Der Stand der Dinge (4): Der Komponist, das unbekannte Wesen

Manchmal ist es ganz gut, kurz innezuhalten und etwas möglichst nüchtern zu betrachten, ohne einen von Ideologien, falschen Erwartungen oder eigenen Hoffnungen verstellten Blick. Vielleicht ist das neue Design des Bad Blogs ein guter Anlass dazu.
Natürlich gibt es nie einen endgültigen „Stand der Dinge“, alles ist im Fluss. Aber gerade diese Tatsache lässt uns vielleicht manchmal Dinge erwarten, die nicht möglich sind, oder andersherum Dinge übersehen, die durchaus möglich wären.
Hier also ein möglichst emotionsloser Blick auf die Neue Musik, wie sie sich heute, am Ende des Jahres 2016, darstellt. Man möge mir massiv oder zaghaft widersprechen oder zustimmen, nichts an dieser Diskussion ist abgeschlossen oder der Weisheit letzter Schluss, es ist allein ein Versuch einer unsentimentalen Bestandsaufnahme, bei der ich natürlich von eigenen Erfahrungen geprägt bin. Wo diese von Lesern ergänzt, kommentiert oder erweitert würden, begänne es spannend zu werden.

Der Komponist das unbekannte Wesen

Werbung

warhol

Das Berufsbild des Komponisten in der Öffentlichkeit ist bis heute stark geprägt von romantischen Klischees. Als Figur in Filmen oder Romanen tauchen Komponisten selten auf, und wenn, dann meistens auf eine Weise, die so fern von der Wirklichkeit ist, dass es schon fast amüsant ist. Eine der wenigen realistischen Darstellungen eines Komponisten im Alltag der Neuen Musik gelang übrigens Edgar Reitz in seiner „Heimat“-Serie, weil Reitz sich auch privat für Neue Musik interessiert und daher Kenntnisse über den Komponistenberuf hat, die den meisten Menschen fehlen.

Das hat damit zu tun, dass der Vorgang des Komponierens für viele Menschen unverständlich ist. Man kann „verstehen“ wie sich jemand Geschichten ausdenkt, weil jeder schon einmal z.B. eine Gute-Nacht-Geschichte hörte oder seinen Kindern erzählen musste. Man schreibt auch selber alltäglich und kennt den Vorgang der Verschriftlichung von Gedanken. Auch kann sich jeder vorstellen, wie Kunst entsteht, da man als Kind malte und werkte und man daher ungefähr weiß, was grundsätzlich beim Erschaffen von Kunstwerken geschieht, auch wenn einem selber jegliches Talent dafür fehlt.

Der Vorgang des Komponierens aber, der immer mit der Fähigkeit der inneren Vorstellung von Klängen zusammenhängt, ist dagegen für die meisten Menschen undurchschaubar und mysteriös. Wenn man zum Beispiel eine zufällig gewählte Gruppe von Menschen auffordert, sich im Kopf den Klang eines bestimmten Instrumentes vorzustellen, so wird dies nur wenigen gelingen. Wenn es dann um die innerliche Vorstellung von Tonfolgen, Harmonien oder dem Zusammenklang von mehreren Instrumenten geht, werden nur noch ganz wenige Menschen dazu in der Lage sein.

Komponisten sind daher vielen Menschen latent unheimlich, sie sind in gewisser Weise „Freaks“, die sich mit etwas beschäftigen, das man nicht komplett verstehen kann. In der Romantik wurde der Beruf daher quasi ins Mystische verklärt. Sah sich der brave Barock-Komponist noch als untertäniger Arbeiter im Dienste Gottes, bekam man als Komponist nun die Eingebungen direkt von Gott oder von einem unbestimmten Genius, oder wurde selber zum Gott und Weltenschöpfer. Daraus entstand eine irgendwann unerträgliche Hybris des Komponistenberufes, die sich in der weitestgehend areligiösen Moderne in einem neuen Rollenmodell manifestieren musste: dem des „Forschers“, der mit unerschrockenen Klangexperimenten neue Territorien für die Musik „erobert“. Und damit natürlich auch nur ein weiteres Klischee bedient.

Im Zuge des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts gab es daher den dezidierten Versuch, den Komponistenberuf zu entmystifizieren und den Menschen nahezubringen, sicherlich mit dem Hintergedanken, das Neue-Musik-Publikum über den Expertenzirkel hinaus zu erweitern. Viel mehr als die vielen Volkshochschulkurse a la „Komponieren für Laien“ trugen aber davon vollkommen unabhängige technische Entwicklungen dazu bei, den Prozess des Komponierens zu „demokratisieren“ und mehr Menschen nahezubringen. Die Impulse hierfür kamen allerdings aus der populären Musik: in dem Moment in dem Sampler, elektronische Instrumente, fortgeschrittene Software, Studio-Equipment und Laptops auch für Normalverdiener erschwinglich wurden, begann eine neue Art der „Hausmusik“, die weitestgehend ohne Verschriftlichung (Partituren) auskommt, und daher auch keine höhere Bildung mehr benötigt, wie es noch bei der Hausmusik des 19. Jahrhunderts notwendig war, als sich die wohlhabende und gebildete Famile zum Streichquartettspielen zusammenfand. Anders als die frühere Haus-und Salonmusik hat die neue elektronische Hausmusik auch einen wesentlich weniger elitären Anspruch – sie ist jedermann zugänglich und den meisten verständlich, will aber auch meistens keine „Kunst“ sein, sondern dient vornehmlich der Unterhaltung oder neuen Klischees wie dem Erfolg der eigenen „Garagenband“ oder dem Aufstieg vom Nobody zum Casting- oder youtube-Star, ein inzwischen fest in der öffentlichen Vorstellung verankerter Mythos, der von Andy Warhol korrekt mit seinen „15 minutes of fame“ vorhergesehen wurde.

