Der Stand der Dinge (1): Begriffsverwirrung
Der Stand der Dinge (1: Begriffsverwirrung)
Manchmal ist es ganz gut, kurz innezuhalten und etwas möglichst nüchtern zu betrachten, ohne einen von Ideologien, falschen Erwartungen oder eigenen Hoffnungen verstellten Blick. Vielleicht ist das neue Design des Bad Blogs ein guter Anlass dazu.
Natürlich gibt es nie einen endgültigen „Stand der Dinge“, alles ist im Fluss. Aber gerade diese Tatsache lässt uns vielleicht manchmal Dinge erwarten, die nicht möglich sind, oder andersherum Dinge übersehen, die durchaus möglich wären.
Hier also ein möglichst emotionsloser Blick auf die Neue Musik, wie sie sich heute, am Ende des Jahres 2016, darstellt. Man möge mir massiv oder zaghaft widersprechen oder zustimmen, nichts an dieser Diskussion ist abgeschlossen oder der Weisheit letzter Schluss, es ist allein ein Versuch einer unsentimentalen Bestandsaufnahme, bei der ich natürlich von eigenen Erfahrungen geprägt bin. Wo diese von Lesern ergänzt, kommentiert oder erweitert würden, begänne es spannend zu werden.
Teil 1: Begriffsverwirrung
Zuerst einmal muss man feststellen, dass der Begriff „Neue Musik“ mit großem „N“ einer geradezu beispiellosen Erosion ausgesetzt war und eigentlich inzwischen mehr Verwirrung als notwendige Identifikation stiftet. Es gab „Austritte“ aus der „Neuen Musik“ zuhauf und kaum jemand aus der jungen Komponistengeneration kann sich noch komplett hinter die adornitische Prägung dieses Begriffs stellen, ohne rot zu werden. Außerhalb der „Szene“ hat der Begriff auch keinerlei Bedeutung, wird noch nicht Mal ansatzweise begriffen in seiner komplexen historischen Ausformung und Dimension. Selbst unter „Teilchenforschung“ kann sich der Durchschnittsbürger noch irgendetwas vorstellen, bei „Neuer Musik“ dagegen denkt er allein an Lady Gaga und Popularmusik.
Der Hilfsbegriff „zeitgenössische Musik“ oder – noch hilfloser – „Gegenwartsmusik“ taugt nicht wirklich als Ersatz, „zeitgenössisch“ klingt wenigstens einigermaßen „intellektuell“ (und damit für die meisten abschreckend genug), sodass viele Hörer zumindest ahnen, dass es sich um etwas Anspruchsvolleres handeln könnte ( oder um etwas „Schräges“). Gegenwartsmusik wiederum könnte alles mögliche sein, wie auch „neue Musik“ mit kleinem „n“.
Nach wie vor ist also der Deckbegriff „klassische Musik“ von Bedeutung, denn zumindest stellt er klar, dass es sich hier um etwas handelt, das auch an Akademien gelehrt wird und möglicherweise einer speziellen Ausbildung bedarf, was einer der Hauptunterschiede zur größtenteils autodidaktischen „Restmusik“ ist. Da beißt die Maus keinen Faden ab – 99.9% der Musik auf diesem Planeten wird von Autodidakten gemacht und erfunden, deren musikalisches Grundwissen allein durch Aneignung als „Hobby“ oder durch „Machen“ entstand, sei es durch Privatunterricht, Musikschulunterricht oder gar keinen Unterricht. Dies sagt natürlich keineswegs etwas über die Qualität oder den „Wert“ dieser Musik aus (ein Denkfehler, dem akademisch geschulte Musiker leider bis heute als einer Art Elitegedanken nachhängen), nur über deren Umfeld. Diese Autodidakten haben meistens keinerlei spezielles Fachwissen sondern handeln vorwiegend intuitiv. Sie können daher auch davon ausgehen, dass keinerlei Vorbildung notwendig ist, um ihre Musik zu genießen, da der einzige Unterschied von „Machern“ zu „Hörern“ allein Hingabe an die Sache ist, ohne dass ein esoterisches Fachwissen dazwischen kommt. Dieses entsteht allein innerhalb eines „Genres“ wie zum Beispiel „Heavy Metal“, ist aber letztlich wesentlich leichter zu erlangen, denn man muss keine langjährige Ausbildung hinter sich bringen, um zum „Geek“ zu werden, es reicht das ausdauernd unangeleitete Stöbern in Internet-Foren oder der soziale Austausch mit Gleichgesinnten.
