Aurenwechsel durch Zeit und Raum: ein Plädoyer für Minderheitenschutz
Lieber Moritz, hier meine Anwort auf Deinen letzten Artikel „Die Aura der Verfügbarkeit“:
Fangen wir mit Masturbation an. Diese ist janusköpfig, wie der „Angelus Novus“ Benjamins, wie eine Münze zwei Seiten hat, die Münze, welche mitunter den antiken Beginn von künstlerischer, besser kunstgewerblicher Reproduzierbarkeit darstellt. Hier könnte man jetzt ein Weiterdenken Benjamins versuchen, mit ihm beginnend: Eine Münze hat etwas Künstlerisches: das Abbilden des Herrschers, eines Staatsmottos, eines Münzwertes ist eine Unterform der Bildhauerei. Wäre sie nur in einem Exemplar vorhanden, hätte sie sogar die Merkmale von der Aura eines Kunstwerks: sie wäre einmalig, echt und in diesen beiden Eigenschaften auch unnahbar. Nun gab es sie aber mehrfach, tausendfach. Erstaunlich nur: Je schlechter die Prägetechnik, die Reproduktion, um so eigener ist, einmalig und echt wäre diese Münze, unnahbar in ihrer schlechten Qualität. Darüber hinaus ist sie Träger einen weiteren Aura: Jede Münze zeigt den Herrscher, dem man sich persönlich nur mit dem Gesicht im Staube nähern darf, der durchaus immer eine religiöse, kultische Funktion im Staatswesen einnimmt. Zudem der Wert des Metalls. So vereinen sich in dem scheinbar seiner künstlerischen Aura beraubten Objekt die verschiedenen Auren eines höheren Numens, dadurch greifbarer, aber nur symbolisch in Form dieser Münze. Durch die Zeiten hindurch verschwand der Herrscher, sein Staat. Die später archäologisch wiedergefundene Münze, ob schlecht oder gut geprägt, transportiert wieder alle, auch die verlorenen Auren: künstlerisch, metallurgisch wie kultisch. Im Museum ausgestellt kommt zuletzt eine weitere neuzeitliche kultische Handlung der einzigartigen Retrospektive dazu. Ferner wieder eine neue Form von Verfügbarkeit: Jeder Besucher des Museums kann sie problemlos betrachten, sich vielleicht sogar eine fotografische Reproduktion mit nach Hause nehmen oder gar im Internet als Bilddatei herunterladen, aus dem Netz herunterholen.
Es kommen somit verschiedenste Auren ins Spiel, als Haltung des Nutzers, ob er mit der Münze vor 2500 Jahren etwas bezahlen wollte, sie heute als Kunst sieht, ihre fotografische Reproduktion für ihn selbst einen Wert hat, den er zum kaufmännischen Handeln einsetzt oder prominent an seine Zimmerwand hängt, auf seiner Festplatte abspeichert. Vom Hersteller aus betrachtet war sie vielleicht nie als Kunst gedacht, aber in den Händen und Augen des Nutzers wird zu ebensolcher. Die Auren durchbrechen Zeit und Raum.
So wären wir wieder bei der Masturbation. Auch sie hat zwei Seiten. Sie kann ein Ausdruck schrecklicher Einsamkeit sein. Sie kann ein Ausdruck höchster individueller Freuden sein. Sie kann sogar Voraussetzung sein, um überhaupt zu zweit oder zu wievielt auch immer Sexualität geniessen zu können. Sexualität hat zudem durch die uns vorangehenden Kulturen und Weltanschauungen permanent ihre Einschätzung durch ihre Betrachter verändert. So steht heute unter Strafe, was den alten Griechen je nach Stadtstaat heilig, verfolgten Staat und Kirche bis in die Neuzeit, was uns heute selbstverständlich ist. Bevor man sich heute auf Experimente einlässt, kauft man sich ein Pornoheft oder holt sich Filme wie Bilder kostenlos oder gegen Geld aus dem Internet. Wie gesagt, man lädt herunter um herunterzuholen! Darin sind die implizierten Auren wiederum vielfältig: dem einen kann es nicht trashig genug sein, wie auf all den kostenlosen Homemadevideos, dem anderen taugen nur komplex inszenierte Plots um überhaupt in Stimmung zu kommen. Das hat in beiden Fällen nichts mit Bildung oder künstlerischer Erfahrung zu tun: Die größten Künstler und ihre Mentoren können das Schäbigste an Pornografie benötigen, um zum sexuellen Solo- oder Gemeinschaftsvollzug zu gelangen. Es sei weiterhin der Phantasie des Lesers anheimgestellt, welche großartigen Kunstwerke oder zumindest Ideen an entscheidenden Schnittstellen auf dem Weg zu ihnen hin aus solchen Abgründen entstehen können.
