Alle Komponisten müssen sterben
Ganz ehrlich? Ich mag keine generationsspezifische Nostalgie. „Hihi, weißt du noch, wie wir ‚Die drei Fragezeichen‘ auf Kassette gehört haben?“ und so weiter… Abgesehen davon, dass wir „Die drei Fragezeichen“ als Kinder nicht hören durften, weil: zu brutal. Kein Spaß.
Ich erinnere mich, wie ich Anfang der „Nullerjahre“ Florian Illies‘ „Generation Golf“ gelesen habe und mich auf einer Tournee mit den „Breisacher Glasperlenspielern“ – ja, ich gehörte diesem legendären Ensemble einst an, wir spielten Neue Musik auf Glasharfe, mit zehn Mann! – mit einem der Mitspieler darüber unterhielt. In diesem Moment fällt mir sogar sein voller Name ein. Ich habe an diesen – recht unscheinbaren – Menschen bestimmt viele Jahre nicht gedacht. („Kennen Sie das? Wenn Ihnen auffällt, dass Sie an eine bestimmte Person viele viele Jahre nicht mehr gedacht haben – und in dem Moment, wo Sie sich daran erinnern, erschüttert es Sie ein klein wenig?“) Dieser Dings wollte mir partout nicht glauben, dass ich alles in diesem damals häufig gelesenen Buch nachvollziehen, mich an alles erinnern konnte. Er, Jahrgang 1975, bestand geradezu agressiv darauf, ich – Jahrgang 1979 – sei für den Nachvollzug aller Illieschen Gedanken einfach zu jung. Selten war mir bis dato ein so überraschender aber beharrlicher Widerspruch untergekommen. Und selten hatte ich so wenig Lust, dem zu begegnen. Ich streite mich doch nicht um solche Details!
Egal. Echt egal jetzt. Ich winde mich nur gerade. So ein bisschen Generationen-Nostalgie ist schon in Ordnung. Das ist dann schon in Ordnung, hey! Echt jetzt. Ich wehre mich nur gerne dagegen. Was wiederum schon wieder mega mainstreamig ist. So, in dem Moment spüre ich eine leichte Depression den Raum betreten.
Ich bin jedenfalls ein Kind der Kassettengeneration. Kassetten waren die härteste Ware meiner Kindheit. Wir bezahlten ALLES mit Kassetten: Drogen, Autos, Frauen. Auch Blödsinn. Ich wollte übrigens immer Detektiv werden. Doch darüber an anderer Stelle. (Ich möchte manchmal immer noch Detektiv werden übrigens! Wer da Quereinsteigerchancen für mich sieht: gerne her damit.)
Von unseren Eltern bekamen wir diese speziellen Kassetten: „Mozart für Kinder“, „Chopin für Kinder“, „Tschaikowsky für Kinder“ – erzählt von Karlheinz Böhm. Wobei ich sicher bin, dass der schlimme Herr Putin – ich möchte mich für den folgenden, wie immer schlechten Witz an dieser Stelle bereits entschuldigen – findet, dass Tschaikowsky bestimmt nichts „für Kinder“ ist, haha!
Nein, eigentlich sind/waren diese Kassetten nichts für Kinder. Diese Kassetten waren die Hölle. Gefühlt alle Erzählungen des Lebens dieser Komponisten liefen spätestens mit Beginn der Seite B auf die Dahinsiechungsgeschichte, also die Frage hinaus: „So, liebe Kinder, wollt ihr wissen, wie der feinfühlige Herr Tschaikowsky krepiert ist?“
„Ja“, schreien die Kinder, „wir lieben den Tod und alles, was damit zusammenhängt und wollen uns möglichst früh damit beschäftigen, damit wir nachher nicht verwundert sind, wenn Opi stirbt!“
Wirklich, ich – als hochsensibles Kind – habe unter diesen Kassetten gelitten. Der Tod der Komponisten nimmt in der Tat – oder irre ich mich? – einen quantitativ extremen krassen Raum auf diesen Kassetten ein.
Ich werde nie folgenden Satz vergessen: „Jetzt konnte nur noch ein kochend heißes Bad helfen!“ Natürlich genussvoll für die Kleinen am heimischen Gerät ergänzt durch: „Doch, vergebens. Frédéric Chopin starb am 17. Oktober 1849 – im Alter von nur 39 Jahren!“
Ich möchte das jetzt ernsthaft hier mal feststellen: Diese Kassetten sind Teufelswerk! Die haben mir als Kind große Angst gemacht. Ich klage an!
Keiner behauptet, man solle Kinder nicht mit dem Thema „Tod“ konfrontieren. Doch wie konnte es passieren, dass ganze Generationen von Kindern aus Musikerfamilien in den frühen 1980er Jahren durch diese Karlhein-Böhm-Komponisten-für-Kinder-Kassetten verschreckt und traumatisiert wurden?
Als ich dann irgendwann daran Gefallen fand, eigene kleine Kompositionen zu notieren, war stets ein Schatten des schlechten Gewissens im Raum anwesend: „Wenn du Komponist wirst, stirbst du früh! Wie Mozart, Schubert und Chopin!“ Komponieren: eine tödliche Angelegenheit!
Andererseits wurde dieser Schatten schlechten Gewissens („Mit jeder Note, die ich zu Papier bringe, schade ich meiner Gesundheit!“ oder, wie es Harald Schmidt einst ausdrückte: „Syphilis – eine alte Musikerkrankheit“) durch einen anderen Gedanken überlagert: eine Zeit lang gedachte ich Komponist zu werden, weil ich mich – „mit Erlaubnis“ sozusagen – so benehmen wollte wie Beethoven, von dem ich gelesen hatte, dass er durch Parks ging und laute schimpfte oder laut lachte, wenn ihm ein schöner Einfall kam – und alle akzeptierten das, weil: Künstler!
Gibt es diese Horror-Kassetten eigentlich noch?
Vielleicht waren die ja auch toll. Vielleicht ist es richtig, dass man Kindern Komponistenbiographien so nahe bringt: „Kinder, mit zwölf Jahren war klar, dass Mozart megafrüh sein Requiem schreiben wird – und dann: Bumms, aus, tot!“ Vielleicht auch nicht.
Wir haben jedenfalls jedes Mal geweint, wenn Schubert starb. Immer und immer wieder!
Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.
Eine Antwort
[…] noch schrieb ich über Kassetten, in denen die Biographien von Komponisten für Kinder erzählt werden – mit einem […]