4’33“ – eine Analyse in 273 Teilen
4’33“ – eine Analyse in 273 Teilen
Nach dem großen Erfolg der Beethovenanalyse unseres Bloggers Arno Lücker starten wir nun eine neue Reihe: Jede einzelne Sekunde des Hauptwerkes von John Cage, dem nur scheinbar „stummen“ Klavierstück von Helmut Lachenmanns Lieblingskomponisten (John Cage) mit dem Titel „4’33““ (von John Cage), soll analysiert werden. Besondere Herausforderung dabei: es gibt wenig bis gar keinen Notentext. Wir bewegen uns quasi in das Niemandsland der Musikanalyse – ein Abenteuer also, dass es in dieser Form nur im BAD BLOG OF MUSICK gibt…
Sekunde 1
„Aller Angang ist schwer“ heißt es schon im berühmten Vorwort von Tolkiens „Herr der Ringe“, und das ist insofern bemerkenswert, weil es sich hierbei um ein waschechtes Fake handelt, denn das steht da gar nicht drin. Hier geht es allerdings um einen „Anfang“, gleichsam einen der radikalsten Momente der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Ein Anfang, der vor allem eines ist: Tabubruch. Denn dieser Anfang existiert nicht. Und besteht ein Anfang nicht normalerweise aus …. etwas?
Wir rekapitulieren noch einmal: vor dem Beginn eines Musikstücks herrscht normalerweise – Stille. Zumindest in der kurzen Zeit nach Erfindung des Hustenbonbons und vor der Erfindung des Handys konnte man einigermaßen davon ausgehen, dass dem Beginn eines Stückes eine gewisse Form von Stille vorausgeht. So natürlich auch in diesem Fall.
Ein Pianist tritt auf.
So weit so gut also, und in dieser Form also keineswegs ungewöhnlich. Quod erat demonstrandum, möchte der gebildete Lateiner hier fast sagen, aber es verschlägt ihm natürlich quasi die Stimme, denn vor dem Beginn eines fucking zeitgenössischen Stückes der „klassischen Moderne“ hat man gefälligst seine Fresse zu halten, Digga. Möchte man zumindest meinen.
Ein Pianist setzt sich an den Flügel.
Ein Pianist hebt die Arme.
Er beginnt zu…..NEIN! REINGELEGT!!!!!!!
Aber dennoch: das Stück ist in diesem Moment losgegangen. Echt jetzt. For real. Die erste Sekunde hat begonnen. Es soll nicht die letzte gewesen sein.
Erwartungsvolle Stille ging also dieser legendären Anfangssekunde voraus, und erst im geradezu dringlichen Kontext dieser inneren Erwartungshaltung, also der Haltung, dass nach der erwartungsvollen Stille vor dem Beginn eines Stückes normalerweise das Stück auch beginnt, meistens mit einem suchenden Unisono-Ton, mit dem sich 99% moderner Musikstücke erst einmal selber „finden“ und „sammeln“ müssen, außer sie beginnen eher so krachend und unverschämt, oder mit einem eingeschalteten Metronom, was auch schon irgendwie durch ist, zumindest in Donaueschingen begann tatsächlich ausnahmsweise mal kein Stück mit einem Ton oder einem Metronom, aber wenn es so gewesen wäre, hätte ich es eventuell auch verpasst, da ich ja das Stück von Klaus Schedl singen musste, der übrigens tatsächlich vergessen hat, seinen ADEvantgarde-Mitgliedsbeitrag zu zahlen, woran ich ihn erinnern soll, was vielleicht geschieht, wenn er diesen Artikel liest, wo war ich stehengeblieben?, ach ja: erschließt sich die wahre Genialität Cages im musikalischen Diskurs des 20. Jahrhunderts, aber den Anfang dieses Satzs haben Sie ja ohnehin schon längst vergessen, also kann ich jetzt eigentlich auch irgendwelche wahllosen Verben am Ende bringen, zum Beispiel „gesetzt und stetig gestellt gelegt habend geworden sein“ Punkt.
Was genau ist hier passiert? Das ist natürlich die Frage. Zuerst war da die Stille, und danach ist also….immer noch Stille? Sapperlot! Wie kann das sein? Der Deckel vom Klavier ist tatsächlich….zu. War da was? Wird da was sein?
Wenn dieses Konzept zu kompliziert erscheint, möchte ich es hier gerne noch einmal in anderen Worten darlegen.
Also: Stille vorher.
Stille aber auch (Trommelwirbel)….(Trommelwirbel)….(immer noch Trommelwirbel)…..(der Trommelwirbel hört gar nicht mehr auf, und nun, Achtung:) nachher!
Hier wird also quasi das Konzept des Anfangens an sich hinterfragt, wird dem Anfang eine diskursive Qualität zueigen, die erst einmal verdaut werden muss, aber bitte nicht hier, sondern bei Ihnen zuhause. Danke.
Und das ist halt einfach unglaublich geil radikal, wie der alte Motherfucker John Cage uns auf diese subkutane Weise die grundlegendste Frage überhaupt stellt: Wann ist ein Anfang überhaupt ein Anfang? Wann ist ein Mensch ein Mensch, bzw. Grönemeyer? Hat der Anfang überhaupt stattgefunden? Wird er noch stattfinden? Wird der HSV diesesmal wirklich absteigen?
Gehen wir es an.
Womit wir wieder bei Tolkien und dem Pfeifenkraut wären. Kompliziert, kompliziert. Aber ist das nicht die Aufgabe von Musik?
Nächste Woche: „Die 2. Sekunde“. Und das Neue Jahr hat dann wohl auch schon begonnen.
Moritz Eggert
Komponist