Wie schlimm ist es wirklich? Sexuelle Übergriffe an Musikhochschulen

Wie schlimm ist es wirklich? Sexuelle Übergriffe an Musikhochschulen

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Immer wieder schreiben mir Kollegen angesichts der aktuellen #MeToo“-Debatte über sexuelle Gewalt an Musikhochschulen, dass es doch „gar nicht so schlimm sei“ und ihnen selber „keine Vorfälle“ an ihrer eigenen Hochschule bekannt sind. Dies kommt für gewöhnlich als Reaktion auf meine Aussage, dass man davon ausgehen könne, dass ganz sicher an quasi allen deutschen Musikhochschulen solche Fälle existieren.

Mal abgesehen davon, dass mir inzwischen zahlreiche Fälle an Hochschulen in ganz Deutschland persönlich bekannt sind und ich immer wieder neue Zuschriften mit Fällen bekomme, wäre dies meine Antwort: kennen wir wirklich das Schicksal aller Studentinnen und Studenten an einer Hochschule? Wissen wir wirklich, was im Einzelunterricht der Kollegen vorgeht, wenn wir bei diesem niemals anwesend sind? Die große Mehrheit der Kollegen ist ganz sicher anständig, viele von ihnen sind begnadete und großartige Pädagogen. Aber es reichen einige wenige schwarze Schafe, um den Ruf einer ganzen Hochschule zu beschädigen, wie gerade eben in München zu sehen ist. Und die meisten Fälle kommen nie an die Öffentlichkeit.

Für viele ist die Vorstellung, dass Musikhochschulen aufgrund ihrer spezifischen Macht- und Unterrichtsverhältnisse ein ganz besonders günstiger Nährboden für sexuelle Straftäter sind, absurd. Leider ist genau dies auch das Argument der Täter, mit dem sie sich vor Verfolgung schützen. Es ist immer dieselbe Taktik: Vorfälle werden kleingeredet, die Opfer diskreditiert. Oft wird auch das „große Talent“ des Täters in die Waagschale geworfen, quasi als Entschuldigung, geschehen z.B. im Fall Levine über viele Jahrzehnte. Die Opfer schweigen meistens, wissen nie von anderen, denen ähnliches geschehen ist. Warum? Weil Musikstudenten oft einsame Wölfe sind – gerade in den Solistenfächern herrscht oft ein wahnsinniger Arbeitsdruck, stundenlanges einsames Üben in Übezimmern, bis spät in die Nacht. Viele Musikstudenten haben deutlich weniger soziale Kontakte als Studenten anderer Fächer, und die Konkurrenz ist wesentlich größer. Nicht gerade die günstigsten Voraussetzungen, um solche Vorfälle den Kommilitonen zu erzählen – man bleibt viel für sich und leidet alleine.

Ganz besonders isoliert sind viele asiatische Studentinnen und Studenten, die oft an Hochschulen „unter sich“ bleiben.
Es gibt Professoren, die sich diese Studenten daher besonders gerne als „Ziel“ nehmen, da diese als „unkompliziert“ gelten. Da bei vor allem den asiatischen Studentinnen aus kulturellen Gründen die Scham sowie der Respekt vor dem Professor wesentlich größer ist als bei anderen, schweigen sie meistens, wenn ihnen etwas angetan wird. Und da meistens die Eltern das teure Auslandsstudium bezahlen, wollen die Töchter (oder auch Söhne) ihnen Schande ersparen. Das wird perfide ausgenutzt.

Über die Jahrzehnte hat sich ein erstaunliches Machtsystem der übergriffigen Professoren etabliert, das keinerlei Gegenmacht kennt. Im Vergleich dazu gibt es an größeren Universitäten und in den wissenschaftlichen Studiengängen wesentlich mehr Interessengruppen, und die Studentenvertretungen sind größer und einflussreicher. Auch an Unis gibt es (wie überall) sexuelle Übergriffe, aber es ist wesentlich riskanter für die Täter (auch wenn das viele nicht hindert) An Musikhochschulen dagegen hat ein Professor quasi eine Königsmacht, wenn er beruflich genügend vernetzt ist; stets kann er seinen Einfluss in der Musikwelt außerhalb der Hochschule zum Tragen bringen und als Schutzmantel benutzen, sollte es mal Probleme geben.

Die schlimmsten Täter sind daher keineswegs erfolglose und frustrierte Professoren, sondern eher höchst einflussreiche und mächtige Persönlichkeiten des Musiklebens, die sich mangels Kontrolle und Widerstand oft in eine Selbstherrlichkeit hineinsteigern, bei der sie glauben, sich alles erlauben zu können.

