op. 111 – Eine Analyse in 335 Teilen – Takt 7
„It’s a Long Way to Tipperary“ hieß es schon dereinst 1912 bei Jack Judge… Doch angesichts van Ludwig von Beethovens letzter Klaviersonate c-Moll op. 111 heißt es einfach: Durchhalten! Nur noch 328 Takte – vorangegangen waren also die Takte 1, 2, 3, 4, 5 und 6.
Nach den Hammersprüngen der ersten Takte scheint sich die Lage also mit Eintritt des sechsten Taktes irgendwie zu beruhigen. Jedenfalls wird das Ganze ab hier leiser – in unserem heutigen Takt heißt es sogar dann „Pianissimo“. Klar, wird gemacht!
Die chromatischen Akkordharmonie-Spielereien, die sich schon im sechsten Takt andeuteten, werden weiter konsequent fortgesetzt, ja, auf eine Weise sogar radikalisiert. Denn gab es in Takt 6 noch so etwas wie eine „Oberstimmen-Melodie“ (b2 – as2 – ges2), friert diese mit Takt 7 erst einmal vollständig ein – und verharrt eiskalt kauernd auf dem Ton ges2.
„Kalt“ ist das Ganze aber nicht. Ich selbst empfinde es-Moll als eine der „wärmsten“ Moll-Tonarten überhaupt; ein leises es-Moll in mittlerer Lage klingt für mich fast sanft, nicht trauernd, sondern sinnend – und sehr ins Innere gekehrt. Aber im Sinne einer frohgemuten Innenansicht, einer sentimentalen aber dankbaren Erinnerung. (Okay, meine es-Moll-Fantasien sind natürlich besonders von einem Stück geprägt, nämlich von dem es-Moll-Präludium aus dem ersten Band von Bachs „Wohltemperiertn Clavier“. Es ist einfach diese in mir immer präsente beziehungsweise in Bereitschaft stehende, stets abrufbare, nein: untergründig einfach daseiende Musik und die damit unumwunden verbundene, erinnernde Verinnerlichung selbst, die mein es-Moll-Gefühl bestimmt.)
Unter dem ges2-Deckmantel gibt es aber Einiges an „heimlichen Bewegungen“: Der noch vom Vortakt („Ich hätte gerne ein Brot vom Vortakt!“) stammende verminderte Septakkord wird in Takt 7 kurz bestätigt, um dann durch chromatische Bewegungen in der Unter- und in einer der Mittelstimmen gleich zu einem es-Moll-Quartsextakkord in Terzlage (jaja, Fachchinesisch, aber: egal, hey!) zu werden.
Und noch einmal passiert es: Die vierte Zählzeit bringt wieder eine neue Harmonie (nämlich – klingend gesprochen – einen Ces-Dur-Dominantseptakkord), vorbereitet durch eine diese neue Harmonie antizipierende Punktierung. Die scharfen Punktierungen des Beginns, diese revolutionäre Wut Beethovens: alles bleibt also, nur nicht mehr unbedingt als „Wut“, sondern jetzt durch radikale Verengung des Ambitus auf der Klaviatur und durch die geforderte Stille der Stelle als fast schon intim zu Nennendes gleichsam verwandelt!
Auf der letzten Punktierung unseres heutigen Taktes wird noch einmal das Mittel der chromatischen Verschiebung innerhalb einer „stehenden“ Akkordkette bemüht; dieses Mal nur in der Unterstimme. Es resultiert der gleiche verminderte Septakkord, der uns am Ende der letzten Folge punktiert „Tschüss“ (nein, eher: „tschüHÜSS„) gesagt hatte…
Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.