Junges Publikum durch Verbote oder Vermittlung?
Das Bayerische Staatsorchester, welches normalerweise im Graben des Münchener Nationaltheaters die Musik zum Bühnengeschehen angibt, ist aktuell auf dem Weg zu einer Konzerttournee nach Kaschmir, des von Indien wie Pakistan gleichermaßen beanspruchten Bundesstaates des Subkontinents, von beiden kriegerisch aufgeteilt und repressiv besetzt. Somit hat der erste Besuch eines großen europäischen Orchesters unter der Leitung des berühmtesten indischen Dirigenten eine gewisse politische Brisanz in den Augen des Teiles der Kaschmiris, die mit Pakistan sympathisieren. Zwar hat dies andererseits auch einen Touch von Weltfrieden und Völkerverständigung. Das interessiert die Gegner des Gastspiels nicht besonders, gerade wo westliche Musik im Gegensatz zu China, Korea und Japan in Pakistan, Indien und Kaschmir ziemlich unbekannt ist. Konkret fordert. Kein Wunder, dass der Hardliner in Fragen der Zugehörigkeit Kaschmirs zu Pakistan, Syed Ali Shah Geelani eine Art moralisches Ausgehverbot für den Konzertsamstag einfordert, das bei Predigten der Freitagsgebete von den Kanzeln der kaschmirischen Moscheen durch die Geistlichen verkündet werden soll. Was auch immer passieren mag: möge es glimpflich und ruhig verlaufen, ja, soll es doch ein Erfolg wie das Gastspiel der Oper Köln in der kurdischen Stadt Sulaimaniyya im Irak werden!
Ein Ausgehverbot für ein Konzert mit klassischer Musik. Dies ist interkulturell für uns Westler erst einmal schwer nachvollziehbar. Welches halbwegs an Bildung interessierte Elternhaus wäre nicht stolz, wenn seine Kinder verkünden würden in ein Klassikkonzert, gar in die Oper gehen zu wollen? Verbote werden in unserem Kulturkreis für unsere Jugendlichen in Bezug auf Musik nur in Richtung Diskothekenbesuch ohne Erwachsene oder deren Zustimmung sowie Drogen und Alkoholkonsum ausgesprochen und durchgesetzt. Brave Kinder halten sich daran. Die meisten allerdings werden versuchen, diese Verbote verdeckt oder offen zu durchbrechen. Oder sie sehnen den Geburtstag herbei, der sie in diesen Sachen von den Tabus befreit.
Nun wissen wir Musikprofis oder zumindest an ihr intensiv Interessierte, welche pädagogischen Mühen unternommen werden, um Kinder und Jugendliche an die klassische Musik heranzuführen. Da bekommt jedes Kind ein Instrument, ist Musik zum Anfassen, gibt es Bläser-, Streicher- und Singklassen, werden Konzert- und Opernbesuche gemeinsam unter Aufsicht von Schullehrern durchgeführt, wird erklärt und vermittelt, dass man vor lauter Hinweisen und Ratschlägen, was wie wo wann zu sehen und hören sei, als Jugendlicher nicht wirklich Begeisterung für diese pädagogische Kraftanstrengung aufbringt. Wer es dennoch mit Freude annimmt, ist entweder jung und cliquenungebunden, spielt und singt seit eh und je in privaten, kirchlichen oder schulischen Ensembles freiwillig mit, verlässt Geburtspartys brav zur ausgemachten Uhrzeit, bringt auch dorthin seine eigenen Hausschuhe mit, liest Cicero außerhalb des Unterrichts, schleppt selbst ins Skilager Mozarttaschenpartituren mit, hat im iPod die Walküre. Und gilt dem Rest der Anderen als Freak. Und wird wohl auch von den Pädagogen nicht sonderlich gemocht, da er oder sie immer komische Fragen stellt, die weit über den Stoff hinausgehen.
Wäre diesen wissbegierigen Freaks nicht geholfen, wenn an Stelle von Diskotheken und Alkohol der Besuch von Oper und Konzert mit schweren Strafen belegt wäre? Umstrittene Operninszenierungen sind vielleicht sogar in ganz seltenen Fällen für Besucher unter 18 Jahren tabu, was die Sache dennoch nicht begehrter bei den Betroffenen macht. Ein Generalverbot für gewisse Altersgruppen würde aber viel eher diese anziehen, die uns allzu oft fehlen. Man stelle sich vor, wie Jugendliche zu ihrem 18. Geburtstag zitternd eine Karte für die Berliner Philharmoniker oder das Stadttheater Augsburg erwerben würden. Wie die oben beschriebenen Freaks die absoluten Helden wären, die von den Geheimnissen klassischer Musik raunen, welche den anderen noch verborgen bleiben. Aber was baue ich für Luftschlösser auf!
Denn es gibt sehr wohl gut gemeinte, doch mehr als überflüssige moralisch-pädagogische Verbote, zumindest seitens mancher Instrumentallehrer: Mozart erst mit 10, Beethoven mit 12, Neue Musik bei einem anderen Lehrer, etc. Immerhin spornt dies die aufgeweckteren Schüler an, doch mal vor Ablauf der Verbotsfristen in den heimischen Notenschrank danach zu greifen. Wenn ich an mich zurückdenke, hörte ich Tristan und Isolde nur heimlich, klimperte so leise als möglich im Klavierauszug – um meine Eltern mit 11 nicht über Gebühr zu beunruhigen. Auch war genau diese Werk ja im 19. Jahrhundert wohl Inhalt manch elterlicher Giftschränke. Aber wie groß könnte all diesen Abschweifungen zum Trotz der Reiz von klassischer, romantischer und moderner Musik sein, wenn ihr Genuß wie Zigaretten, Club und weiteres reglementiert wäre? Man könnte sie dann auch weniger per Vermittlung denn per Aufklärung unterrichten. Klassik mit der Spannung von Sexualkunde! Statt „man habe immer einen Gummi dabei“ hieße es dann, dass man „ganz vorsichtig die Ohrstöpsel einführe, um das Finale von Bruckners Fünfte mit all den kontrapunktischen Orgasmen mit seiner ganzen Liebe zu erfüllen.
Aber was soll es! Ob Verbot oder Goodwill-Gebot, jenseits von weit präpubertärer Offenheit für jede Art von frischen Musikerlebnissen ist es wichtig, auch als Jugendlicher sich diese Offenheit entgegen all den alterstypischen Normen und Zwängen individuell zuzugestehen. Denn in dieser kleinen Freiheit entdeckt man die Lebendigkeit von Kunstmusik wie man auch die Kraft mancher Clubmusik durch die Glieder fahren lässt, auf die Sprengkraft von Songs und ihren Texten anspringt. Wenn Musik als Freiraum und nicht als pädagogischer Zwang, bis zum Exzess vermittelt, erlebt werden kann, gewinnt sie unter Umständen ganz von allein neue Freunde.
Komponist*in