Wie aussagekräftig sind Musikkritiken? Heute: Michel van der Aa.
Michel van der Aa ist ein erfolgreicher holländischer Kollege. Und gerade hatte seine Oper „Sunken Garden“ im Londoner Barbican Premiere. Aber wie war es denn nun?
Lesen wir doch mal die Kritiken:
Michael Church, The Independent: Das verschrobene Libretto bewirkt, dass wir weder wissen noch uns dafür interessieren, um was es hier eigentlich geht – der Schmalz wird eimerweise ausgekippt, so viel ist sicher.
Anne Ozorio, Opera Today: Ein Gesamtkunstwerk für’s Technologiezeitalter….eine echte Oper in jedem Sinne des Wortes.
Andrew Clements, The Guardian: Die Gesangslinien sind banal….manche Texte die er für die Figuren geschrieben hat, sind nahe am Klischee. Am Ende wird keine Person lebendig….Das Ganze ist weder bewegend noch berührend.
Steve Smith, The New York Times: Eine anregende Kombination von Live-Performance und Kino, auf subtile und unterhaltende Weise verschmelzend….Ohne Zweifel ein mutiges und lohnendes Unternehmen.
Barry Millington, London Evening Standard: Nicht nur, dass der Text von einer zeheneinrollenden Banalität ist –die Musik kommt dem in ihrer Nichtigkeit absolut gleich….ein synthetischer Schmodder….ein lustloses Ausstaffieren von Musik, Text und Bühnenhandlung….
Paul Kilbey, Bachtrack: Van der Aa verschmilzt Elemente von Tanzmusik mit seiner erstaunlich authentischen und effektiven Partitur….ein wirklich bemerkenswertes Meisterwerk.
Andrew Clark, Financial Times: Der 43-jährige holländische Komponist ist ein monochromer Orchestrator, seine Vokalmusik gewöhnlich und einfallslos….es gibt fast gar keine musikalische Spannung….Es handelt sich um trendiges Kunsthandwerk anstatt um die Zukunft der Oper.
Dominic Wells, Opera Britannia: Van der Aa schreibt unglaublich gut für Stimme…vielleicht die perfekteste Synthese von Bild und Klang die ich jemals in einem Opernhaus gesehen habe.
Rupert Christiansen, The Telegraph: Selten in meinem Leben war ich gezwungen etwas so toxisch Aufgeblasenes zu erleben wie der Quatsch, den diese Sache fabrizierte….Die Musik war absolut grauenerregend….Hemmungsloser Blödsinn.
Brian Dickie, retired opera impresario: Eine brilliante Leistung in technischer Ausführung. (Aa) ist ganz sicher ein gewichtiger Komponist, und man wird (und muss) sich in Zukunft nach seiner Musik verzehren.
Ja, äh….aber wie war es denn nun wirklich? Ich meine…WIRKLICH?
„Musikkritik bleibt eine ungenaue Wissenschaft“ (Alex Ross)
Dank an David Stabler von „The Oregonian“ für die obige Zusammenstellung, die ich ins Deutsche übertragen habe.
Komponist
Sehr interessant scheint mir, dass die großen Presseorgane (mit Ausnahme der NYT) durchgehend übel verreißen, während die spezialisierten Fachpublikationen durchgehend positiv eingestellt sind. Da scheint mir ein richtiggehender Riss durch die vorgestellten Ausschnitte zu gehen. Oder stehe ich auf dem Schlauch, und Du wolltest gerade darauf hinaus?
Derart divergente Beurteilungen sind wirklich krass – aber warum sollen sich Musikkritiker in der Bewertung neuer Werke eigentlich sicherer sein als der interessierte Durchschnittshörer? Gut, sie haben „mehr Erfahrung“, sie sind „Spezialisten“ – aber reicht das eigentlich immer aus? Das entscheidende Kriterium sollte doch die Empfindsamkeit einer Kritikerin sein, sein instinktives Gespür für all die klassischen Qualitäten eines Künstlers: den Willen, sich wirklich auszudrücken, auch auf die Gefahr hin, sich zu blamieren; Originalität (die leider niemals „direkt“ angestrebt werden kann) und: – Aufrichtigkeit.
Das Problem ist, dass viele Musikkritiker so unabhängig sind wie embedded journalists im Irakkrieg 2003. Blogs (wie dieses) könnten für diesen Missstand ein Korrektiv bieten. Leider ist Alexander Strauch der einzige, der von dieser Möglichkeit gelegentlichen Gebrauch macht. Ich lasse mich gerne korrigieren, aber von Arno Lücker und Patrick Hahn habe ich hier noch keine Musikkritiken gelesen. Warum eigentlich? Events gibt es doch genug.
Musikkritiken sind und bleiben wichtig, damit sich eine breitere Allgemeinheit über die Spezialwelten der Kreativen eine Meinung bilden kann. Dazu braucht es einen Kritiker, der sensibel, autonom, informiert und sprachmächtig ist.
Merkwürdig: jeder wünscht sich so jemand – aber kaum jemand würde ihn, so meine Erfahrung, für seine Arbeit bezahlen wollen und zwar umso weniger, je deutlicher er o. a. Eigenschaften (sensibel etc.) aufweist.
Voll schizo.
BBC Radio 3 sendet den Mitschnitt der Uraufführung am kommenden Samstagabend. Auf die Weise kann sich jeder geneigte Leser zumindest über den akustischen Teil ein eigenes Urteil bilden.
http://www.bbc.co.uk/programmes/b01s5m39