Ach neige, du Schmerzensreiche…

…so wird bestimmt eine der Kritiken über „Mama Dolorosa“ überschrieben sein, der zweiten großen Oper der diesjährigen Münchener Biennale, die gestern ihre Uraufführung im Carl-Orff-Saal des Gasteigs in München erlebte. Und wenn die Kritik in der FAZ erscheint, wird es heißen „Ach neische, du Schmerzensreische“, was ja auch viel mehr goethemäßig wäre.

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„Mama Dolorosa“ also, die erfundene Geschichte einer wahren Schmerzensmutter wird hier erzählt, „eine Momentaufnahme aus dem Interieur moderner Urbanität“ (Programmheft). Und diese Mama muss sich in der Inszenierung von Yona Kim auch sehr viel kummervoll neigen und am Boden wälzen, denn die Mama (hier intensiv gesungen von Rebecca Nelsen, die gerade eben in Bochum bei der „Faust-Show“ von Harald Schmidt und mir das lasziv unschuldige „Gretchen“ gab) hat sich da leider einen richtigen Schreckensbalg geboren, nach zwei Abtreibungen (um ja kein Mädchen zu bekommen), ein verzogenes Einzelkind, dass hurend und mordend durch die Großstadt zieht und daher in diesem Stück auch zur Strafe weder singen noch sprechen darf.

Eine typisch koreanische Geschichte also, aus einem Land in dem sicherlich nach wie vor sehr patriarchalisch gedacht wird? Nicht nur, denn – wie der stumme Prolog uns etwas mit dem erhobenen Zeigefinger zeigt (mit einem Film aus der Ichperspektive, der den Gasteig von außen zeigt, dann immer näher kommt und sich schließlich als Livekamerabild eines der Darsteller erweist und bei den Zuschauern im Saal ankommt) – es geht natürlich…um uns alle! Denn auch bei uns gilt: „Nur Söhne sind Stütze, der Fels in der Brandung, in Familie und Staat übereinstimmend als Stammhalter und Besitzer anerkannt“ (Yona Kim, Regisseurin und Librettistin).

Komponiert hat das sehr gekonnt Eunyoung Kim, mit einer an Klängen und Gesten reichen musikalischen Sprache, die sich immer wieder in manisch pulsierende Passagen verdichtet. Zwischendrin bleibt gelegentlich „die Zeit stehen“, sehr oft mittels sehr hoher und enger Intervalle im Akkordeon (das auch stets als Solo-Instrument im von Sebastian Beckedorf unsichtbar hinter einem Vorhang geleiteten Braunschweiger Staatsorchester dominiert) oder extrem tiefem Grummeln. Tatsächlich fällt die Sängerbehandlung ein wenig ab gegenüber dieser gelungenen Instrumentalphantasie, allgemein herrscht der typisch affektierte „Pierrot Lunaire“ – Ton vor, der seit nun fast 100 Jahren die zeitgenössische Opernästhetik dominiert.
Reden irgendwelche Menschen tatsächlich so? Machen Menschen ständig unmotivierte Pausen beim Sprechen, verschleifen sie die Silben in glissandi, dehnen sie künstlich das Ende von Worten, gehen bei Fragen mit der Stimme abwärts, ansonsten immer hinauf am Satzende? Was bei den exaltiert übersteigerten Visionen des Pierrot Sinn machte, entfremdet einem hier die Darsteller, die ja eigentlich „wir“ sein sollen.

