„Verjüngung des Musikpublikums?“ Gastartikel von Hans-Christian Schmidt-Banse

Vor kurzem hatte ich schon über meine Kuratoriumssitzung in Bonn für das „Netzwerk Ludwig van B.“ berichtet (eine Initiative zur Förderung klassischer Musikprojekte für Kinder und Jugendliche in der Region Bonn).
Dort gab es ein interessantes Gespräch mit Hans-Christian Schmidt-Banse über die Klischeethematik Nummer eins bei der Klassik-Diskussion: das „grauhaarige“ Publikum (und was man gegen das Gespenst der „Überalterung“ unternehmen kann). Im folgenden fasste Schmidt-Banse seine Gedanken noch einmal in einem Rundbrief zusammen – auch wenn ich nicht ins letzte Detail seiner Meinung war(wann ist man das schon), fand ich einige seiner Gedanken sehr erfrischend, vor allem wenn er vollkommen richtig die Entstehung eines Bezugs zur klassischen Musik als selbstgemachte Entdeckung beschreibt, die sehr oft auch mit der Anwesenheit (oder Abwesenheit) des anderen Geschlechtes zu tun hat.
Das stellt natürlich viele allgemeinhin akzeptierte Modelle zur Förderung klassischer Musik bei Kindern ziemlich in Frage, und vielleicht ist es tatsächlich ein Irrweg, das Interesse an klassischer Musik damit zu fördern, indem man Kindern und Jugendliche ständig Instrumente in die Hand drückt oder sie busweise in die Konzerte karrt. Denn die echte Liebe zur klassischen Musik entsteht aus einer „selbstentdeckten“ Leidenschaft.
Schmidt-Banses Text ist nicht kurz, ich fand ihn aber so interessant, dass ich ihn um eine Abdruckgenehmigung bat, die er uns gerne gab.
Hier also:

Verjüngung des Musikpublikums?

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Ein paar Gedankensplitter von Hans-Christian Schmidt-Banse

1
Klassische Musik gilt in den Augen und Ohren vieler Jugendlicher als eine ‚Gegenkultur’ (wie deren Rock und Popmusik in unseren Augen und Ohren). Geistigkeit, Geschichtlichkeit und Kunstanspruch von ‚klassischer’ Musik entsprechen (noch) nicht ihrer existentiellen Bedürftigkeit, auch nicht ihren Rezeptionsgepflogenheiten … vergessen wir nicht: sie h a b e n ihre Musik in einem unvorstellbar reichem Ausmaß, gehen tagtäglich mit ihr um, weil deren Klanglichkeiten einszueins ihren psychischen Befindlichkeiten
entspricht … was man von einem Haydn-Divertimento eher nicht sagen kann

2
Um kulturfähig bzw. –willig zu werden, braucht es Reifezeit. Mit 18 geht man dorthin, wo die Mädels vergeben werden; mit 28 dorthin, wo’s die Jobs gibt, mit 38 bis 45 Jahren orientiert man sich allmählich neu und entdeckt sublimere Kulturgenüsse … gut Ding will Weile haben

3
Derzeit machen ca. 10 Millionen Jugendliche aktiv Musik. Aus diesem Pool wird sich eines Tages das neue Musikpublikum rekrutieren … und das wird dann wieder grauhaarig sein. Und es ist nun mal eben dieses grauhaarige Publikum, das von einzigartiger Kostbarkeit ist … es hat lange und feine Antennen und ist aufgrund seines Reifezustand fähig, Kunst und kunstvolles Musizieren wertzuschätzen

