Zuchtgarnelen mit Kräutersalat. Oder: Klassik braucht Neue Musik

Dem Wahren Schönen Guten
Das Eis ist dünn. Wenn man selbst als Produzent, Veranstalter oder irgendwie dramaturgisch damit befasst ist, Programme zu gestalten, sollte man sich öffentlich schön zurückhalten, über Programme anderer Veranstalter etwas zu sagen. Aber hier soll auch nicht das Programm, sondern eine Äußerung des neuen Intendanten der Alten Oper Frankfurt, Stephan Pauly, diskutiert werden. In einem Redaktionsgespräch mit der dpa, das die Frankfurter Rundschau heute online zitiert, sagt Pauly, Neue Musik brauche „einen neuen Kontext, neue Räume, neue Präsentationsformen“. Am wichtigsten sei „eine ungezwungene Atmosphäre“. Leider wird kein Wort der Begründung zitiert und stattdessen im Artikel fröhlich weiter kolportiert, dass er es trotz seiner Liebe fürs Zeitgenössische für „falsch“ halte, „Neue Musik in ein Klassikprogramm zu zwingen, nur damit man sie drin hat.“ Uff.

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Man darf einen Intendanten nicht allein nach seinen Äußerungen beurteilen, man muss seine Aussagen an seinem Programm messen. Aber dass in Frankfurt, das nicht nur Ackermanns, sondern auch Adornos Stadt ist, nun ein „Sonderweg“ für die Neue Musik gepredigt wird, das ist doch ernüchternd. Abgesehen davon, dass es wohl wenig sinnvoll und unkünstlerisch wäre, irgendwas nur zu machen, um es „drin zu haben“ – okay, man tut das dauernd… -; es ist ja nun nicht so, dass die Übergänge zwischen der Welt der klassischen Musik und der Neuen Musik so fließend wären, wie es die Traditionslinien beglaubigen. Im Gegenteil: Wenn man Neue Musik und Klassik trennen will, dann muss man erst einmal gar nichts tun. Dann lässt man einfach erst einmal alles so, wie es ist. Hier die (durch-)rauschenden Sinfonieorchester mit ihren bornierten Programmen, die – stellenweise durchaus erfolgreich – den Versuch unternehmen, mit einer Mischung aus Starkult und Sentimentalität affirmativ ein vermeintliches Modell des Lifestyle-Segments „Klassik“ zu zementieren, einzumauern. (In alten Mauern einzumauern. Museum trifft es nicht. Mausoleum schon eher. Und was unterscheidet Museum und Mausoleum? Genau: ein „au“. Das tut also weh.)

Besteht nicht das Abenteuer von Konzertdramaturgien genau darin, dass sie es ermöglichen, in der konzentrierten Dauer von knapp zwei Stunden inklusive Pause – die das heute gerade noch allgemein verträgliche Proben- und Hörmaß begrenzen dürften – Kontexte eröffnen, in denen neue Beziehungen und Perspektiven deutlich werden? Erfahrungen, die vorher nicht möglich waren? Aufgrund der Kombination älterer und jüngerer Werke, die sich so vor 30 Jahren noch nicht hätten begegnen können? Programme, die es erlauben, das Alte im Neuen und das Neue im Alten zu erkennen? Und zwar nicht in verquasten Werkkommentaren nachzulesen, sondern hörend nachzuvollziehen?

Ja, wo soll denn die Neue Musik anschließen, wenn nicht bei der Klassik? Beim Hiphop? Oder beim Jazz? Vermittlungsprojektgebeutelte Komponisten tun dies sicher ganz freiwillig. Zeitgenössische Komponisten wählen gar gelegentlich klassische Musik – man soll es kaum glauben! – als Anknüpfungspunkt. Doch haben sie – wenn sie nicht selbst dirigieren – viel zu selten die Gelegenheit, solche Anknüpfungs- oder Referenzpunkte auch im Konzert hörbar zu machen. Hierfür bedarf es mutiger Veranstalter, die es sich erlauben, ihrem Publikum vor der Sahnetorte auch noch eine Kreation der Nouvelle Cuisine zu kredenzen. (Der Ausdruck ist wohl gewählt – schließlich handelt es sich bei der Nouvelle Cuisine auch um eine Avantgardebewegung, die selbst von anderen Entwicklungsströmen überholt ist, aber deshalb nicht überkommen. So wie Werke aus den 1970er oder 1980er Jahren, die heute mit Fug und Recht immer noch als Neue Musik gelten und gelten dürfen.)

