Erneutes Lob der Provinz

Erneutes Lob der Provinz

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Vor 9 Jahren schrieb ich einen Blogartikel über meine Erfahrungen bei der Uraufführung meiner Oper „Linkerhand“ in Görlitz und Hoyerswerda. Wenn ich diese Zeilen heute lese, wird mir wieder bewusst, wie viel Hoffnung in diesem Artikel steckte. Wurde diese Hoffnung in der Zwischenzeit enttäuscht? Ganz sicher nicht, aber es gibt definitiv Luft nach oben, was die Anerkennung musikalischer Arbeit fernab der Großstädte angeht.

Deutschland hat eine unfassbar reiche Musiklandschaft, um die uns die ganze Welt beneidet – auch wenn wir dies vor lauter Lamentieren über den empfundenen Kulturverfall oft vergessen. Das Besondere an unserer Musikkultur ist, dass sie keineswegs – wie es zum Beispiel in England oder Frankreich der Fall ist – auf eine einzige große Metropole ausgerichtet ist. Sicherlich spielt Berlin im Kulturleben unseres Landes eine große Rolle, aber die anderen deutschen Großstädte müssen sich keineswegs dagegen verstecken, da sie alle regional ebenso aktiv sind, vielleicht sogar aktiver, wenn man den Berliner Kulturhaushalt auf dessen Einwohner hochrechnet. Die 11 Großstädte nach Berlin sind Hamburg, München, Köln, Frankfurt, Stuttgart, Düsseldorf, Dortmund, Essen, Leipzig, Bremen und Dresden – alles Städte mit einem reichhaltigen musikalischen Angebot und/oder Anbindung an eine musikalisch aktive Region.

Hinter diesen Städten beginnt sie, die sogenannte Provinz. Die kleineren Städte, die nicht mehr in der Liste der Großstädte auftauchen. Die Städte, die nicht mehr ganz so gut an das Bahnnetz angebunden sind (in dem ohnehin alle Züge ständig zu spät sind, egal wohin sie fahren). Um diese Städte zu erreichen, nimmt man Regionalzüge, S-Bahnen oder kleine Bummelbahnen. Vielleicht sind es auch gar keine Städte mehr, sondern schon halbe Dörfer. Es sind Orte, an denen der letzte Italiener um 21 Uhr schließt, oder Orte, an denen es noch nicht mal mehr einen Italiener gibt.

Überall in Deutschland gibt es diese Orte. Und wer als Musiker in Deutschland arbeitet, lernt sie irgendwann kennen, die sogenannte „Provinz“. Sowohl als Interpret wie auch als Komponist habe ich zahlreiche Städte aufgesucht, deren Namen ich vorher noch nicht einmal kannte. Sie verstecken sich überall auf unserer Landkarte. Manchmal fährt man stundenlang über einsame Landstraßen, und plötzlich steht dort eine Scheune, in der Musik gemacht wird, ein Schloss oder vielleicht auch eine Turnhalle oder Schulaula. In diesen Orten gibt es dann Förder- und Liebhabervereine, die sich engagiert des lokalen Kulturlebens annehmen, es gibt sogar kleine Orchester, die sich enorm ins Zeug legen, es gibt kleine Theater und Opernhäuser, die zum Teil unter absurdesten finanziellen Bedingungen einen Spielplan entwickeln. Einmal spielte ich bei einem dieser Orchester als Aushilfsschlagzeuger (ich selber habe keineswegs Schlagzeug studiert oder gelernt), da der erste Schlagzeuger – eigentlich von der freiwilligen Feuerwehrkapelle geliehen – mit den modernen Partien überfordert war. Ich bin nachts durch Fenster in abgelegene Pensionen eingestiegen, weil die Besitzer schon um 21 Uhr ins Bett gegangen waren, und man sonst nicht mehr nach dem Auftritt in sein Bett gekommen wäre. Einmal spielte ich ein Konzert in einem Stall, während nebenan lautstark eine Kuh kalbte. Einmal spielte ich ein Programm für Kinder vor lauter Erwachsenen, da es in dem Dorf quasi keine Kinder mehr gab. Einmal besuchte ich eine einsame Lichtung im Bayerischen Wald, und plötzlich erschienen hunderte von Menschen (waren sie zu Fuß gekommen?) mit riesigen Glocken um den Unterleib gebunden, diese rhythmisch mit kaum verhohlenen quasi sexuellen Bewegungen anstoßend: das alte Ritual des „Wolfsauflassens“. Ich könnte unendlich lang Geschichten über meine Reisen in die „Provinz“ erzählen.