4
Sofern Jugendliche nicht an uns, den Älteren, den Eltern und pädagogischen Vorbildern, die Faszination von differenzierten musikalischen Gebilden erkennen, bleiben jugendspezifische Musikvermittlungs- Bemühungen fraglich. Wenn zu Hause die Teilhabe an Kultur nicht eingeübt wird und nicht als Bereicherung erfahren wird, bleiben wir Rufer in der Wüste. Deswegen beurteile ich Aktivitäten wie ‚Tannenbusch’ mit äußerster Skepsis … wie überhaupt Kinder aus sozialen Brennpunkten ganz andere Dinge nötig haben: familiäre Sicherheit, persönliche Betreuung, emotionale Stabilität, schulische und alltagspraktische Hilfestellung. Vernachlässigte Kinder brauchen manchmal zuallererst ein warmes Mittagessen in warmem sozialem Klima

5
Schulische Workshops in Jeans und T-Shirts sind gut, sind aber nicht alles. Die eigentliche Faszination entfaltet Musik erst im konzertanten Zauber des Augenblicks. Wenn Zirkusartisten in die Schule kommen, ist das sicherlich schön. Aber erst in der Abendvorstellung, im festlichen Zelt mit Licht und Musik und seinem besonderen Geruch, tut sich die Wunderwelt auf … gilt übrigens auch, wenn der Schiedsrichter am halbvier das Bundesliga-Spiel anpfeift – wenn aus Spiel Ernst wird, dann erst verschlägt es uns den Atem

6
In einer Reihe von empirischen Studien habe ich festgestellt, dass bei Jugendlichen die ersten Liebesbeziehungen rein zufällig, ja geradezu willkürlich gestiftet werden … durch einen Film, einen wichtigen Freund, einen durchreisenden Onkel, in einer emotionalen Ausnahmesituation. Man wird Opernliebhaber, indem man mit 16 eine Freundin hat, deren Vater im Opernhaus Beleuchter ist. Immer nimmt jemand jemanden mit, ganz zufällig, aber dann ganz wirkungsvoll. Es scheint, als müsse man das Gefühl haben, selber auf Entdeckungsreisen zu gehen, seinen eigenen Weg zu finden

7
Was mich misstrauisch macht, ist der fehlende Nachweis einer Nachhaltigkeit. Selbst beim ehrgeizigen ‚JeKi’-Projekt scheinen sich klägliche Folgen abzuzeichnen, d.h. dass aus Kindern, denen man ein Instrument in die Hand drückt, noch lange keine Instrumentalisten werden, dass mit anderen Worten die anfängliche Euphorie verpufft. Wir wissen nicht, ob Kinder, die einmal im Orchester neben einem Musiker gesessen haben, übermorgen ins Konzert gehen. Wir wissen nicht, dass die einmal geöffnete Operntür auch fürderhin von alleine aufgehen wird. Meine Opernfahrten aus dem kleinen Meppen ins größere Münster blieben folgenlos. Ich wurde Opernenthusiast, weil ich mich später in ein Mädchen verliebte, deren Eltern Sänger waren

8
Viele oft hysterischen Musikvermittlungen kranken an ihrer Dünnblütigkeit: Musik von geringem Wert (sog. ‚pädagogische Musik’), irgendwie lustige Präsentationsformen und möglichst mit der Aufforderung, mitzumachen. Solche harmlosen Spielkonzepte verstoßen gegen drei wichtige Gebote: 1. Ehrfurcht zu haben vor der Würde des Kunstwerks, 2. die Würde des Musikers zu respektieren und 3. die Würde des Publikums … das man nicht betrügen darf, selbst wenn es wünschen sollte, betrogen zu werden. Vieles, was sich Musikvermittlung nennt, glaubt Klassik nur dann an den Mann bringen zu können, wenn’s möglichst spaßig wird (weil Klassik ja so furchtbar ernst ist). Hier schwillt mir der Kamm, denn einer BVBMannschaft fiele es im Traum nicht ein, mit Strohhüten auf den Platz zu laufen und zu drolligen Mitmachspielen aufzufordern, nur um jene einzuwerben, die sich nichts aus Fußball machen. Es gibt Menschen, die mögen keinen Fußball. Es gibt Menschen, die mögen keine Musik. Und das sollte ihr gutes Recht sein