Mit einem ersten Betatschen fängt es meist an – die Studentin oder der Student werden „ausgecheckt“, wie reagiert sie/er? Wirkt sie/er ängstlich? Ist mit Widerstand zu rechnen? Gibt es ein Abhängigkeitsverhältnis, das man ausnutzen kann? Mit der Zeit werden die Täter mutiger, sie denken, es sei „ok“ die Studenten in ihre sexuellen Beschaffungsphantasien zu integrieren, sie sehen sie als leicht verfügbares „Frischfleisch“, wesentlich leichter zu manipulieren und kontrollieren, als die Affären und Liebschaften, die jeder dieser „Stars“ sicherlich auch außerhalb der Hochschule haben könnte, ohne dass ein Hahn danach krähen würde.

Es gibt zwar unüberschaubar viele Musiker in Deutschland, aber in der klassischen Musikausbildung hat jedes Studienfach sehr schnell seine eigene „Szene“, die wesentlich kleiner und überschaubarer ist, als viele von außen meinen. Schnell kennt jeder jeden, und es ist absolut üblich, dass ein typisches Musikernetzwerk bundesweit (und international) funktioniert und zahllose andere Hochschulen umfasst. Man empfiehlt sich gegenseitig Studenten, oder ist beleidigt, wenn diese zu den „falschen“ Lehrern abwandern. Überall „menschelt“ ist. Wer als Lehrer einmal in eine bestimmte Liga aufgestiegen ist, wird nicht in einer, sondern in sehr vielen Jurys sein, und stets neue Anfragen für solche Tätigkeiten bekommen. Hierbei wird nie geprüft, wie neutral oder gewissenhaft diese Person als Juror ist.

Tatsächlich beginnt es schon bei „Jugend Musiziert“, dass der Einfluss von bedeutenden Lehrern auf die (oder in der) Jury wesentlich wichtiger sein kann als das tatsächliche Spiel der Wettbewerbsteilnehmer. Ganz wird das auch in einer perfekten Welt nie auszuschließen sein, aber manchmal grenzt diese Macht an eine Form von Selbstherrlichkeit, die in der reinen Wissenschaft so nie existieren kann, da es dort wesentlich neutralere Parameter für die Einschätzung von Befähigungen gibt. Bei Musikern geht es dagegen weniger um die Beurteilung von Fachwissen, sondern um den wesentlich nebulöseren Begriff einer „künstlerischen Persönlichkeit“, auch wenn natürlich technisches Können eine große Rolle spielt. Aber ab einem bestimmten Level der Professionalität sind die Unterschiede zwischen Musikern nur noch sehr subjektiv beurteilbar, manch einer wird von einer Fraktion für ein Genie gehalten, von einer anderen für einen Stümper. Hier kommt die volle Macht der „Könige“ zum Tragen, die in zahllosen Jurys, Gremien und Beiräten ihre eigenen Lieblinge pushen können, oder auch diejenigen unterdrücken können, die bei ihnen in Ungnade gefallen sind.

Wenn ich an mein eigenes Studium zurückdenke, so erinnere ich mich an keine eigenen schlimmen Erlebnisse. Aber ich erinnere mich auch an vieles, das ich damals nicht zu interpretieren wusste. Z.B. an die befreundete Studentin in der Guildhall School in London, die von einem Tag zum anderen plötzlich sehr still wurde und kaum noch in der Kantine zu sehen war. Heute weiß ich, dass sie ein Vergewaltigungsopfer des inzwischen im Gefängnis sitzenden Vergewaltigers Philip Pickett war, einem damals äußerst erfolgreichen Star der Alte-Musik-Szene. Oder die Gesangsstudentin, die mich schon fast verzweifelt dazu aufforderte, mich in der Liedklassenstunde doch als vom Blatt spielender Begleiter zu unterstützen, da ihr Klavierpartner überraschend abgesagt hatte. Heute weiß ich, dass sie nicht alleine mit einem Professor in einem Raum zusammen sein wollte, von dem man inzwischen weiß, dass er sexuell übergriffig war und es auf sie abgesehen hatte.

Wenn ich sehr genau zurückdenke, erinnere ich mich an noch mehr „Geschichten“ die über bestimmte Professoren, ganz selten auch Professorinnen im Umlauf waren. Aber diese Vorfälle passierten nie beim Gruppenunterricht, immer nur in den Einzelstunden, und die Opfer schwiegen meistens, daher erfuhr man oft erst Jahre später, was genau losgewesen war. Manchmal erfuhr man es auch nie, daran hat sich bis heute nichts geändert.

Das Durchbrechen dieses Schweigens kann nur funktionieren, wenn die Opfer zunehmend ihre Stimme finden, wenn Gegenmächte etabliert werden, die den Hochschulbetrieb von außen kritisch hinterfragen können, wenn von außen eingegriffen werden kann, um Opfer zu schützen.