Zeitgenössische Masturbation nimmt also ihren Ursprung am häuslichen Rechner. Wie ist es mit Kunst, im Speziellen mit Musik bestellt, die auf diesem Wege der Verfügbarkeit genossen wird – ich erspare mir den Begriff konsumiert? Der Nutzer folgt in den meisten Fällen der Präsentation seiner Suchergebnisse: das meistgeklickte erscheint ganz oben. Es gehört schon eine gewissen Fuchsigkeit und ein nicht zu geringer Zeitaufwand dazu, die Suchkriterien optimal zu nutzen, so dass man einigermassen das Meistgeklickte umschiffen kann. Ungünstig ist daran nur, dass die Suchmaschine ihrerseits die vorgebliche Optimierung durch den Nutzer ausnutzt, um ihre Findungs-Ergebnisse dem Suchenden anzupassen – manchmal ein regelrechtes Katz- und Mausspiel: wie die besten Lebend-Schachspieler gegen die Rechner verlieren, verliert man als Musiksucher auf Dauer erst Recht. Zumindest der Kategorie „meistgeklickt“ oder „Käufer die Ähnliches wie Sie suchten“ oder „dies gefiel Deinen Freunden“ zu entrinnen, könnte gelingen, indem man die Ergebnisse einfach umdreht. Wie man sich Dateien auf dem Rechner auch einmal von der Kleinsten zur Grössten aufsteigend darstellen lassen kann, lohnt es sich, auf den letzten darstellbaren Seiten seiner Suche zu starten. Bei Tausenden von Ergebnissen genügt oft schon der Einstieg bei der fünften Seite, wenn man nicht eine total andere Sinnzusammenstellung seiner Suchwörter finden möchte. So kann man auch hier Zeit und Raum der Suche und ihrer Demokratisierung entweichen.
Das Problem ist und bleibt letztlich der Mensch, der Sucher, v.a. der Nutzer: einerseits kann er zeit- und raummächtig die durch wen auch immer implizierten Auren umkehren, ganz anders bestimmen – siehe oben. Angesichts des Rechners wird er aber nur allzu gerne zeit- und raumschwach und läßt sich fremdbestimmen, vermeidet geringste Kreativität, die ihm der Dienstleister anbietet und folgt dem Algorithmus der Suchmaschine. Positiv betrachtet kann ihm dieser durchaus helfen, um als Anfänger überhaupt zu einem Ergebnis zu gelangen. Negativ besehen wird nur die Werbung optimiert, die dazu die Ergebnisse vieler Suchen zu einem Massengeschmack kompiliert.
Soll man dem nun folgen? Dem Pornografie konsumierenden Künstler mag aus deren grässlichsten – und dadurch wieder spannendsten – Niederungen dank seiner Phantasie und Freiheit darin grosse Kunst entstehen. Interessant hierbei wiederum: wenn er einen Rechner, besonders ein Kompositionsprogramm nutzt, läßt er sich als Nutzer dieser Applikation im gewissen Grade durch die default-Einstellungen ähnlich fremdbestimmen wie ein Suchmaschinennutzer. Da gehört eine grosse Umgangserfahrung mit dem Programm dazu, eine fast schon informatikerhafte Programmierfreude wäre da gefragt. Ob künstlerische und programmierende Kreativität immer wirklich kongenial zusammenkommen, das wird nur sehr selten der Fall sein. So gehört für v.a. stark künstlerisch geprägte Künstler, die sich Vieles durch den Rechner vereinfachen können, ein systemisches Bewusstsein wachgehalten, welches im richtigen Moment die von Fall zu Fall notwendige Benutzungsgrenze setzt. Das Spielerische der heutigen Technik setzt diese allerdings gerne auch ausser Kraft. Denn es gilt: auch der Künstler ist nur Nutzer!
Masturbation, ob sexuelle oder kleinteilig künstlerisch-denkende, in Fällen mancher Denkblockade auch mal zusammengefügt, wird immer gefragt sein, um aus der einen Aura in eine andere gelangen zu können. Was sich an der Münze an Subjekt 1 (Hersteller) – Objekt (Münze) – Subjekt 2 (Nutzer) zeigen konnte, das durchbrechen der Auren in Zeit und Raum, was sich zwangsläufig ergibt, muss der Künstler in härtester Komprimierung des Zeitlichen und mit sich selbst als Subjekt 1 und 2 gelingen. Eine gelungene Masturbation hat oftmals einen höheren Orgasmus als zu zweit ausgelebte Sexualität. Diesen Akt muss der Künstler inner- und ausserhalb seinerselbst mit sich als sowie der Vorstellung seines künstlerischen Problems vollziehen und sich darin zuerst entgrenzen: Übung macht den Meister. Im nächsten Schritt gehört dann als Vorstellung ein Gegenüber impliziert. Mit diesem noch etwas später darauf in sexueller oder künstlerischer Gemeinschaft in ähnlichen Rhythmen kann eine weitere Entgrenzung vonstatten gehen. Gelingt in immer grösseren Masse Entgrenzung, ist das bekanntlich sehr einfach, so kann man ketzerisch sagen: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind – ist das Kunstwerk dann so oder so mitten unter ihnen. Der eine stellt sich was Billiges, der Andere etwas Teures darunter vor. Die Frage des gemeinsamen Rhythmus wird allerdings das Problem bleiben. Angesichts der zeitgenössischen exorbitanten Reizüberflutungen, der stupiden Ausrichtung an Massengeschmack, stellt sich die Frage, ob Entgrenzung komplexerer Art so einfach möglich ist! Ein kleines Beispiel: gestern hörte ich das dritte Konzert mit unbekannter Schumannscher Klavier-Orchestermusik. Eine Gazette kritisierte die Premiere, konzedierte dem Orchester den Kenntnismangel jener selten gespielter Werke. Am dritten Tage, um biblisch zu bleiben, klang es mehr als grandios. Vielleicht war es auch die Aura, das Unbekannte dieser Musik, die das Publikum