Bei „klassischen“ Musikern dagegen wird eine spezialisierte Ausbildung angenommen und sogar vorausgesetzt. Wie bei allen Spezialisierungen sind dabei zunehmend der Leistungsgesellschaft geschuldete Phänomene zu beobachten, die sich fachübergreifend erstaunlich ähneln. So gleicht die heutige Ausbildung an Musikhochschulen eindeutig einer Ausbildung im Leistungssport. Konkurrenz und das Erreichen von „Rekorden“ (=Gewinn von Wettbewerben, Förderungen und Stipendien) scheinen die Hauptmotivation zu sein, ein klassisches Instrument an einer Musikhochschule zu studieren. Und das Können, das durch das stupide Wiederholen von Übungen entsteht, wird hoch bewertet, man muss schnell und fehlerfrei spielen können. Der „Wert“ von klassischer Musik, die inzwischen quasi sinnentleert als reiner Museumsbetrieb vor sich hinvegetiert, definiert sich entweder im Wettlauf um eine „abgesicherte“ Beamtenstelle, die es einem erlaubt, sich wenigstens mit vergleichsweise schöneren Dingen zu beschäftigen als die meisten anderen Beamten, oder in der Sehnsucht nach einem populären Erfolg, bei dem man quasi die Sache selber so herrunterbrechen muss, dass man sie verrät und letztlich vernichtet (siehe David Garrett oder André Rieu).
Auch wenn die (akademische) Neue Musik sich gerne von diesem immer frustrierenderen Umfeld absetzen möchte, sie ist mitgehangen und mitgefangen und funktioniert nach genau denselben Mechanismen bis hin zu den Parallelen zum Leistungssport (Kompositionswettbewerbe, aus welchem „Stall“ kommt man, wie viele Stipendien hat man gesammelt. etc.). Nur so ist auch die neuere Richtung der „New Classical Music“ zu begreifen, die im Allgemeinverständnis als eine Art „gut klingende zeitgenössische Musik“ begriffen wird, und eine seltsame Melange aus bestimmten Formen populärer Filmmusik sowie einer guten Portion kalkulierten Kitsches darstellt. Insofern ist ein Ludovico Einaudi nichts anderes als ein David Garrett mit anderen Mitteln und besetzt eine ähnliche ökologische Nische, in der die Idee „kommerzieller Erfolg = künstlerische Relevanz“ eine Rolle spielt. Wie gesagt: mitgefangen, mitgehangen, das Umfeld ist dasselbe, also ähneln sich auch die Mechanismen des „Erfolges“.
Dennoch ist es den meisten „Neuen“ Komponisten wesentlich wichtiger, im akademischen Umfeld Ehrungen und Anerkennung zu erringen, als tatsächlich Hörer zu begeistern oder emotional aufzuwühlen (was man Garrett und Einaudi in ihrer künstlerischen Hilflosigkeit dann doch nicht absprechen kann).
Für den akademischen Kompositionsstudenten ist es nicht so wichtig, die eigene Musik zu lieben oder in ihr aufzugehen (wie es die Autodidakten automatisch tun), da er beständig „fachlich“, nicht emotional bewertet wird. Kaum ein Akademiker liest gerne Doktorarbeiten, weiß aber, dass man sie schreiben muss, um den eigenen Status zu verbessern. Die Arbeit und der daraus resultierende Statusgewinn sind wichtiger als das Resultat der Arbeit, bei einem Kunstwerk ist dieser Ansatz aber fatal. Wogegen Doktorarbeiten Erkenntnisgewinn bringen können, bleibt das statusfixierte und auf gute Benotung/Bewertung schielende akademische Kunstwerk oft Totgeburt, denn es fehlt ihm schlicht und einfach der authentische Impuls der inneren Notwendigkeit, der jeder großen Kunst zu eigen ist, und klüger macht es am Ende auch nicht (auch wenn sich das viele akademische Komponisten gerne kunstvoll einreden).
Dass die „Neue Musik“ und damit das Kompositionsstudium an einer Musikhochschule in diesem Umfeld etwas eigenes darstellt, drückt vielleicht am ehesten der Hilfsbegriff „Kunstmusik“ aus. In gewisser Weise gibt es Parallelen zur Ausbildung an einer Akademie der Bildenden Künste: es gibt „Meister“ und „Lehrlinge“ und die Kunst entsteht im Spannungsfeld zwischen Traditionsbewusstsein und notwendigem Ketzertum des „Experiments“. Aber an einer Kunsthochschule ticken alle Studenten ähnlich, es gibt klare Unterschiede zu „angewandter Kunst“ (also Hochschulen für Design zum Beispiel). An einer Musikhochschule wird dagegen vorwiegend pädagogisch ausgebildet (Schulmusik), d.h. man bildet neue Lehrende aus, oder man trainiert Hochleistungs- (Stars) oder Profi-(Orchestermusiker, Chorsänger)-Instrumentalisten und Sänger. Der Kunstbegriff steht hier nicht im Vordergrund sondern eine Verpflichtung gegenüber einer komplexen Tradition und einer ebenso komplexen Praxis, die viel Zeitaufwand und frühen Drill erfordert, der meist nur in höheren Schichten ermöglicht werden kann.