9
Was tun? Anbieten! Selbstverständlich müssen wir unsere musikalischen Buffets auslegen, in der Schule und anderswo. Selbstverständlich müssen wir den Reichtum unserer Kulturgüter anbieten, aber in einer diesen Gütern adäquaten Form …
a) mit kunstvollen Präsentationen
b) mit spannenden und spannend erzählten Geschichten
c) mit einer Begeisterung an der Sache Musik, die von Herzen kommt, deswegen glaubwürdig ist
d) mit professionellen Musikern, welche etwas ganz Wichtiges auslösen: sprachlose Bewunderung, den Respekt vor der außergewöhnlichen Leistung

10
Die beste aller Formeln heisst „Identifikation durch Partizipation“ … Jugendliche mit- und selbstgestaltend in ein Projekt einbinden (das Unternehmen „Schauspieldirektor“ ist geradezu referenziell). Ihnen die Verantwortung für die Musik und ihre Vermittlung geben. Ihr Können abrufen und einsetzen. Ihre Begeisterung dadurch zu wecken, indem sie erfahren, dass sie andere begeistern können. Eine zunächst noch fremde Sache zu ihrer eigenen machen, indem sie sich diese Sache an=verwandeln …
a) im Akt des Musikmachens
b) bei dramaturgischen Aufgaben
c) in der Organisation
d) mit technischem Knowhow
e) begleitend mit Programmheftgestaltungen und Moderationen

11
Es wird immer gern behauptet, Musik bzw. Kunst im allgemeinen sei ein Lebens=mittel. Aber um die Begründungen drückt man sich gern herum, auch auf politischen Ebenen, wenn posaunt wird, man dürfe den Kultur-Etat nicht antasten. Ich habe mir mal die Mühe gemacht, ein paar Argumente zusammenzutragen. Sie mögen geschwätzig klingen, aber man muss diesen Versucht einer Begründung doch mal
wagen …
*****
Man wollte immer schon mal wissen, was man davon hat, symphonische, chorische bzw. kammermusikalische Veranstaltungen zu besuchen?
Darauf bescheidene 61 Antworten …

