielleicht, ohne das Wort zu kennen, vielleicht auch ohne Bewusstsein dafür, welch verheerende Folgen sie für absolut jede Diskussion hat?

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Diese Technik nennt sich „whataboutism“, abgeleitet vom Englischen „what about…“ („aber was ist mit…“). Der Begriff stammt eigentlich aus dem Kalten Krieg und bezeichnete Methoden russischer Gegenpropaganda, wird aber bis heute von Spindoctors, Politikern jeglicher Couleur, Populisten, Propagandisten und Verschwörungstheoretikern verwendet. Daher überrascht es nicht, dass gerade in Coronazeiten der Whataboutism fröhliche Urständ feiert und fast alle Diskussionen wie ein bösartiges Virus durchdringt.

Was genau ist Whataboutism? Whataboutism ist die einfache Technik, eine Kritik zu negieren, indem man sein Gegenüber wegen etwas anderem kritisiert oder ein vollkommen anderes Thema anschneidet, das vom eigenen Versagen ablenkt, meistens mit der Einleitung „aber was ist mit…“. So antworteten die Russen im Kalten Krieg auf jede Kritik des Westens an zum Beispiel Gulags oder politischer Verfolgung mit z.B.  „but what about the killing of civilians in Vietnam?“.

Wunderbar kann man diese Methode momentan bei der Trump-Administration in Aktion sehen: jedes Mal, wenn sich Kritik an Trumps Coronamaßnahmen regt, wird die Sprache sofort auf China als „bösartigem“ Verursacher der Krise gebracht. In der Politik ist „Whataboutism“ auch Hauptwaffe der Opposition, um Themen in den Fokus zu rücken, die den Gegner schwach aussehen lassen sollen. So benutzte die AfD die Flüchtlingskrise als endloses Whataboutism, um einen angeblichen Grund für so ziemlich alle Probleme in diesem Land benennen zu können, eine relativ leicht zu durchschauende Taktik, die dennoch erschreckend gut funktionierte.

Auch Greta Thunberg war ein beliebtes Opfer von „Whataboutism“. So war es kurz vor Corona von in den sozialen Medien eine gängige Hater-Taktik, bei jedem beliebigen Thema plötzlich ein Greta-Bashing einzuführen, selbst wenn es auch nicht im Entferntesten um Klimaschutz ging. Einfach nur um die Diskussion zu vergiften.

In Coronazeiten ist nun eine ganz spezielle Variation des „Whataboutisms“ zu beobachten. Wer hat sie nicht gesehen, die Posts, die irgendwelche aufgeschnappten und nur tagesgültigen Coronatotenzahlen in Bezug setzen zu den größeren Totenzahlen durch Rauchen oder Malaria, meistens mit dem pseudobetroffenen Inhalt „gegen Rauchen/Malaria wurde nichts getan, aber wegen Corona stoppt die Welt!“. Besonders perfide sind dann Vergleiche mit dem Hunger auf der Welt, gegen den man ja bisher angeblich „nichts“ getan hätte, warum dann nun also so viel Aufwand wegen dem „lächerlichen Corona“ („nur eine kleine Grippe“)?

Diese Art von Posts wollen alle eines: sie wollen Covid-19 als Gefahr kleinreden, indem sie andere Probleme vorschieben, die ja wesentlich „dringender“ seien. Nicht etwa, dass sich diejenigen, die so etwas posten, vorher besonders gegen Malaria oder Hunger engagiert haben. Aber es sieht einfach gut aus, wenn man so etwas auf seiner Timeline postet, denn Betroffenheit um der Betroffenheit willen ist gerade in Deutschland ein sehr beliebter Sport.