Vielleicht von dieser Grundstimmung angeregt, betont die Regisseurin das Absurde und Übersteigerte. Am Anfang sehen wir mehrere Mütterlein mit auf den Rücken gebundenen Babys auf die Bühne schleichen – das gemahnt an die Ästhetik von koreanischen Horrorfilmen und wirkt tatsächlich sehr unheimlich (Kostüme: Hugo Holger Schneider). In diesen Filmen werden gerne Haare als grauslich thematisiert (zum Beispiel in „Ju-On“), deswegen haben in „Mama Dolorosa“ auch alle weiblichen Darsteller seltsame Pudelperücken an. Die Handlung wird immer wieder von kurzen instrumentalen Zwischenspielen unterbrochen, in der die Bühne jeweils hektisch umgeräumt wird, um danach…exakt gleich auszusehen! Ein Fanal urbaner und ins Leere laufender Geschäftigkeit (Bühne: Ben Baur, Licht: Frank Kaster). Dennoch füllt sich alles unmerklich mit Zivilisationsschutt, darunter auffallend viele Musikinstrumente, die – zum Teil wie bei Christo verpackt – von den Protagonisten mahnend in die Luft gehalten werden. Immer wieder flüchten sich die Darsteller in eine Art Telefonzelle, die vielleicht auch eine Wichskabine in einer Peepshow sein könnte.

Mama Dolorosa und ihr weißer Pudel – nein, es ist die Großmutter! (Countertenor: Daniel Gloger) – reden sich dabei die ganze Zeit ein, der ersehnte Sohn sei nicht mißraten sondern eigentlich ganz ok. Das glauben wir auch als Zuschauer, denn da der böse Sohn (Philipp Grimm) weder singt noch spricht ist er einem ziemlich sympathisch, da er von allen auf der Bühne am normalsten wirkt. Wenn er nicht gerade ein Messer rausholt.
Und wer weiß, vielleicht ist er auch gar nicht der Mörder, sondern stattdessen der fiese Machokomissar (Christian Miedl), der am Ende die Schmerzensmama sogar noch hernimmt, nachdem er ihren Sohn überführt hat? Ver-oder überführen – egal! Überhaupt ist Sex ein ständiges Thema, vor allem wenn die Nachbarin (Julia Rutigliano mit großer Verve) und ihr Mädel (Simone Lichtenstein) bei der Schmerzensmama vorbeischauen.

Dass das nicht gut ausgehen kann, ist klar. Am Ende steigert sich das Orchester in einen Rausch hinein und zum ersten Mal wird der Vorhang (vor dem bisher alles stattfand) gewaltsam gelüftet – und in einem wirklich gelungenen Schockeffekt sehen wir, dass die Stühle auf denen wir das Orchester vermuteten und bis eben noch hörten… leer sind! Irgendwann gegen Ende des Stückes wurde das Orchester also durch ein virtuelles Orchester – vom Band – ersetzt, und wir haben es noch nicht einnmal gemerkt. Tatsächlich ein fantastisch realisierter Effekt mit einem seltsamen Nebengeschmack in einer Zeit der Orchesterkürzungen. Dass der verzogene Junge daneben wie ein Zombie am Glockenseil erhängt hängt ist daher auch nur konsequent und dementsprechend auch das Ende.

Ein widersprüchlicher Abend also – geht es um das Orchestersterben? Um das Ende von Kultur? Um die Verruchtheit des Patriarchats? Um das Absurde im Alltäglichen? Um die Gewalt in den eigenen vier Wänden? Um Lug und Trug und Mord und Totschlag?

Die Antwort ist wahrscheinlich zu allem: ja! Und egal wie man dazu stehen mag – das ist auf jeden Fall spannender, gegenwärtiger und eindringlicher als die fünfhunderttausendste Inszenierung des „Rings der Nibelungen“.
Und genau dafür brauchen wir sie, die Münchener Biennale.

Moritz Eggert

Des Pudels Kern: von l. nach r.: Julia Rutigliano, Daniel Gloger, Rebecca Nelsen, Philipp Grimm

Eine Antwort

  1. Alexander Strauch sagt:

    Mama Dol.-Anmerkungen: Danke Moritz für Deinen Beitrag. Ja, wir benötigen neue Opern. Ganz verbannt will ich den Ring dann wiederum nicht wissen – es müsste schon ein starkes Stück sein. Mama Dolorosa wohl eher nicht. Es ist aber eine hübsche Ergänzung, wenn man kurz mal im „Repertoire-Kanon“ denkt. Denkt man den „Kanon“ übrigens weiter, frage ich mich, welche der traditionellen Opern man parallel aufführen könnte – eben wie einen Kanon: La Traviata und Il Ritorno d’Ulisse? Der Mikado und Wozzeck? Dann doch lieber eine neue koreanische Splatter-Operette. Und so zurück zum Thema:

    Da hätte die Regie stärker zupacken können! Es ist ja nett mit silbrigen Stoffgeigen, kopfdurchlässigen Akkordeons und echten Blechblasinstrumenten zu hantieren. So richtig Sinn machte dies aber nicht, lenkte eher mal wieder vom Stoff ab, als das es ihm notwendig Weiteres abgewann. Klar, das Orchester war verdeckt, konnte man zuerst verstärktes Akkordeon von Akkordeonzuspielung nicht unterscheiden. Der Effekt des verdeckten Orchesters und dessen Finalzuspielung und dann die gähnende Leere nach dem Herunterfallen des Trennstoffes war allemal stark genug.

    Inhaltlich, und das ist immer die krasse Krux neuer Opern, die doch linear erzählen, war dagegen viel zu schwach spannend akzentuiert: Die Grossmama war immer nur ein keifendes Weib, die Mutter eine verhärmte Sohnesnymphomane, die Nachbarinnen an Sexabenteuern interessiert, der Kommissar sowieso. Die stumme Rolle des Sohnes war da eigentlich die Beste! Was für ein Effekt und Knaller wäre es aber gewesen, wenn der Sohn plötzlich am Ende gesungen hätte? So trafen auch heute schon verstaubte koreanische Rollenklischees auf verstaubten Rollenansatz reiner Klischeeisierung von Charakteren! Für komische Momente taugt dies schon, richtig böse wird diese Methode nur, wenn man sie auch mal mutig durchbricht. Oder eine wirklich trockene Ermittlung stattgefunden hätte, oder, oder. Das lässt sich nachher immer leicht sagen, da hätte aber v.a. die Regie auch anders zulangen können als Kim mit Kim zu spiegeln. Besonders ätzend war zu Beginn der Videospaziergang von der Isar hinauf zum Gasteig-Kulturzentrum, hinein in den Carl-Orff-Saal. Irgendeine Aktualisierung, die Hereinnahme der Gegenwart. Wäre es tatsächlich ein Bühnen-Tatort gewesen, hervorragend! So aber eine Behauptung der Regie, die mal wieder ins Nichts führte. Genauso die Daueranbetung eines Buddha-TV’s auf dem Kühlschrank während des Einlasses wie dessen Benutzung als Requisitenkammer. X-fach gesehen, x-fach öde! Das Beste war noch Julia Rutigliano, die sich mal in den Kühlschrank fast hineinpferchen musste.

    Besonders ärgerlich für den Nucleus im Vorfeld der Mama Dolorosa-Premiere: Dieses „Beiprogramm“, das vor der grossen Oper andere Ansätze vorführen soll, muss konzeptuell und vereinbarungsgemäß zwischen Biennale und Nucleusteam – ja, besonders von der Stadt München gewollt – von 19:30 Uhr stattfinden, damit das Biennalepublikum schön irritiert wird. Das soll dann bis kurz vor Opernbeginn, also 20 Uhr dauern. Nur musste der Nucleus schon um 19:45 enden, wegen einer instrumentalen wie sängerischen Installation bei Betreten des Carl-Orff-Saales. Totaler Schmuh! Klar, Sänger und Musiker mussten hinter ihrem Raumteiler ruhig sein bzw. den Anfang abwarten. Aber ausser dem Kühlschrank-Buddha-TV war dies eine anmassende Installationsbehauptung des Theaters Braunschweig, die öder nicht sein kann. Statt in einen klingenden Wald einzutreten oder irgendwas Unerwartetes zu erleben, war es die übliche Prolog vor dem Prolog im Prolog Sosse. Ehrlich Moritz, dann lieber den Ring, gerne auch ohne jene eben genannte Sosse, wie an unserer Staatsoper, wenn es nicht wirklich einen mehr als krückenhaft konzeptionellen Grund gibt.

    Gruß,
    A. Strauch