unkritischer machte. Faszinos war, wie leer dann der Saal aufgrund des Unbekannten wieder an Abonnenten war, vielleicht auch wegen der Kritik in der AZ. Dennoch standen Reihen von kartensuchenden Leuten mit Schildern in der Hand an der Abendkasse, denen man aber keine Karte verkaufen konnte – was für eine Aura hatte da plötzlich der absente Abonnent. Nach dem Konzert in einem Cafe gegenüber: irgendwelche Plastikcharts laufen, die Jugend, vorher nicht im Konzert, zuckt cocktailschlürfend dazu. Auf den stummen Bildschirmen ein FC Bayern Dauerfeature: Die Leute werden unter euphorsierter Alkoholaufnahme sich zuletzt nicht an den aufgegabelten Bettgenossen erinnern, sondern an die Cocktails, ein wenig die Mucke und natürlich den FC Bayern, zumindest an die Gesichter der Starspieler. Was wäre nun, wenn man Schumann in die Mucke gemischt hätte, echten Absinth ausgegeben und statt den Fussballern die Klassikstars des Abends gezeigt hätte? Entgrenzung, ja. Aber hätte diese wirklich eine Chance gehabt? Progressive Musikvermittler würden „ja“ sagen. Wichtiger wäre aber etwas Anderes: gerade diese Durchmassung, Massendemokratisierung, die doch nur auf eine multiple Geschmacksverengung hinausläuft, schreit nach aggressiveren Minderheitenschutz denn je. Wie heisst es so schön: tue und lasse was Du willst – also lasse Dich auch auf Massen ein, solange Du dem Anderen nicht das Wasser abgräbst. Oder mit der GG-Bibel Artikel 2 Abs. 1:„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt (…)“. So gilt es Minderheitenschutz zu fordern wie eine Entgrenzung des Künstlers. Dieser werden aber auch im Besten Falle erstmal wenige habhaft werden können. Mag der be-komponierte Anlass noch so gross sein, es geht erstmal um den Anlass. War er letztlich für die Zukunft unerheblich, kann ein Aurenwechsel des Kunstwerks stattfinden, wie bei der Münze, wie bei Schuberts Rosamunde (wer kennt noch das Schauspiel, zu dem er seine Musik beisteuerte?). Doch braucht es viel Zeit, um diese Aura der Verfügbarkeit zu erreichen.
Komponist*in
Für mich klingt hier eine gewisse Larmoyanz durch – schließlich kann jede/r komponieren, wie er/sie will, dies ist ein freies Land. Dabei unterlaufen doch jedem mal „Kleinteiligkeiten“, die evtl. nicht so ganz „sozialverträglich“ sind (will sagen: Verspieltes, Selbstverliebtes, oder schlicht Abwegiges, rein Selbstbezügliches, auch Dämliches): – „Gewichse“ eben! Doch für derartige Hervorbringungen braucht es doch keinen „Minderheitenschutz“! Wer dies fordert, macht sich selbst ohne Not zum Kuriosum, das es dann um jeden Preis zu erhalten gelte – aber mit welchem Recht eigentlich? (Nur damit wir uns richtig verstehen: dass erotische Fantasien, seien sie auch noch so politisch inkorrekt (z. b. rassistisch, sexistisch, sadistisch, masochistisch, gewalttätig etc.), die Kreativität anregen können – geschenkt!)
Umgekehrt wird ein Schuh draus: Entgrenzungen komplexerer Art waren wohl niemals so einfach möglich wie heute, denn niemals war es, nach meiner Erfahrung, risikoloser, sich dem Massengeschmack durch Individualisierung zu entziehen, ohne dass man deswegen gleich als schräger Vogel angesehen wird. Die Leute sind einfach verdammt tolerant geworden. Worunter man dann natürlich auch wieder trefflich leiden kann. Der geeignetste Ort für Entgrenzungen wirksamster Art wäre nach dieser Logik der Iran. Oder Saudi-Arabien. Auch Nordkorea käme gut.
…heißt für mich, zugegebenermaßen polemisch zugespitzt formuliert: Ja, wir brauchen eine aggressiv geschützte schöpferisch masturbierende Minderheit, die uns den geschmacksverengten demos vom gequälten Leibe hält!
Stellen sich zwei Fragen:
1. Wer ist „wir“?
2. Wer soll hier „aggressiv schützen“? Die GEMA?
Und weiter: Wie soll geschützt werden? Und was eigentlich? Künstlerische Sensibiliät? Ist das nicht eine hauptsächlich intrapersonale Angelegenheit (außer, es geht um die kreative Frühförderung, aber das scheint ja hier nicht das Thema zu sein)?
Schließlich: Die Gleichung „Durchmassung = Massendemokratisierung = multiple Geschmacksverengung“ passt zwar prima zu Argumentationsmustern der „Konservativen Revolution“ in der Weimarer Republik (Hugo von Hofmannsthal, Stefan George etc.), taugt aber meiner Meinung nach nicht zur Analyse der postdemokratischen Gesellschaft des Jahres 2012.
Deutlicher: fällt mir nix ein, habe ich eine Denkblockade, dann auf zum wi****. Nachdenken, nach aussen getragenb als Nachdenklichkeit ankommend, tituliert mancher seinerseits als Hirnwichserei. Sollte es sich dabei gar um Querdenken handeln, macht man sich allseits recht unbeliebt. Im kompositorischen Arbeitsprozess, im künstlerischen Leitungsprozess kommt mann meistens nur so weiter, über sich hinaus. Und wie oft eckt man dabei an, wird darin behindert. Dafür verlange ich mehr Respekt zu einer Zeit, wo einerseits Teamfähigkeit eines der grossen soft-skills ist, andererseits genau in diesem Teamgeist das einzelne Visionäre oder schwächer gesagt, Ideenreiche untergebuttert wird. Viele Köche… Und: verdammt nochmal, die Gesellschaft hat auch das in ihren Auge Kuriose zu ertragen, sich anzustrengen nicht nur als kurios abzustempeln oder nochmals anders: Nicht Alles ist Hurz und Dirk Bach.