1. Stets aufs Neue die stolze Erfahrung machen, welch ungeheuer großes Kultur-Erbe wir besitzen, wie unvorstellbar reich wir sind
2. In der Musik die Kühnheit geistiger Fortschritte bewundern: leidenschaftliche Aufklärungs-Plädoyers zum Beispiel, abgründige Tiefen von seelischen Befindlichkeiten oder Artikulationen von existentieller Not
3. Das Eigene im Fremden und das Fremde im Eigenen entdecken
4. Auf Musik lauschen als einer Klang=rede, die – obschon abstrakt – ausdrucksmächtiger ist als jedes Wort
5. Von den Bewegungen der Musik bewegt werden. Kein anderes Medium, das derart genau den raumzeitlichen Bewegungen menschlicher Gefühle entspricht
6. Eigene Gestimmtheiten von denen der Musik gespiegelt erleben; durch aktive Musik mitgerissen, durch zärtliche Musik getröstet, durch klagende Musik geöffnet und durch hymnische Musik erhoben werden … oder die Musik zu bitten, unser schräg verstimmtes Gemüt wieder wohlzutemperieren
7. Musik als ‚Enzyklopädie der Gefühle’ entdecken … sie ist der Stoff, aus dem die Träume sind
8. Musikalische Zeit gegen die unerbittliche von Uhren vertauschen. In der Musik geht sie anders, kann still stehen, sich beschleunigen oder verlangsamen; sie hat ihren eigenen Fluss, womit sie sogar in unsere Pulsund Atemfrequenzen eingreift
9. Mit Hilfe der Musik zur Ruhe kommen, Kraft zur Meditation gewinnen, die erfrischende und reinigende Wirkung von Kontemplation erfahren
10. Durch die Musik aus der wirklichen Welt entführt werden, in die Gegenwelt von großen oder subtilen Klängen eintauchen, die sinnliche Gewalt von zart schimmernden oder überwältigenden Klangbildern auf der Haut spüren
11. Musikalischen Erzählungen lauschen; den Spannungskurven einer Ballade, einer Rhapsodie oder einer Romanze folgen und neugierig sein, wie’s ausgehen mag
12. Musik als geistiges Gebilde erfahren: als fließende Architektur, als tönend bewegtes Schachspiel oder als wohlregulierte Ordnung
13. In der Musik erleben, wie Utopien gelingen können; wie sich in einer Bach- oder Bartók-Fuge der göttliche Kosmos abbildet, wie sich in einer Beethoven-Sonate der Widerspruch von These und Anti-These synthetisch versöhnen lässt, wie in der Musik von Mozart oder Rachmaninow Frieden gefunden und in der Musik von Schubert Trost, den die wirkliche Welt nicht gewährt
14. In der Musik ‚werden wir gesungen’. Dort erfährt man die unendliche Vielfalt menschlicher Tonfälle im Spannungsfeld von süßer Schmeichelei bis zum dröhnenden Gepolter, von wollüstigem Geflüster bis zur aggressiven Einschüchterung
15. Konzerte sind Wellness für die Seele; ästhetische Erfahrungen haben kathartische, d.h. reinigende Wirkung
16. Musik macht nicht klüger, wie manche behaupten, sie verbessert den IQ nicht … aber sie befördert den EQ, sie entfaltet die emotionale Intelligenz
17. In einer von Rationalität, Effektivität und Zweckgebundenheit diktierten Gesellschaft die Zweckfreiheit von musikalischen Formen und Strukturen genießen; das Schöne um seiner selbst willen erkennen, auch das kompositorisch Gelungene und die meisterliche Perfektion, welche nichts anderes will als gefallen
18. Lauschen lernen statt hören. ‚Wahr’-nehmung statt Information. Wichtige Botschaften vernehmen statt flüchtige Nachrichten
19. Musik als Spiel begreifen. Soll heissen: mitspielen, indem man von ihr ‚gespielt’ wird im Sinne Schillers … nur dort ist der Mensch ganz Mensch ist, wo er spielt
20. Im Alltag gilt die Alternative ‚Spielraum oder Ernstfall’. In der Musik ist dieser Spielraum immer Ernstfall, der Ernstfall immer Spielraum … ohne Risiken und Nebenwirkungen
21. Von der Heiterkeit einer Musik sich anstecken lassen, durch ihren Ernst zur Besinnung kommen, ihrem Leichtsinn trauen oder ihrem Tiefsinn Glauben schenken