Ich habe viele, viele Fragen von Konzertbesuchern in der „Provinz“ beantworten müssen. Manche davon zeugten von einem tiefen Misstrauen gegenüber moderner Musik (was ich immer als eine Herausforderung für ein Gespräch empfinde), manche wiederum waren in ihrer Unbefangenheit viel klüger als die Fragen, die mir bornierte Konzertbesucher in München oder Berlin stellen.

Die „Provinz“ ist eines nicht: vorhersehbar. Wer die „Provinz“ besucht, wird mit seinen eigenen Vorurteilen konfrontiert. Sind wirklich alle Ossis AfD-Wähler? Sind alle im Bayerischen Wald ständig betrunken? Sind alle Norddeutschen reserviert?

Wer die „Provinz“ befragt, wird viele Antworten bekommen. Manche davon werden niederschmetternd sein – verlassene Orte mit wenig Hoffnung, Orte, an denen das Leben vorbeigezogen ist. An anderen Orten wiederum wird man ermutigt, denn dort haben diejenigen, die eine Vision haben, diejenigen, die noch Träume haben, eine grundsätzliche Wahrheit erkannt: die „Provinz“ ist nämlich freier als alle anderen Plätze.
In Amerika spricht man von der „Frontier“, und darin liegt natürlich Westernromantik: Einsame Cowboys, die durch eine endlose Wüste reiten. Deutschland, dieses kleine und auch übervolle Land mitten in Europa, hat es überhaupt eine „Frontier“? Kennen wir diese Freiheit, in der alles möglich ist, in der auch Träume wahr werden?

In der „Provinz“ fängt diese Freiheit an. Und gerade, weil es so schwierig ist, gerade, weil immer das Geld fehlt, gerade, weil die Großstadtbewohner immer wieder auf die kleinen Städte herabschauen, sich die Kritiker nur selten dahin verirren, gerade deswegen ist diese Freiheit so wichtig.

Es ist kein Geheimnis, dass ich sehr kritisch gegenüber dem großen Konservatismus bin, der generell in der klassischen Musik herrscht, der vollkommen unbegründeten Angst vor dem Neuen, der Beschränkung auf ein immer kleiner werdendes Repertoire, dem Ausverkauf in Richtung Kommerz. Ein großartiges Haus wie die Bayerische Staatsoper steht dadurch unter unzähligen Zwängen, nicht zuletzt, weil sie auch von vielen Touristen besucht wird, die man durch allzu radikale Inszenierungen und vor allem Stücke nicht verschrecken will (was natürlich dennoch immer wieder passiert). Warum werden in den Opernhäusern nicht zu 50% alte und zu 50% neue Stücke gespielt, wie es eigentlich richtig wäre?

In der „Provinz“, in der „Frontier“, könnte gelingen, was in den Großstädten nur schwer gelingen kann: die Mobilisierung eines neuen und offenen Publikums. In der „Provinz“ werden vielleicht auch die Fehler, die man in den vergangenen Jahren in der Nachwuchsarbeit gemacht hat, wesentlich schneller ersichtlich: denn wo noch nicht einmal mehr eine traditionelle Operninszenierung Publikum generiert, könnte man sich doch von vornherein an ein neues Publikum wenden.

Wie es aber eben ist in der „Frontier“: es herrschen keine Regeln und keine Gesetze. Was in einer Region funktioniert, kann in einer anderen scheitern. Herausfinden kann man das aber nur, wenn man etwas Neues versucht. Und da kehrt es sich plötzlich um, das Verhältnis der großen Städte zu den kleineren. Denn die kleinen können hier nicht nur mithalten, sondern die gerade im Moment so wichtige Pionierarbeit leisten, von der alle anderen lernen können.

Moritz Eggert

(Dieser Text erschien 2018 in leicht abgewandelter Form im Programmbuch der Lüneburger Symphoniker)

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