Ich würde die aktuelle Toleranz eher als Teilnahmslosigkeit bezeichnen. Gepaart mit einer anerzogenen Rücksichtslosigkeit im richtigen Moment des Wettbewerbs ist sie das soziale Anästhetikum, um ja das Andere neben sich nicht aufblühen sehen zu müssen: offiziell nett zueinander sein, dennoch im rechten Augenblick der gezielte Tritt.
Mir persönlich erscheint der Rückzug aus der Masse doch riskanter: man kann sich ungestraft individualisieren, nur ist man aus ihr hinaus, wird man um so mehr mit Ignoranz gestraft, eben zu Hurz und Dirk Bach erklärt. Man muss dann schon so dreist wie Bohlen oder Raab auftreten – denen geht es aber nicht besonders um „Masse“?!?
Weimar und heute sind schwer zu vergleichen, andererseits: Aus dem Krisenhaften von damals lassen sich garantiert auch Rückschlüsse zum Heute ableiten. Überspitzt auf der anderen Seite: un-demokratisch (Weimar), post-demokratisch (heute?) ist beides somit nicht demokratisch! Und Herrschaft der Masse, was Demokratie bedeutet, bedeutet eben nicht nur Herrschaft der Masse. Diesen Versuch haben neben dem aleatorisch-demokratischen Athen nur noch die totalitären Massengesellschaftssysteme des 20. Jhds. mit ihrem „Volkswillen“ unternommen. Am Beginn der modernen Demokratie, so abgeglitten sie dann oft waren, steht neben dem Mehrheitsprinzip v.a. die balance of power, die Erklärung der Rechte des Einzelnen. Dazu gehört es eben, ein abgedrehter Neue Musik-Mensch, E-Musik-Freak oder auch ein Anhänger der Sub-Substile des Metal, etc. zu sein. Und darin geschützt zu sein.
Aber bleibe ich bei der Neuen Musik: sie kämpft in ihrem klassisch-öffentlich-rechtlichen Rahmen um die Daseinsberechtigung. Solange da Verkrustungen aufgebrochen werden, wohl auch zurecht. Sie erklärt sich allerdings dermassen selbst ihr Ende, wie das jene sog. U-Musik-Subsysteme niemals von sich behaupten würden. Damit gräbt sie allerdings all denjenigen, die zwar die Notwendigkeit von Änderungen sehen, aber nicht an die Selbstabschaffung denken, das Wasser ab, welches wiederum Wasser auf den Mühlen der ignoranten externen Exitusherbeisehner ist. Da geht es nicht um die GEMA – was soll die hier? Nein, es geht direkt um die Frage, wann das Selbst- und Fremdabschaffungsgelaber in die Persönlichkeitsrechte derer eingreift, die sehr wohl eine Zukunft sehen und an dieser werkeln. Und wie weit sind wir inzwischen von der wahren Toleranz entfernt, sie wenigstens weiterwerkeln zu lassen? Wenn es eben nur noch um gefällt/gefällt nicht Quotierung geht, wenn es um’s Geld geht, dann macht es keinen Spass mehr, dann geht’s nur noch um’s Finanzielle. Somit wird’s mal wieder Zeit, dass sich die „Gesellschaft“ mit Freuden Partituren um den Kopf schlagen lässt. Ich bekomme darauf gerade sehr grosse Lust…
Erstens war Weimar bzw. die Verfassung als solche nicht undemokratisch (sogar der Reichspräsident wurde direkt vom Volk gewählt, so wie heute ja auch immer mal wieder gefordert, natürlich mit den entsprechenden Konsequenzen); zweitens weiß ich gar nicht bzw. hat mir noch niemand einleuchtend erklären können, was post-demokratisch eigentlich heißen soll? Es gibt bei uns Wahlen, man kann hingehen und alle möglichen Leute in alle möglichen Gremien hineinwählen. Oder man läßt es bleiben. Was genau ist daran Nach-Demokratisch? Und warum soll Nach-Demokratisch gleichbedeutend sein mit Undemokratisch? Undemokratisch ist ja höchstens die ganze Neue-Musik-Meschpoke, wo niemand irgendjemanden in ein Gremium wählen oder, was noch viel wichtiger wäre, von dort herauswählen kann.
Ja und genau diese Vereinzelung wird dann nachher lang und breit beklagt. Wenn man sich selbst schon in ein Kleinst-Subkultürchen einordnen lassen will, woher nimmt man dann den Anspruch auf gesamtgesellschaftliche Relevanz? Und als Neue-Musik-Komponist auf den angeblich kleinstteilig zersplitterten Metal-Stilen herumzureiten ist mir dann doch mit zu großen Steinen im Glashaus geworfen.