22. Musik als Unterhaltung verstehen, als Zerstreuung und als abendliche Verschönerung, d.h. als Wiedergutmachung eines vielleicht misslungenen Tages
23. Musikalische Gebilde als Ereignis erfahren anstelle schwachbrüstiger Events. Zwar kennen auch sie den Spaß, doch obendrein den Ernst, die Feier, das Fest, die Besinnung, die Trauer oder die feinen Empfindungen der Liebe; musikalische Ereignisse spenden andere Reichtümer als ärmliche Entertainments, sie sind der Einspruch gegen den sog. ‚eindimensionalen Menschen’ (zu denken wäre an einen ausgesprochen erfolgreichen Rechtsanwalt, dessen Ausgleichstätigkeit das Singen ist – berufliche Überzeugungskraft kann
seltsame Gründe haben)
24. Man darf auf Reisen gehen: in eine vergangene Zeit, in die Zukunft, nach Spanien, in den Iran oder nach Argentinien … oder auf Fügeln des Gesanges in den Himmel
25. Einsehen, dass hochklassige Musik nur durch hochklassige Interpretationen möglich wird. Heisst: in Konzertbzw. Kammermusikveranstaltungen auf ausgewählte Menschen und ihr meisterliches Handwerk treffen
26. Hören, welche Freude es den Interpreten macht, anderen Menschen Freude zu bereiten
27. Erleben, sie feinfühlig sie auf Reaktionen aus dem Publikumm reagieren; Konzerte sind Spielräume einer geheimnisvollen Interaktion
28. Teilnehmen an einem artistischen Drahtseilakt ohne Netz und doppelten Boden: anders als bei CDAufnahmen erfordert professionelles Musizieren auf dem Podium die Präzision von Formel 1-Piloten, musikalische Höchstleistungen sind riskant und gefahrvoll
29. Das tausendmal geübte Zusammenspiel eines Orchesters, Chores oder Streichquartetts wahrnehmen: wie glatt und fein Hunderte von Einzelaktionen ineinander greifen, wie perfekt die instrumentale Mechanik abläuft
30. Das bedeutet: an solchen Orten und in solchen Momenten große Bewunderung empfinden und atemverschlagendes Staunen
31. Musik ist ohne den Publikumsvertrag nicht denkbar: Menschen spielen für Menschen, die ihnen zuhören; deren Ernsthaftigkeit verlangt eine entsprechend ernsthafte Zuwendung
32. Anders als im Fussballstadion fallen in Konzerten keine Tore. Aber die Unvorherseh- und -hörbarkkeit der Musik schafft eine mindestens ebenso große Erwartungsspannung
33. Macht Musik Menschen zu besseren Menschen? Wohl nicht. Aber wenn man aus einem Konzert kommt, ist vieles wieder gut … Konzerte sind Duschen fürs Vegetativum und „Recreationen des Gemüths“
34. Wer ins Konzert geht, bereitet sich vor, wie wenn er zur Geburtstagfeier von Freunden ginge; verzichtet aufs Fernsehen, wechselt die Kleidung, nimmt den Bus, das Auto oder geht zu Fuß, stimmt sich auf einen länger geplanten Besuch ein
35. Wer ins Konzert geht, weiss, was auf ihn zukommt: andere Menschen mit gleichen Erwartungen, ein besonderer Raum in besonderer Klimatisierung und Beleuchtung
36. Wer ins Konzert geht, tut dies auch, um Teil einer Gesellschaft zu sein und um an ihr teilzuhaben; Konzerte vermitteln Wir-Gefühle
37. Wer ins Konzert geht, erlebt menschliche Begegnungen – ein hoher Wert an sich. Wenn Menschen sich nicht mehr treffen, verkümmern und vereinsamen sie, dann reissen die gesellschaftlichen Netze
38. Wer im Konzert sitzt, fügt sich den dort geltenden Regeln, der dort geltenden Sitzordnung, den dort geltenden Wahrnehmungsgepflogenheiten
39. Diese dann kollektive Stille ist kein veraltetes Darbietungs-Ritual, sondern sie schärft die Sinne, weil sie bei allen geschärft sind; die Bereitschaft zum eigenen Zuhören ist die Zuhör Bereitschaft aller
40. Momente von atemloser Spannung während eines Konzerts teilen sich jedem einzelnen mit; man achte einmal darauf, wie synchron ein Publikum atmet
41. Im Konzert ist intensive Teilnahme möglich, ohne dass man sich exponieren müsste; die Musik fordert, ohne etwas zu forden … deswegen macht das Konzert an einem Abend gut, was die Schule während der ganzen Woche verdirbt