Aber auch für den wackeren „Kunstkomponisten“ hat sich viel verändert. Im Alltag hat er eine fast vollständige Unabhängigkeit von den Strukturen erlangt, die früher der einzige Weg zu einer „Aufführung“ waren. Tatsächlich können sich auch vollkommen geografisch wie sozial isolierte Komponisten überall in der Welt jederzeit „aufführen“, sie brauchen nur ihre Musik auf youtube oder Soundcloud zu teilen.

Mit dieser Entwicklung wurde eine unüberschaubare Flut von Musik auf die Welt losgelassen, die sich täglich vervielfacht. Jeder kann ein Star sein und werden, und sei es nur in einer bestimmten „Szene“ (wie zum Beispiel der avancierten elektronischen Musik, die inzwischen fast ausschließlich im Internet stattfindet). Aber da so viele es wollen und können wird es immer schwieriger, sich aus der unüberschaubaren und täglich wachsenden Masse von größtenteils Hobbykomponisten hervorzuheben.

Die neuen technischen Möglichkeiten haben auch die oben beschriebenen Fähigkeiten eines Komponisten erodiert und entmystifiziert. Jeder kann sich heute Technologie leisten, die einem das Komponieren ohne jegliche innere Vorstellung ermöglichen. Programme wie „Garage Band“ benutzen Presets, die in nullkommanichts einen „Song“ erzeugen können. Jedes Notenprogramm bietet inzwischen einen gigantischen Katalog von „ideas“ an, Melodien, Rhythmen und Akkordfolgen, die man beliebig ein- und zusammensetzen kann, wenn einem selber nichts einfällt. Jeder Mausklick wird sofort in Musik umgesetzt, die MIDi-Simulationen werden immer besser und im Grunde braucht man nur so lange herumprobieren, bis irgendetwas herauskommt. Gleichzeitig ist dadurch die Musik austauschbar und unindividueller geworden. Auch avancierte Programme wie MaxMSP arbeiten mit Modulen, die der Komponist nur noch anordnen muss, ein großer Unterschied zu den Anfängen der elektronischen Musik, als nicht nur die Musik sondern auch die klangliche Realisierung miterfunden werden musste und man bei jedem Stück quasi von vorne anfing.

Interessanterweise haben diese neuen Möglichkeiten das Komponieren weniger beschleunigt als grundlegend verändert. Da vielen dieser neuen Garde von Komponisten die Fähigkeit des inneren Hörens inzwischen völlig abgeht (weil sie nicht mehr grundsätzlich notwendig ist, um überhaupt Komponist zu sein), sind sie darauf angewiesen, sich alles ständig immer wieder vorzuspielen und „auszuprobieren“, was länger dauert, als von einer klaren inneren Vorstellung auszugehen. Auch Komplexität hat ihrem Zauber verloren – saßen Komponisten früher monatelang über gigantischen handgeschriebenen Partiturseiten, die Staunen und Ehrfurcht hervorriefen, sind heute ultrakomplexe Partituren selbst für relativ faule Komponisten leicht herzustellen. Auch müssen sie diese nicht mehr auf Praxistauglichkeit (also Aufführung durch lebendige Musiker) überprüfen, der Computer spielt ihnen auch die absurdesten Anhäufungen von Schwierigkeiten vor als seien diese keine Problem. Der Musiker – sodenn er die so entstandenen Stücke überhaupt noch spielt – wird zunehmend zum immer unwilliger werdenden Erfüllungsgehilfen eines abstrakten Gesamtgedankens oder „Konzepts“. individueller Ausdruck wie Phrasierung oder Rubato ist kaum noch gefragt, da dieser in den Computerpartituren kaum eine Rolle spielt, außer als „humanizing“-Algorithmus bei der MIDI-Simulation.

Mit dieser Entwicklung einher geht eine Vergrößerung der ohnehin schon latenten Entfremdung von ausübenden Musikern und Komponisten. Letztere sind nicht mehr auf die Gnade der ersteren angewiesen (schon ein Nancarrow entschied sich, komplett auf Musiker zu verzichten und schuf dennoch ein ernstzunehmendes Werk), es fehlt den Komponisten dann aber auch oft die Erfahrung der praktischen Umsetzung von Musik, was die Musik zunehmend abstrakter und „virtueller“, oft auch dürftig macht. Was Befreiung ermöglichen sollte, führt also gerade im Fall von Neuer Musik erneut zu einer Isolierung innerhalb einer Expertenszene, nur mit anderen Mitteln als früher. Und der vormals seltene Komponist, der aus einer inneren Notwendigkeit heraus mit den Klängen in seinem Kopf ringt, reiht sich ein in eine Phalanx von Amateuren, die es ihm gleichtun, nicht im Dienste eines abgehobenen Kunstgedankens sondern als gehobene Freizeitbeschäftigung.

Der Stand der Dinge

– nie gab es so viele „Komponisten“ wie heute

– die Verfügbarkeit von kompositorischen Hilfsmitteln für die größere Masse führt zu einer zunehmenden Entindividualisierung des musikalischen Ausdrucks

– die Voraussetzungen für das Komponieren an sich haben sich verändert

– Das heutige Komponieren legt den Fokus auf das „Zusammensetzen“ oder „Arrangieren“

Moritz Eggert