Die Legende, dass an den Musikhochschulen alles gar nicht so schlimm sei, wird vor allem von der männlichen Belegschaft am Leben erhalten, da diese meistens selber keine sexuelle Belästigung erlebt hat und sich daher nicht in Opfer hineinversetzen kann. Daher ist es umso wichtiger, dass Opfer ihre Stimme erheben, entweder anonym oder auch nicht. Wir brauchen mehr seriöse Umfragen und eine genauere Lehrerevaluation, und wenn es hierbei Ergebnisse gibt, sollten diese auch ernst genommen werden und etwas geschehen, anstatt sie zu vertuschen.

Aber vor allem brauchen wir so viel wie mögliche Erfahrungsberichte der Opfer, selbst wenn die Fälle juristisch nicht mehr relevant sind, sie können jetzt helfen, um eine Änderung in der Gegenwart zu bewirken und weitere potentielle Opfer zu verhindern.

Gerne an diesen Blog, gerne auch anonym – wir nehmen dieses Thema sehr ernst.

Moritz Eggert

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4 Antworten

  1. wechselstrom sagt:

    Lieber Moritz,
    Dein Artikel schwankt ein wenig zwischen „Verschwörungstheorie“ und „Rächer der Entrechteten“, wobei vieles, das Du ansprichst seit 50 und mehr Jahren als bekannt gilt, und ebenso als Kolportage weiterlebt.
    Gewissheiten bringen immer nur nachgewiesene Einzelfälle
    Kolportagen kann ich Dir von Wien (Hollaender – Spitzname: Ceaușescu) einige erzählen, da schlackern selbst Dir die Ohren.
    Die MusikstudentInnen richten sich danach, wenn sie als wenig naiv erscheinen wollen und studieren nacdh Möglichkeit bei den berühmten und einflussreichen Profs – oder, falls das nicht gelingt gehen zu ihnen auf Workshops und Weiterbildungsseminaren.
    In der gesamten Klassik-Branche gibt es KEINE Aussenseiterposition, die sich über die 15-Minuten–Grenze halten kann. Es geht immer um Netzwerke (positiv-Seite) und Seilschaften (negativ-Seite) – Du sprichts beides an.
    Was nun die Thematik Kunst und Sex betrifft, so empfehle ich die 2. Staffel von Edgar Reitz´ Heimat-Serie – sie spielt an der Münchner Musikhochschule – und es gibt dort eine Kurzszene zwischen der Huptdarstellerin Lichtblau (Salome Kammer) als Cello-Studentin bei … (erinnerst du Dich?). Reitz hat das sehr stimmig inszeniert. Und in dieser (natürlich gespielten und auch erfundenen) Szene zwischen Schülerin und Cello-Professor tippt Reitz einfühlsam die Problematik im Lehrer – Studentin – und Musik – Ereignisfeld an.

  2. Francesca Tortora sagt:

    Sehr geehrter Herr Eggert, ich war nie ein Opfer von #metoo aber ich kann alles bestätigen, was Sie geschrieben haben. Ich kann fast nicht mehr ein Konzert besuchen, weil ich nicht weiss, welche Geschichten stehen hinter der vielen neuen künstlerischen Persönlichkeiten….

  3. Lieber Christoph, „Kolportage“ ist vielleicht nicht das richtige Wort, auch wenn ich Dir vollkommen Recht gebe, dass nachgewiesene Fälle am meisten zählen und am meisten bewirken. Aber z.B. Levine war jahrzehntelang angeblich „Kolportage“, bis sich herausstellte, dass so hartnäckige Gerüchte meistens nicht von ungefähr kommen. Zur Machtausübung gehören immer zwei – die, die die Macht ausüben, und die, die über sich Macht ausüben lassen. Die meisten Musiker gehören – selten aus freiem Willen – zur zweiten Kategorie. Aber sie schweigen nur aus Angst, nicht, weil es keine Fakten gibt.
    Warum sind Machtpositionen in der klassischen Musik stets so unangefochten, so allgewaltig (siehe „Ceausescu“ – Mausers Spitzname an der Hochschule war übrigens „Silvio“)? An deutschen Musikhochschulen ist es oft üblich, dass sich die Rektoren/Präsidenten ihren eigenen Beirat zusammenstellen dürfen, der sie dann auch natürlich wiederwählt, quasi System Putin. In Österreich ist es glaube ich nicht anders. Warum muss das so sein? Wo sind die Kontrollmechanismen? Auf dies alles gibt es sicherlich keine einfachen Antworten und Rezepte, aber noch nie war die Gelegenheit so günstig, grundlegende Änderungen zu bewirken. Und nur weil es Studentinnen und Studenten gibt, die sich freiwillig auf dieses Spiel einlassen, heißt das noch lange nicht, dass es dann auch nicht schlimm ist, wenn es unfreiwillig geschieht.

  4. k. sagt:

    Lieber Herr Eggert,

    Sie haben ja so recht! Danke für Ihren Mut, das auszusprechen, was ausgesprochen werden muss.