Klar, jetzt kann man sagen: Wenn die Leute für Sahnetorte kommen, warum soll man ihnen auch noch eine extrafrische Erdbeere mit einer ausgesuchten Pfeffersorte und einem besonderen Stück Käse kredenzen? Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber nach drei Stück Sahnetorte ist mir immer schlecht und so ein Erdbeertellerchen zwischendurch, Champagner nicht vergessen, steigert meinen Appetit auf Sahnetorten ungeheuer, wenn sie verstehen, was ich meine.

Man hat doch auch eine Verantwortung. Wenn man dafür bezahlt wird – durch öffentliche Mittel subventioniert wird! – dann hat man doch die Verantwortung auch ein bisschen was auf den Tisch zu bringen, was nicht nur aus der Tiefkühltruhe der Musikgeschichte kommt. Vom anhaltenden Trend zur Regionalküche in der gehobenen Restauration mal ganz zu schweigen. (Wir können gerne mal zu dem Thema essen gehen, wenn sie es vertiefen wollen.) Dass es auf die Mischung ankommt iat ja nicht mal ein Geheimnis und dass ich bereit bin, Zuchtgarnelen zu essen, um mich vom experimentellen Kräutersalat, der daneben liegt, entführen zu lassen – ist wahrscheinlich mein Mittelklasse-Ding. Aber ich verzichte echt gern mal auf Jakobsmuscheln, wenn mir diese nie versuchte Pilzkreation, heute erstmals auf der Karte, inspiriert von alten Rezepten, dafür serviert wird.

Jetzt sag ich mal den Satz, den ich mir die ganze Zeit schon verkneife: Es gibt in der gegenwärtigen Situation nichts Hilfloseres als die Neugründung eines Festivals für Neue Musik.
Um mich vor dem Vorwurf übler Nachrede zu verwehren – so etwas wie eine Neugründung eines Festivals für Neue Musik hat Stephan Pauly, dessen Äußerung Anlass, der aber natürlich nicht der einzige Adressat dieses osternächtlichen Pamphlets ist, nie gefordert. (Aber wenn Sie uns schreiben wollen, warum Sie so denken, dann bitte zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren, die Kommentarspalten sind ja dafür da. ;-) Laut dpa denkt er über

«Minifestivals» nach, ähnlich wie die Reihe «Auftakt», die sein Vorgänger Michael Hocks an der Alten Oper etablierte. Der neue Intendant will dabei auch andere Kunstformen ins Programm der Alten Oper einbeziehen wie Tanz, Film oder Literatur.

Hier haben wir sie bereits: die Suche nach weiterer Verfransung, die doch das einzige ist, was hilft in dieser gegenwärtigen Situation. Suchen wir die Verdichtungen in dem Gewebe, das wir Kultur nennen. Denn wenn der Zusammenhang erst schön dicht ist, dann können die Lockerungsübungen dem Programm gar nichts mehr anhaben.

Eigentlich müsste ich jetzt gleich weiter schreiben über die neurotischen Lockerungsübungen der Konzertveranstalter. Nicht, dass ich etwas gegen legere Präsentation oder von ambitionierten Designstudententen möblierte Alternativspielorte hätte. Aber denken wir doch wirklich gelegentlich darüber nach, welche entspannende Wirkung von den Strukturen eines Rituals ausgehen. Von jeher war es die Ordnung dieses Rahmens, die die Entgrenzungen dazwischen erst ermöglicht haben. Auch das Konzertritual hat diese Funktion.
Und jetzt verkneifen wir uns alle weiteren Kommentare über Menschen, die im Konzert Entspannung suchen, es gibt andere Etablissements, die sind darauf spezialisiert, und begeben uns vorsichtig vom dünnen Eis, von dem wir hoffen, dass es nicht bricht.

In diesem Sinne: Fohe Ostern allerseits.

Musikjournalist, Dramaturg