Der Stand der Dinge:
– Die „Neue Musik“ ist bisher erfolglos auf der Suche nach einem neuen identitätsstiftenden Begriff, der dringend notwendig scheint
– sie findet vor allem in einem akademisch kompetitiven und hochspezialisiertem Umfeld statt, das – aus einer Vielzahl von Gründen – vielen Bevölkerungsschichten nicht zugänglich ist und einen hohen Grad von Gängelung, Leistungsdruck, Kunstfremdheit und Unfreiheit besitzt.
Moritz Eggert
Weiterführende Lektüre: Harry Lehmann, „Die digitale Revolution der Musik: Eine Musikphilosophie“
Komponist
@Moritz: „Kunstmusik“ wäre meiner Meinung nach der richtige Begriff, den der „Neuen Musik“, der spätestens mit dem Mauerfall, also dem „offiziellen“ Ende der Nachkriegszeit, eigentlich aber schon seit den 1970er-Jahren, obsolet wurde, zu beerben.
Als komponierender Autodidakt habe ich natürlich keine Erfahrungen mit dem Musikhochschulbetrieb, aber man stelle sich vor, eine kleine Minderheit angehender bildender Künstler wäre mit einer Masse angehender Kunstrestauratoren und Studenten der Kunstgeschichte in eine Institution gesperrt. Natürlich würden die Kunststudenten von letzteren sofort als „Nichtskönner“ und „Wichtigtuer“, wenn nicht „Größenwahnsinnige“ abgekanzelt werden – oft gar nicht mal aus böser Absicht heraus, denn für einen angehenden Kirchenmaler, für den allein Technik zählt, ist bsp.weise ein Künstler, der hauptsächlich mit Fotografie arbeitet, einfach eine Null.
In exakt dieser Situation scheinen sich aber Kompositionsstudenten an Musikhochschulen zu befinden: Sie dürften dort außerhalb ihres kleinen Zirkels kaum jemanden finden, der mit ihnen über musikästhetische, geschweige denn allgemeine Fragen der Ästhetik diskutieren möchte – denn weder für angehende Orchestermusiker noch für angehende Musiklehrer „bringt“ das was.
Freue mich auf deine weiteren Artikel in dieser Reihe :-)
Du beschreibst das sehr richtig, Stefan, es hängt mit der Konstellation an den Hochschulen zusammen. Wobei sich die Frage stellt: warum werden die meisten Studenten allein als „Restaurateure“ ausgebildet und nicht als selbstständige Künstler?
@Moritz: Gute Frage. Nächste Frage. ;-)
Sehr schön geschrieben Moritz! Da ahnt man wirklich eine große Liebe an die Musik trotz der scharfen Kritik an deren jetzigen Umfeld im akademischen Kreis.
Ich würde gern hinzufügen, dass man das Fachwissen der studierten Musiker/Komponisten vielleicht als „anerkanntes Fachwissen“ bezeichnen kann, denn sicherlich besteht in jeder musikalischer Genre eine Menge Wissen, das man auch als Fachwissen bezeichnen könnte, obwohl ein anerkannter Studiengang nicht die richtige Methode ist, sich jenes Wissen anzueignen.
Erschreckend sehe ich auch, genau wie Du, die Tendenz an Hochschulen, Musiker und bestimmt auch Komponisten, wie Leistungssportler zu drillen. Es wird mit Simulatoren experimentiert. Das Studienfeld „Musik und Bewegung“ spielt plötzlich eine Hauptrolle in vielen Studiengängen, als ob Menschen sich nicht in aller Zeit bewegt haben, um zu musizieren. Der Unterschied ist, dass Bewegung jetzt vorgeschrieben wird, was eigentlich den Studenten nur erschwert, ihre eigene ästhetische Vorstellungen durch ein natürliches Verhalten des Körpers auszuprobieren. Mit der Beibehaltung des Meister-Lehrlings Verhältnis (was du angesprochen hast) entsteht notwendigerweise auch der Wunsch bei den Studenten, sich richtig zu verhalten, da das Streben nach Anerkennung nicht in den vorhandenen Strukturen wegzudenken ist, wobei viele Professoren sich die Haare bei dem Versuch raufen, die Studenten zu Natürlichkeit aufzufordern.
Auf jeden Fall ist es eine wichtige Aufgabe, den Kunstbegriff so zu formen, das nach einem ästhetischem Ideal und nicht nach Anerkennung gestrebt werden kann. Das würde aber wahrscheinlich auch mit sich bringen, dass die Wichtigkeit und der Elitismus, die um dem akademischen musikalischen Umfeld herum schweben, angegriffen werden und jene Musikrichtung, was es schließlich ist, auf der Niveau der Musik der Autodidakten in gewisser Hinsicht heruntergebracht wird. Da muss man die Frage stellen, wer wünscht sich wirklich eine solche Veränderung?