Dass dieser erst einmal gut klingenden Argumentationen in Wirklichkeit hohler rhetorischer Schrott sind kann man leicht an folgendem Beispiel erörtern:

Man stelle sich vor man geht in die Notaufnahme eines Krankenhauses, weil man sich in die Hand geschnitten hat und dringend verbunden werden muss. Anstatt dass der Arzt einen drannimmt, sagt er aber: „Wir haben haufenweise Krebspatienten, ich muss mich gewiss um diese zuerst kümmern, denn Krebs ist lebensgefährlich“. Oder: „Dieser andere Patient braucht dringend eine Suchtberatung wegen Alkoholismus, ich nehme ihn zuerst dran“. Oder „Vielleicht sollte ich erst einmal dieses Telefonat wegen einer Schwangerschaftsgymnastik führen“ Irgendwann verblutet man dann, weil dem Arzt die „Whataboutism“-Argumente nie ausgehen würden, er könnte IMMER etwas anderes vorschieben.

Natürlich sieht die Realität im Krankenhaus anders aus. Es nennt sich „Priorität“ – klar, Krebspatienten müssen versorgt, Suchtgefährdete beraten und Schwangere betreut werden, aber in diesem Moment müsste man dem Verblutenden helfen, weil man eben in der Notaufnahme ist und genau auf solche Situationen reagieren muss. Für die anderen Hilfebedürftigen gibt es Stationen, die speziell für deren Bedürfnisse eingerichtet sind.

Und genau das ist der gedankliche Trugschluss, wenn Krebs, Malaria oder der Hunger auf der Welt als Argumente gegen Corona eingeführt werden. Denn die Coronamaßnahmen bedeuten keineswegs, dass diese Probleme ab jetzt ignoriert werden (oder bisher ignoriert wurden). Tatsächlich fließen auch in diesem Moment Millionen in die Krebsforschung, in die Malariaprophylaxe und in die Lebensmittelversorgung von Hungernden. Auch wenn wir das Gefühl haben, dass die Welt stillsteht, tut sie dies nur in Teilen. Und leider sind all diese Probleme momentan nie perfekt zu lösen.

Corona ist aber das Problem in der Notaufnahme, es unterscheidet sich qualitativ von den Dauerproblemen Krebs, Malaria und Hunger. Und zwar vor allem deswegen, weil es sich um eine UNBEKANNTE Gefahr handelt, eine Krankheit, die man noch nicht komplett versteht, deren Verbreitungswege noch nicht komplett erforscht und deren mögliche Mutationen und Spätfolgen nach wie vor ungewiss sind. Und auch, weil das Ignorieren des Corona-Problems Einfluss auf die anderen Probleme hat: ein zusammengebrochenes Gesundheitssystem kann z.B. Krebskranke auch nicht mehr adäquat versorgen.

Wären wir in einem Atomkraftwerk, so würde gerade ein roter Knopf bei der „Kühlung“ blinken – selbstverständlich wäre die Vermeidung von Strahlung und die Entsorgung von radioaktivem Material weiterhin sehr wichtig, aber das dringende Problem der Reaktorkühlung bräuchte in diesem Moment die größte Aufmerksamkeit, sonst sind die anderen Probleme auch nicht mehr zu kontrollieren.

Beliebt ist auch, die Tödlichkeit von Corona gegen die Tödlichkeit von z.B. Rauchen oder Alkohol aufzuwiegen. „Dann müsste man doch auch Rauchen verbieten, denn Rauchen ist viel tödlicher!“ hört man sehr oft. Doch auch dieser Whataboutism erweist sich als Trugschluss, denn natürlich wurde in der Vergangenheit sehr viel gegen das Rauchen getan, und zwar überall dort, wo es anderen Menschen schaden könnte, sonst wäre jetzt heute das Rauchen nicht quasi weltweit an öffentlichen Orten geächtet oder eingeschränkt. Dieser Prozess setzte sofort ein, als man begriff, wie gefährlich Rauchen für die Gesundheit von Passivrauchern ist – vorher war es nur Verantwortung und Problem jedes einzelnen Rauchers und scherte niemanden.