Das hört sich ja immer so wunderbar kämpferisch an: Die Gesellschaft muss, die Gesellschaft hat zu, die Gesellschaft, die Gesellschaft. Nur: Es gibt ja gar keine Gesellschaft. Es gibt nur meinen Nachbarn und dessen Nachbarn und meine Bäckereifachverkäuferin und die Kassiererin im Lidl und die an der Tanke und meinen Hausarzt usw. usw. Und denen ist im Zweifelsfall meine Neue-Musik-Abseitigkeit scheißegal. Zurecht. Wie käme ich denn dazu, von denen irgendeine Anstrengung in Bezug auf meine Musik zu verlangen? Das kann ich allerhöchstens noch von den Musikern einfordern, die meinen Kram spielen wollen / müssen. Ich glaube ehrlich gesagt, Teilnahmslosigkeit ist das Maximum, was in statistisch relevantem Maß an Toleranz zwischen Menschen rauszuholen ist. Alles andere, weitergehende riecht dann schon wieder sehr stark nach „Volksbeglückung“. Kunst braucht zur Durchsetzung keine Toleranz. Das würde ja zu der grotesken Feststellung führen, daß es in weniger toleranten Gesellschaften als der unseren keine (große) Kunst geben kann. Nein, Kunst braucht Überzeugungskraft. Daran mangelt es. Aus welchen Gründen auch immer.
Goljadkin
Lieber Goljadkin, mal wieder eine viel zu lange Antwort…:
Sie machen es sich zu einfach. Und Sie lesen ungenau. Mir geht es nicht um das Schreddern des Metals oder welcher Musik nur immer. Es geht mir im letzten Kommentar im Prinzip nicht um die Kunst an sich. Es geht mir um die Menschen, die hinter ihr stecken. Wundersam ist folgendes: Werden BäckereifachverkäuferInnen, noch besser Angestellte einer großen Ladenkette entlassen, verklagt, das eine aus nachvollziehbaren Gründen wie z.B. Unrentabilität einer Filiale, das andere wegen unterstellten Bagatelldiebstahls oder Teilnahme an Betriebsratsgründungen, was jedes für sich unsozial, menschenverachtend, machtgeil sein mag, gehen kleinere und größere Aufschreie durchs Land. Wenn Orchester fusioniert, geschlossen werden, wenn Museen ihre Eintrittspreise erhöhen, wenn angestelltes künstlerisches Personal in Theatern Tarifanpassungen verlangt, wenn Probenräume für Bands nicht zur Verfügung gestellt werden oder auch wegrationalisiert werden, Kinos schliessen, dann wird die Solidarität schon brüchiger. Kann ein normaler, durchaus mittelmäßiger Künstler keine Ausstellungsräume mehr finden und entsprechend Personal dafür beschäftigen, ein freischaffender Freie Theatergruppen Regisseur/Produzent nicht mehr Stücke unterbezahlt und bescheiden finanzieren, kräht kein Hahn danach, ist es bereits anmaßend, Solidarität einzufordern. Geschweige denn beim Komponierenden. Es sei unterstellt, dass man die o.g. Verkäuferinnen wirklich nicht mehr benötigt werden, es sei zugegeben, dass die letztgenannten Künstler seit einiger Zeit sich inhaltlich im Kreise drehten. Ist es aber subjektiv gerecht, dass diesen Leuten weitere Entwicklung genommen wird, abgesehen von unterqualifizierten Maßnahmen eines Jobcenters? Ist es objektiv richtig, dies auf die brachialste Tour durchzuführen: Menschen vom Einkommen ihrer ihnen vielleicht sogar Spass machenden Arbeit zu trennen? Nein, natürlich nicht!
Allerdings ist es heute gängiger Brauch, genau so zu handeln: Dem anderen letztlich das Wasser abzugraben. Damit sind wir dann sogar ganz schnell wieder bei der GEMA: So reformlahm diese Gesellschaft und ihre Mechanismen, ja ihre Köpfe sein mögen. Gerade hier zeigt sich manchmal vernünftige Solidarität innerhalb einer Sparte. Manchmal natürlich überhaupt nicht. Und es ist dort einerseits inzwischen Mode, auf Teufel komm raus sein Recht vor Gericht zu erklagen, gerade wenn es um die maximal marktwirtschaftliche Bewertung von Musikschaffen und dessen Aufführen geht. Wie gerne hackt man zudem zur Zeit auf der E-Musik, gar nicht mal allein der Neuen Musik, herum, wie bereiten sich manche auf das Ableben der Einnahmefelder der E-Musik vor, um sie dann sich einzuverleiben. Nun gut. Von extern wird sowieso gerne auf die GEMA geschossen, als sei sie ein Konzern. Dabei ist sie eine Sozietät tausender, einzelner Autoren, im Gegensatz zu den konzerngeprägten Schwestergesellschaften im Ausland. Wasser abgraben ist wohl massiv in, sich dagegen wehren noch zu ungewohnt. Aber was soll das GEMA-Beispiel, es ist abgenutzt und bringt auch nicht weiter.
Richtig spannend wird es, wenn Mitglieder der Neuen-Musik-Szene selbst deren Ende fordern. Und mit fehlenden Inhalten argumentiert wird. Ein Merkmal von implizierter, vielleicht sogar angemasster Avantgarde der veralteten Szene, mag tatsächlich die Forderung nach Neuem sein, Loslassen, Tabuisieren des Alten. Hübsch ist den Selbstaschaffungsparolen anzusehen, wie ihnen selbst das Inhaltliche, das Neue im Künstlerischen fehlt. Der Maximalstandpunkt ist derzeit, und noch am ehesten inhaltlicher Natur, hier maximal vereinfacht: Neue Medien machen Neue Musik überflüssig, wenigstens mit den Doppelrohrblattinstrumenten. Das schwächere Argument: Neue Musik muss den Pop imitieren. Eine der schwächsten Forderungen, aber in der Aussenwirkung fatal: Uns bzw. Euch hört doch sowieso keiner. Gut, das wäre es dann gewesen! Weg mit dem ganzen Kram. Das Subventionssystem auch.