42. Im Konzert reinigen sich die von akustischer Umweltverschmutzung verdorbenen Ohren binnen weniger Minuten
43. Der Applaus aller ist der Applaus eines jeden einzelnen; von der kollektiven Begeisterung lässt sich die individuelle anstecken und steigern
44. Im Konzert ist man auf wundersame Weise allein, d.h. allein in Gesellschaft; das Konzert ist ein vorzügliches Mittel gegen die Einsamkeit
45. In Konzerten lernt man andere Menschen kennen, die charmante Sitznachbarin zum Beispiel
46. Nach einem Konzert geht man wortlos nach Hause, was soll man auch sagen? Viele aber haben Lust, sich dann noch auszutauschen bei Bier oder Wein. Musik löst Verspannungen, löst Meinungen und Zungen
47. Die Lektüre der Musikkritik zwei Tage später ist letzter Widerschein des konzertanten Erlebnisses, man stimmt ihr zu oder ärgert sich – in jedem Fall ist sie öffentliche Nachlese eines persönlichen Erlebnisses
48. Konzerte regen zum Wiederhören an. Oder zum Kauf von dieser oder jener CD
49. Konzerte regen zum Weiterlesen an: was steckte nun wirklich hinter Janáceks ‚Intimen Briefen’ und seiner stürmischen Werbung um die junge Kamila Stösslová?
50. Konzerte sind klingende Lichtpunkte in grauen und schweigsamen Wochen
51. Konzerte sind Medikamente gegen träge Gewohnheiten, gegen die eigene Antriebslosigkeit, gegen die alltägliche Langeweile. Man muss sich aufraffen, ein Konzert bittet zum Empfang. Hausbesuche sind nicht üblich
52. Dafür bieten Konzerte zwei Stunden Zeit, die Seele auszulüften, die Gedanken spazieren zu schicken, Tagträume schweifen zu lassen; in der musikalischen Wahrnehmung findet das Ich zu sich selbst
53. In Konzerten muss man nicht alles mitkriegen; nicht den Quartsextakkord in Takt 324 und auch nicht die veränderte Reprise; ungeniert alles darf man in Konzerten auf die Musik projizieren, Erlaubtes wie Unerlaubtes: Sehnsüchte, Selbstzweifel, Euphorien, Prüfungsängste oder Eheprobleme. Musik, dieses einzigartige Wunder, lädt zum höchst verschwiegenen Dialog ein
54. Konzerte sind Wirtschaftsfaktoren. Eine Stadt ohne Konzerte ist für Zuzugswillige nicht attraktiv, dann bewerben sich kulturinteressierte IT-spezialisten oder hochkarätige Bank-Analysten lieber in München oder Hamburg
55. Konzerte sind Wirtschaftsfaktoren. Ohne kulturelle Bildungsangebote studieren junge Menschen lieber woanders
56. Konzerte sind Wirtschaftsfaktoren, wenn sie denn gut sind; das Festival ‚Musikalischer Sommer Ostfriesland’ lockt Ströme von Touristen in die dortige Region
57. Konzerte sind Wirtschaftsfaktoren; ohne sie weniger Hotelbuchungen, Musikalienhandel-Umsätze, Taxifahrten, Spielstätten-Existenzen
58. Konzerte sind Grundnahrungsmittel ohne Verfallsdatum, ihre Preise unterliegen keiner Inflationsschwankung
59. Konzerte sind prinzipiell demokratisch: der soziale Querschnitt aller Besucher eines Fussballstadions (man mag es kaum glauben) ist exakt identisch mit dem von Opern- oder Konzerthaus-Besuchern
60. Deswegen müssen Konzerte resp. ihre Programme nicht unbedingt so bleiben, wie sie seit Jahrzehnten schon sind. Weil ihnen die Kostbarkeit Musik angelegen ist, muss über vermittelnde Brückenschläge nachgedacht werden, um berührungscheu Fernstehende davon zu überzeugen, dass Konzerte mehr versprechen als Kinos … musikalisch erzeugte Bilder im Kopf sind allemal phantastischer
61. Denn nirgendwo sonst werden Gegensätze so versöhnlich zusammengebunden wie im Konzert … Tradition und Gegenwart, Denken und Fühlen, Hören und Sehen, Individuum und Kollektiv, Stille und Klang, Bruckner- Breitwandgemälde und Fugen-Feinzeichnungen, arm und reich, jung und alt, Kenner und Laien, Mann und Frau, Lust und Leid, beruflicher Alltag und jener besondere Augenblick, den man beschwören möchte zu verweilen … weil er so schön ist

