Der beste „Fidelio“ des Beethoven-Jahres – im Gefängnis!
Seit 22 Jahren erarbeitet das Gefängnistheater aufBruch in Berlin mit Insassen Inszenierungen großer Stoffe…
Der Besuch der aktuellen Produktion „Fidelio“, die ich Anfang März 2020 erleben durfte, gehört zu den eindrücklichsten, am meisten erschütternden und am meisten berührenden Theatererlebnisse meines Lebens. Am Mittag war ich zur Untersuchung in einer MRT-Röhre beim Radiologen. Am frühen Abend zum ersten Mal in meinem Leben in einem Gefängnis. Der 4. März 2020: Der neue internationale Tag der Beengtheit.
Sich Beethovens Singspiel „Fidelio“ vorzunehmen, das scheint von der Handlung her – die im Original in einem Gefängnis in Sevilla spielt – bittersüß/makaber/voyeuristisch zu „passen“. Doch singen die etwa fünfzehn mitspielenden Gefangenen der JVA Tegel an dem „Abend“, der bereits um 17.30 Uhr beginnt (da um 20.30 Uhr laut Hausordnung alle Insassen auf ihren Zimmern sein müssen), auch? Ja! Solo-Arien, Terzette, Chöre (in denen auch viel chorisch gesprochen passiert); es wird zu Beethovens Fünfter kurz gerappt – von zwei Insassen selbst getextet. Es gibt einen Gefangenen mit einem sehr auffälligen Namen (und nein, es geht uns nichts an, für welches Verbrechen dieser Mensch einsitzt), der wie ein alter Burgtheater-Schauspieler performt – und wie ein gelernter Heldenbariton singt. Don Pizarro ist Don Pizarro ist Don Pizarro – ist: dieser Mann (den zu einem Interview zu treffen ich mich bemühen möchte)!
Doch ein Männerknast ist ein Männerknast ist ein Männerknast. So herrscht gerade zu Beginn des äußerst düsteren Abends ab und zu eine alberne Stimmung… Schließlich ist für Weichheit im Knast nicht viel Platz. Marzelline wird von einem bodybuildingraumgestählten Herrn mit großem humoristischen Potential gespielt. Doch die männlich-polternden Albernheiten sind nur der Anfang des Ganzen – und gleichsam Widerschein, Reaktion auf einen gemaßregelten Alltag. Das Lachen tut erst einmal gut, nach der Prozedur (man muss seine Sachen in ein Schließfach verstauen, wird intensiver als an jedem Flughafen gefilzt), mittels der man überhaupt in Deutschlands größtes Gefängnis als Besucher*in eintreten darf. Dann bleibt es in diversen Hälsen stecken.
Zwischen den unheimlich klug gestalteten Einzelteilen des frühen Abends wechselt das Publikum immer wieder die Standorte. An dem jeweils neuen Ort erwarten einen jeweils schon die Musiker*innen der Karajan-Akademie und Studierende der Eisler-Musikhochschule. Sie spielen Beethoven-Arrangements (nicht nur aus „Fidelio“) für kleine Besetzung, kurze Solo-Einsprengsel, die als Überleitungen dienen – und begleiten einzelne Arien, ja sogar Ensemble-Nummern in ihrer ganzen Polyphonie. Musikalisch auf höchstem Niveau.
Simon Rössler, Schlagzeuger bei den Berliner Philharmonikern, leitet diesen unfassbaren Abend – und die Musik, so komisch das klingen mag, tönt in dem stillgelegten Gebäude aus dem Jahr 1898, in dem keine Gefangenen mehr wohnen: besser als in so manchem Konzertsaal.
Umwebt und durchbrochen werden die Handlungs- und Sing-Teile von Beethovens „Fidelio“ durch Stücke und Stoffe vom ehemaligen Gefangenen Jean Genet, durch Texte von Rudolf Leonhard und anderen… Auch persönliche Erfahrungen und vor allem formulierte Hoffnungen der Gefangenen selber sind Teil des Stückes.
Besonders beeindruckend ist der vorletzte Part, der in einer Zeit spielt als es die Todesstrafe noch gab: Wie fühlen sich wohl die letzten Minuten im Leben eines todgeweihten Gefangenen an? Wir sitzen auf einfachen Holzstühlen – teilweise umringt von Justizbeamten, die aber ganz unaufgeregt Teil des Publikums und absolut nicht in erdrückender Überzahl sind… In einem langen Gang… Die Insassen – man vergisst, dass sie in diesem Augenblick als Schauspieler agieren – aufgereiht… Man muss extrem nach links oder rechts schauen und hören, wenn von dort ein Satz der weit über zehn Männer kommt… Das ist wirkliches Drama, das ist Theater – befreit von der Routine. Nein, die Routine wird hier selbst zur Ausnahme, zur Ausnahme-Inszenierung… Zu einem Abend, den ich nie vergessen werde.
Ich grüße alle Insassen der JVA Tegel, gratuliere ihnen – und wünsche allen, dass ihre Hoffnungen und Träume gelebte Realität werden; dass Ängste und Schmerzen durchdacht, reflektiert und Lektionen für eine gute Gegenwart und Zukunft werden.
Dem Organisations- und Leitungsteam (natürlich auch dem Regisseur Peter Atanssow) gratuliere ich ebenfalls. Im Grunde müsste man so eine Inszenierung zum Berliner Theatertreffen einladen…
Weitere Vorstellungen gibt es am 11., 12. und 13. März 2020. Alle Vorstellungen sind allerdings ausverkauft.
Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.
Danke für den Bericht. Ich bin aber hier zwiespaltig.
Ja, die Musik ist für alle da. Und es ist gut, wenn die Gefängnisinsassen durch das eigene Musizieren und durch die Musik resozialiert werden.
Warum kümmert sich die Klassikszene aber eigentlich lieber vorwiegend mit den Tätern (ja, Gefängnisinsassen sind Täter)?
Wie kann man mit Mauser, Levine, Domingo usw. umgehen, wenn man gleichzeitig Produktionen mit Tätern macht? (Hat man dabei auch an deren Opfer gedacht?)
In Fidelio geht es letztendlich darum, dass ein Unschuldiger willkürlich und widerrechtlich politisch gefangen gehalten wird, und dass seine Ehefrau ihn mit ihrer unerschütterlichen Liebe und ihrem Mut befreit.
Bei allem Verständnis für den oft schwierigen persönlichen Werdegang der Täter, geht es in deutschen Gefängnissen i.d.R. nicht um willkürlich verurteilte Whistlebrower.
Hinzu kommt, dass z.B. Sexualtäter sich gerne diese Argumentationsschiene bedienen, dass sie nur Opfer von Intrigen geworden wären. Auch bei #metoo in der Kultur und auch in der Klassik hat man dieses Muster noch gesehen, auch wenn hier in den letzten 2 Jahren doch ein gewisses Umdenken stattgefunden hat. Im Übrigen war diese allgemeine Haltung in der Gesellschaft auch lange einer der Gründe, warum Sexualtäter erst gar nicht verurteilt wurden (oder wie man neulich sogar gesehen hat, dass die Szene Solidarität mit einem verurteilten Sexualtäter gezeigt hat).
Ich hoffe, dass wenigstens die in der Produktion beteiligten Nachwuchsmusiker nicht in das alte Denkmuster rutschen, wo man mehr Verständnis für Sexualtäter gezeigt hat als für die Opfer.