Klar. Zeiten ändern sich, manchmal die Menschen. Und es mag der Neuen Musik tatsächlich ein wenig an ganz großen neuen Themen fehlen. So geht es aber jeder Kunstform. So geht es der Technik, der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Politik. Neue Mondflüge mit Menschen, wieder verschoben, Marsflüge auch. Ein Riesen-Cern wurde gebaut, man redet immer wieder von Fusionstechniken – ausser in der Kultur und Wirtschaft, ist der grosse Fortschritt seit 50 Jahren immer noch 50 Jahre entfernt. Ich spare mir mehr. Dennoch wird massiv subventioniert, im Ackerbau immer noch, etc. Warum soll nun das Neue-Musik-Fördersystem den Anfang machen? Ja, es ist klein und deshalb schnell, nachhaltig einzustampfen. Aber soll man das hinnehmen?
Avantgarde hierbei wäre, es tatsächlich radikal zum reformieren. Gerade wird es auf reine Vermittlung getrimmt, um gerade die Kinder der Bäckereifachverkäuferin an die Neue Musik zu gewöhnen. Dies will ich aber gar nicht. Mir ist auch egal, ob meine Händler, gar mein bester Freund mit meiner Musik was anfangen kann – letzteres hat natürlich auch seine Schmerzgrenzen, wenn der nur noch von seiner Meteorologie reden würde. Im Gegenteil: Es freut meine benachbarten Händler z.T., dass sie eben einen Musiker kennen, vollkommen unabhängig von seiner Musik. Wie es mich freut, dass ich ein wenig meine Kleinversorger kenne. Und es immer Bestürzung auslöst, wenn wieder ein Designer den Laden in sein steriles Büro verwandelt.
Wie gesagt, wenn es ans Eingemachte geht, man sich ästhetisch sogar wegrationalisieren soll, ist bei mir das Ende der Fahnenstange allmählich erreicht. Ich sehe gar nicht ein, mich aufgeben zu müssen. Allein meine Existenz erzeugt schon Relevanz – sage ich mit aller Arroganz, aller Bestürzung, es sagen zu müssen. Und an Inhalten, da muss ich mich nicht verstecken. Das Politische, ja das Zeitpolitische spielt bei mir immer wieder eine Rolle. Der Austausch zwischen den Stilen, den Genres, das Hermetische, das zu Öffnende der eigenen Provenienz, das wird immer wieder durchgehechelt. Das erträgliche Maximum an individueller Heterogenität, die Zuspitzung des Elfenbeinturmes andererseits. Ich denke sagen zu können, dass ich mittendrin in den Inhalten der Zeit stehe. Die Ergebnisse sind natürlich sehr unterschiedlicher Qualität, auch strebte ich bisher nicht mit aller Konsequenz auf die grosse Bühne, was ich natürlich tue, wofür ich auch schon gewaltig einsteckte. Aber Inhalte? Mir fehlen sie nicht.
Ich denke, der Freiraum Neuer Musik ist vielleicht sogar erst richtig zu schaffen, damit es echt plural zugehen kann. Die Frage von Gremienbesetzungen, Machtposten, etc,, da gehört mal ein richtiges internes S21 auf die Komponistenforen, da stimme ich Ihnen voll und ganz zu! Und natürlich muss unsinnige Subvention wieder sinnvoller werden, muss auch die Öffnung beiderseits weiterbetrieben werden. Die Selbstabschaffung aber, die sollte geächtet und tabuisiert werden! Wie die Kernfusion braucht eben auch die Neue Musik ihre Zeit, dann und wann was Weltbewegendes zu schaffen. Und so banal es klingt: ich denke schon, dass durch alle lebenden Generationen dieser kleinen Sparte Wichtiges komponiert wird, das lohnend präsentiert werden sollte. Ich kann nur empfehlen, immer wieder dem Rechner auch zu entfliehen oder eben ihn gerade zur Jagd auf das Unauffindbare einzusetzen. Wenn man ihn ausmacht, dann nicht nur in Offoff-Konzerte gehen. Ich war letzten Samstag mal wieder ganz hin und weg, wie voll doch die musica viva gewesen ist. Natürlich die Fachschaft, aber eben auch viel normales Neue-Musik-Abo-Volk, generationsgemischt! Das war kein Olympiastadium, solche Vergleich sind auch Unfug! Immerhin 1100-1400 Menschen… Also: Exekutionskommandos für Selbstabschaffer?!? Soweit möchte ich nicht gehen – mir wird aber immer mehr nach Klassenkampf!
@ Alexander Strauch:
Ja natürlich mache ich es mir einfach, ich sehe auch gar nicht ein, warum ich es mir über Gebühr schwer machen soll. Immer diese ewige Angst, unterkomplex zu wirken. Und das ungenaue Lesen muß ich leider an Sie zurückdeligieren in Form des ungenauen Schreibens. Trotz mehrmaligen Lesens ist es mir nicht geglückt, herauszufinden, was Sie eigentlich beklagen / verändern wollen, wer das eigentlich machen soll und warum überhaupt. Für sich selbst grundlegende Menschenrechte einzufordern à la „Ich lebe, also bin ich relevant“ ist mir dann doch etwas sehr vage.