Noch Fragen?

© Nov. 2012 Hans Christian Schmidt-Banse

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3 Antworten

  1. Ja, mit Verlaub, ein paar Fragen hätte ich da doch noch, Herr Prof. Dr. Schmidt-Banse:

    Klassische Musik gilt in den Augen und Ohren vieler Jugendlicher als eine ‚Gegenkultur’ (wie deren Rock und Popmusik in unseren Augen und Ohren).

    Wird „Rock- und Popmusik“ denn tatsächlich hauptsächlich von Jugendlichen gehört und „Klassische Musik“ von älteren Menschen?

    Geistigkeit, Geschichtlichkeit und Kunstanspruch von ‚klassischer’ Musik entsprechen (noch) nicht ihrer existentiellen Bedürftigkeit, auch nicht ihren Rezeptionsgepflogenheiten …

    Hat nicht auch „Rock- und Popmusik“ die Möglichkeit, Geistigkeit, Geschichtlichkeit und Kunstanspruch zu entwickeln?

    Um kulturfähig bzw. –willig zu werden, braucht es Reifezeit.

    Wie definiert sich „Kulturfähigkeit“ und wer definiert es? Ab wann ist jemand „kulturfähig“? Gibt es auch prinzipiell „kulturunfähige“ Menschen? Und was machen wir dann mit denen?

    Die eigentliche Faszination entfaltet Musik erst im konzertanten Zauber des Augenblicks.

    Kennen Menschen, die Musik ausschließlich von Tonträgern her lieben gelernt haben (ich z. B.), die „eigentliche Faszination“ von Musik dann gar nicht?

    Stets aufs Neue die stolze Erfahrung machen, welch ungeheuer großes Kultur-Erbe wir besitzen, wie unvorstellbar reich wir sind

    Können nur kulturelle Leistungen der Vergangenheit Stolz erzeugen? Und wenn ja, warum?

    Ihr Enthusiasmus für die alteuropäische Form des sog. „Musiklebens“, also das bürgerliche (Opern-)Konzert in formeller Abendgarderobe, dessen Repertoire sich größtenteils auf Kompositionen des 18. und 19. Jahrhunderts beschränkt (o.k., J. S. Bach ist natürlich auch dabei) hat mich komplett überzeugt! Diese Form funktioniert ganz offensichtlich hervorragend – aber eben nur in einem hochspezifischen Soziotop: dem Ihren.

    Ob dieses Soziotop, analog zum historischen Baubestand eines Ortes, „Ensembleschutz“ verdient (und das meine ich jetzt gar nicht despektierlich!), ob es schrumpft oder sich ausdehnt oder „fürderhin“, horribile dictu, gar nicht mehr existieren wird – all das weiß ich natürlich auch nicht. Was ich weiß, ist, dass die gesellschaftliche Teilnahme an bzw. Initiation in diese Form des Musiklebens hoch voraussetzungsreich ist. Wie hoch ist beispielsweise der Anteil an Deutschen mit türkischem Migrationshintergrund in diesen Konzerten? Wie hoch ist der Anteil der Hartz-IV-, aber, richtig, die brauchen ja „zuallererst ein warmes Mittagessen in warmem sozialem Klima“, d’accord, d’accord.

    Ihren Gedanken zur Wechselwirkung von Musik und Seele kann ich nur zustimmen, obwohl, halten zu Gnaden, mir Ihre Terminologie sich mit Erfolg jeglichen Einflusses von Wissensbeständen des 20., oder gar des 21. Jahrhunderts, also bsp.weise Psychoakustik, Musiksoziologie, Rezeptionsästhetik, Elitesoziologie, Ästhetische Theorie, Semiotik, Systemtheorie, Kognitionsforschung und dergl., zu enthalten befleißigt. Aber gegen einen gesunden Konservatismus ist wiederum rein gar nichts einzuwenden!