Und das ist der wichtige Unterschied zu Corona: wenn ich selber keine Angst vor einer Ansteckung durch Covid-19 habe, ist das ja schön und gut…Es würde auch niemanden kümmern, wenn ich nicht haufenweise wegen meines eigenen Leichtsinns andere Menschen anstecken könnte, die vielleicht nicht angesteckt werden wollen. Meine eigene Freiheit zu Rauchen oder Covid-19 zu bekommen ist also nur dort eingeschränkt, wo es die Freiheit anderer Menschen betrifft, das ist das Entscheidende.

Und aus diesem Grund ist die Achtung der Coronamaßnahmen vor allem eine Achtung meiner Mitmenschen, ein entscheidendes Prinzip einer Solidargemeinschaft. Die vielen leichtsinnigen Hygienedemonstranten verstehen nicht, dass es gar nicht um sie, sondern um diese Solidargemeinschaft geht, deren Sinn sie verschwörungsvernebelt nicht anerkennen. Sie thematisieren allein ihren eigenen Freiheitsverlust, respektieren aber keineswegs die Freiheit der (mehrheitlichen) Anderen. Das ist egoistisch und kurzsichtig, ebenso wie wenn wir als Musiker uns allein als Mittelpunkt der Welt begreifen und nicht verstehen, dass wir Teil eines komplexen Sozialgefüges sind. Je eher wir das aber verstehen, desto besser werden unsere Argumente zum Erhalt von Kultur und Konzertleben. Ignoranter Egoismus ist nicht sehr sexy, wenn man die Hand aufhält, das möchte ich u.a. auch mit meinen Artikeln zum Ausdruck bringen.

Whataboutism ist aber auch eine Form von Verdrängung – gerade diejenigen, die am meisten gegen die Corona-Maßnahmen wettern, benutzen diese Whataboutisms auch beharrlich als Flucht, vielleicht auch, weil sie sonst der Angst vor der Pandemie ausgeliefert sind. Gerade sehr sensible Menschen – und damit oft Künstler – sind daher sehr anfällig für Verdrängungsmechanismen und Verschwörungstheorien. Dass die Angst vor Corona und den Folgen uns alle bedrückt – auch die, die versuchen, geduldig und möglichst vernünftig mit der Pandemie umgehen – ist eine Tatsache. Wir können aber alle davon ausgehen, dass ein möglichst fokussierter und realistischer Blick auf die Coronakrise, ein Blick, der sich nichts einredet oder ständig auf unseriöse Weise mit Whataboutisms vom Thema ablenkt, der beste Weg ist, um diese Krise so schnell wie möglich zu überwinden.

Und das wollen wir doch alle, oder?

 

Moritz Eggert

 

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2 Antworten

  1. Roman Czura sagt:

    Lieber Moritz, in Teilen magst du gewiss recht haben, ich möchte dir aber nichtsdestotrotz widersprechen. Auch ich habe anfangs tatsächlich solche Post geteilt, bzw kommentiert. Das hatte zwei Gründe. Zum einen, war mir, wie vermutlich den meisten Menschen, zum damaligen Zeitpunkt nicht klar, die gravieren Corona tatsächlich für uns werden kann. Es war noch ein abstraktes Problem in einem fernen Land. Zum anderen aber, und das ist der viel wichtigere Grund, hat es mich wütend gemacht, dass angesichts von Corona die Welt tatsächlich mehr oder weniger stillsteht, bei sehr vielen anderen Problemen aber, vor allem beim Klimaschutz, aber viel zu wenig passiert. Und viel zu langsam. Dabei sind die zu erwartenden Konsequenzen sehr viel gravierender. Meine Motivation war also nicht die notwendigen Maßnahmen der Regierungen gegen die Ausbreitung eines neuen Virus zu kritisieren, sondern zu hinterfragen, warum die Entscheider beim Klimaschutz im Schneckentempo handeln. Es war (jedenfalls in meinem Fall und aus meiner Sicht) keineswegs ein Whataboutism, sondern ein kritisches: Why-not-always!? ;)