Abgesehen davon entzieht man damit jeglicher Kunstkritik (ja, ich weiß, im Grunde ist auch Kunstkritik scheiße) bzw. jedweder ästhetischen Diskussion von vorneherein die Grundlage: Man entzieht sich der Konfrontation, der Reibung, die auch Sie immer wieder eingefordert haben. Keine Frage, eine gewisse Arroganz ist als Künstler schon von Nöten, schließlich produziert man nicht nur nichts, was irgeneinen praktischen Nutzen hätte, sondern im Gegenteil will man die Menschen auch noch aus ihrem behäbigen Alltagstrott treiben, will ihnen den Spiegel vorhalten, sie zum Denken zwingen. Das erfordert schon ein gerüttelt Maß an Selbstüberschätzung, das man aber eben mitbringen muß.
Auch so ein merkwürdiges Argument: Die anderen können ja auch nichts, also ist es vollkommen in Ordnung, wenn wir ebenfalls nichts zustande bringen. Wenn man sich mit dem Ackerbau vergleicht, muß es einen nicht wundern, wenn man selbst am Ackerbau gemessen wird. Und eine Kartoffel ist eben eine Kartoffel und macht satt, aber einen neues Strauch’sches oder Goljadkin’sches Stück, das macht ja gar nicht satt, das will ja noch was von mir.
Mal abgesehen von der Tatsache, daß obige Unterstellung für die wissenschaftlichen Bereiche schlicht nicht stimmt, muss man sich immer vor Augen führen, daß der Künstler so gesehen erstmal nur Abfall produziert. Der Haufen Noten oder Plastik oder Metall oder Worte hat keinen über sich selbst hinausgehenden Wert. Es sei denn, jemand stellt sich davor und betrachtet es, oder setzt sich in einen dunklen Raum und hört es oder liest es oder was auch immer. Dann entsteht im Dialog zwischen Rezipient und Abfall auf wundersam-merkwürdige Weise das Kunstwerk, das Fragen des Selbst berührt, die kein LHC oder Marsflug in dieser Form stellen könnte. Das Kunstwerk ist für mich vor allem eine soziale Größe, keine absolute, für sich selbst stehende (daß ein Kunstwerk einen Dialog von sich aus auch hergeben muss, ist ja wohl klar). Ein selbsternanntes Kunstwerk, das in der Schublade vor sich hingammelt, ist einfach keines, es ist ein Haufen verrottendes Papier. Etwas anderes zu behaupten, wäre mythologische Überhöhung. Daraus folgt nun ganz einfach und unterkomplex, daß eine Kunstsparte, die niemanden mehr interessiert, keinen Anspruch auf gesamtgesellschaftliche Unterstützung mehr hat. So gerne ich Orchestermusik mag und komponiere, ich kann mich doch nicht hinstellen und fordern: Leute, ich brauche aber ein Toporchester für mein dreimilliardstes Orchesterstück, das letztendlich doch nur eine Strauss’sche Tondichtung in moderner Verkleidung ist. Selbstverständlich sagt mein Nachbar, daß er das mit seinen Steuern nicht bezahlen will. Ich will ja auch nicht seine Modellbaueisenbahn subventionieren, auch wenn es eine ganz tolle Anlage ist, mit digitaler Steuerung und allem anderen Firlefanz. Auf diese Situation kann man auf zweierlei Weise reagieren: Man stellt sich (wie Sie) verbissen auf den Standpunkt (mal überspitzt formuliert), daß mein Nachbar es nicht nur trotzdem bezahlen muss, sondern er seinen Kindern gefälligst auch noch beizubringen habe, daß das eine ganz wunderbare Sache sei. Oder man nimmt die veränderten Umstände als Herausforderung an. Dann gibt es eben keine neuen Orchesterstücke mehr. Na und, die Menschheit ist den überwiegenden Teil ihres Erdendaseins ohne 120köpfige Orchester ausgekommen. Dann gibt es eben keine großen Opernhäuser mehr. Genauso na und, auch die gibt es erst seit kurzer Zeit und vorher ging’s auch ohne. Der status quo ist nicht zu halten, egal wo und gegen wir demonstrieren gehen. Da bin ich aber dann doch lieber dafür, das Wort von der Avantgarde endlich mal wieder ernst zu nehmen, künstlerisch und auch sozial. Da könnte die Neue Musik sich mal wirklich erneuern, vorangehen, staksig vielleicht zuerst, aber dann um so froheren Mutes.
Ich finde, wir leben in einer Zeit der Geburtswehen: Das Neue wächst irgendwo im Verborgenen, traut sich noch nicht richtig ans Licht, steckt vielleicht erst halb im Geburtskanal. Aber wenn es erstmal in voller Lebensgröße da ist, wird es das schönste Kind von allen sein.
Goljadkin
Das dreimilliardste Orchesterstück empfinde ich als sinnvollere Investition als das dreimillardste Todesopfer durch jenes Geld, welches in das Töten von Menschen oder in die Entwicklung dafür geeigneter Apparate gesteckt wird. Solange mehr Energie in unmenschliches statt menschliches gesteckt wird, ist dieses Argument für mich indiskutabel.
@ strieder:
Naja, also das ist nun ein richtiges Totschlagargument. Oder vielmehr ist es ja gar kein Argument, sondern bloße Polemik. Als hätte ich dafür plädiert, das Geld aus der Kulturförderung abzuziehen und in die Rüstungsindustrie zu stecken. Aber das ist so das wohlfeile Gutmenschdenken, das sich in unserer Generation breitgemacht hat: Es kostet niemanden von uns irgendetwas, gegen die Vernichtung von Menschenleben irgendwo auf der Welt zu sein. Die Kosten dafür haben andere vor uns für uns entrichtet bzw. entrichten sie in diesem Augenblick irgendwo auf der Welt.