    Dennoch, es mag zwanghaft sein, aber kann ich nicht anders, als Ihre, wie Sie sie selber zu bezeichnen belieben, „geschwätzigen“ Gedankensplitter durch ein paar eigene zu ergänzen: Nach meiner Alltagserfahrung (geb. 1966) taugte Musik niemals so gut als soziales Unterscheidungsmerkmal wie heute. Natürlich „verbindet“ Musik „die Menschen“ weiterhin – aber eben nur in Abgrenzung zu anderen! Sie hat also keinerlei emanzipatorische Wirkung mehr, sondern dient lediglich der Selbstvergewisserung bereits bestehender Soziotope innerhalb einer ausdifferenzierten Gesellschaft.

    Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Ich fände es brillant, wenn es wieder Musik gäbe, die „sozialen Drive“ entwickelte (am Liebsten würde ich sie natürlich selber komponieren, aber momentan sieht es nicht danach aus :-(). Die aktuelle Lage scheint mir aber eher die zu sein, dass jegliche Musik, die überhaupt irgendeine minimale soziale Wirkung außerhalb Ihres Entstehungs-Soziotops entfaltet (z. B. einige Werke von Johannes Kreidler, vielleicht auch von Moritz Eggert), bereits als äußerst bemerkenswert gilt. Das ist wenig – aber mehr ist scheinbar augenblicklich nicht drin.

    Ihr pädagogisches Konzept „Identifikation durch Partizipation“ erinnert mich darüber hinaus doch ein wenig an Shaws „Pygmalion“. Ich wünsche Ihnen also, dass Sie eine Eliza Doolittle finden, die Ihrer würdig ist…

  2. Bekehrter sagt:

    Man kann die These auch konziser formulieren: Die Leute kommen von alleine, wenn sie älter sind. Öffentlich möchte dann aber wohl doch niemand so deutlich werden.

    Was soll einem 4.) sagen? Ist es eine Kapitulationserklärung? Oder sind etwa tatsächlich bürgerliches „Musikleben“, Soziotop und soziales Unterscheidungsmerkmal die Stichworte, die umreißen, was hinter diesem Gedankensplitter steckt?

    Falls es doch kein (ggf. uneingestandener) Wunsch nach Abgrenzung ist: Nach mittlerweile zwei popkulturell sozialisierten Generationen hat eben im Regelfall (das Wort scheint mir nicht zu hart zu sein) das Elternhaus keinerlei Berührung mit klassischer Musik mehr. Da sind keine Zuführungen mehr zu erwarten. Eher kann man noch darauf hoffen, zwei Klappen mit einer Fliege zu schlagen und mit Kinderprogrammen auch einen ersten Kontakt zu den Eltern herzustellen.

    Und 6.) ist doch reine Wunschträumerei. Aus dem genannten Grund gibt es in der Regel in jemandes Umfeld eben niemanden, der zur Maßnahme der Mitnahme greifen könnte. Mal ganz abgesehen von der Frage, wie nachhaltig es wohl war, als in einem neulich gesichteten Silbersee wirklich böser Ausprägung (es ist schon gruselig, sich umzuschauen und partout nicht widerlegt zu finden, in dieser Aufführung der jüngste erwachsene Besucher zu sein – sowas kann man doch nun beim besten Willen nicht auch noch schönreden wollen) auch diverse von Oma mitgeschleifte Kinder saßen.

    Was die emanzipatorische Wirkung angeht: Doch, die gibt es, und sie kann recht intensiv sein. Setzt natürlich voraus, bei potentiellem Publikum außerhalb des beschriebenen Soziotops zuallererst mal Berührungsängste abzubauen, einen Erstkontakt herbeizuführen, der dann in die geradezu bestürzende Beobachtung führt, wie wenig einschlägige Klischees mit der Wirklichkeit zu tun haben. Allein schon das bezüglich formeller Abendgarderobe richtet einen Schaden an, der kaum zu ermessen ist.

    Dieses ganz grundlegende Verständnis für ein ganz anders sozialisiertes, aus einer ganz anderen Ecke kommendes potentielles Publikum ist eben immer noch nicht selbstverständlich. Der Beweis liegt hier vor.

    Ach ja, und die Begründung in 61 Punkten ist natürlich nicht verwendbar.