Liest sich aber auf jeden Fall wunderbar politisch engagiert, wenn man mit solchen Parolen daherkommt. Und erstickt aufs Zuverlässigste jegliche Debatte, die unterhalb des Niveaus, wo es um bloße Menschenleben geht, ansetzt. Nicht daß ich jetzt als grundabgebrühter Zyniker missverstanden werde: Die Menschenleben haben Sie, Herr Strieder, ins Spiel gebracht. Mir ging es lediglich um den weit weniger lebenswichtigen Zustand der Neuen Musik.
@Goljadkin: Diese Antwort hatte ich vorausgesehen, aber das war mir egal.
@Alexander Strauch:
Nochmal: dies ist ein freies Land, im Gegensatz zu China braucht es in Deutschland keinen Ai Weiwei, um die Freiheit der Meinungsäußerung zu erkämpfen. Mir ist hierzulande noch kein wie auch immer geartetes obrigkeitliches „Kompositionsverbot“ begegnet. Eine andere Sache ist die berühmt-berüchtigte „gesellschaftliche Akzeptanz“, oder, moderner formuliert: „Anschlussfähigkeit“ der Zeitgenössischen Klassischen Musik. Dass es daran „hapert“, ist allgemeiner Konsens.
Aber hat das Conlon Nancarrow gekümmert? Oder James Tenney? Luc Ferrari vielleicht?
Diese Herren waren schlicht intrinsisch motiviert, sie arbeiteten aus freien Stücken an der Lösung selbstgestellter musikalisch-ästhetischer Probleme.
Ich gehe jetzt mal davon aus, dass auch sie sich freuten, wenn sich jemand für ihre Sachen interessierte, doch sind sie, nach meinem Kenntnisstand wenigstens, nie auf die Idee gekommen, „Minderheitenschutz“ für sich einzufordern oder gar der „Gesellschaft“ ihre „Partituren um die Ohren zu schlagen“ (sic!), wenn’s mal nicht so gelaufen ist! Sie waren in Ihrem schöpferischen Tun eben Individualisten und Enthusiasten, keine beleidigten Oberlehrer.
Wer, wie in deinem obenstehenden Artikel geschehen, einerseits über die „multiple Geschmacksverengnung“ der „durchmassten Demokratie“ lamentiert, auf der anderen Seite aber ständig meint, die „Gesellschaft“ würde ihm aufgrund selbst attestiertem „querdenkerischen Ideenreichtums“ Respekt, Toleranz und letztlich Euros schulden, der darf sich nicht wundern, wenn er zum Troubadix des gallischen Dorfes wird.
Minderheiten sind das kostbarste Gut jeder Gesellschaft, da sie jene sind, welche losgelöst von „der Masse“ diese von „aussen“ betrachten können, während „die Masse“ selbst, „innen“, sich selbst nicht sieht und alles als gegeben hinnimmt. Natürlich ist letzteres nicht „der Masse“ anzulasten, sondern jenen Wenigen („Mächtigen“), welche „der Masse“ eine Wahl nur zwischen identischen Dingen vorgaukeln.
@ strieder:
Und weiter geht’s mit dem pseudo-politisch-aufklärerischen Blabla. Minderheiten gegen Massen und alle irgendwie gegen irgendwelche obskuren Mächtigen. Bloß dumm, daß niemand einer aus der dumpfen, kuhäugig glotzenden Masse sein will. Und schon gar keiner einer von den oberbösen Mächtigen, die auf ihrer Geheiminsel im Pazifik an der Weltherrschaft arbeiten. Also ist jeder seine eigene Minderheit, mithin ein Opfer der ihn umgebenden Masse und der katzestreichelnden Mächtigen sowieso. Und somit automatisch per Selbstablass jeglicher Verantwortung enthoben.
Das nenne ich dann allerdings schon zynisch, wenn Strauch und Strieder sich hier als Angehörige einer unterdrückten Minderheit präsentieren, während, um mal Ihre „Argumentation“ auf Sie selbst anzuwenden, Herr Strieder, woanders (auch bei uns im post-demokratischen Deutschland) Angehörige wirklicher Minderheiten täglich um ihr Leben bangen müssen. Die hören bestimmt gerne, daß sie das Salz in der Suppe der Gesellschaft sind, während sie von realen Unterdrückern mit realem Sprengstoff real in die Luft gejagt werden.
Ach, nun habe ich diesen Post doch tatsächlich hingeschrieben, wo ich ihn bei den hellseherischen Fähigkeiten von Herrn Strieder doch noch nicht mal hätte denken brauchen …
Goljadkin
Also mit anderen Worten: Solange irgendwo noch schlimmeres Unrecht geschieht, ist das Unrecht vor der eigenen Türe irrelevant. Das nenne ich mal ein Todschlagargument.
@ Stefan Hetzel: Mein voriger Kommentar versuchte, ein grundpositives Beispiel von „Massenansprache“ extremerer Neuer Musik zu bringen: die Musica Viva Reihe des BR. Alt, sehr alt, älter als die BRD, mit einem Hang zum nicht immer Allerneuesten, dennoch darin immer wieder den Jüngeren zugewandt. Ein Forum, das wirklich besser besucht wird, als man es bei Neuer Musik erwarten würde, man kann von annähernd vollem Hause sprechen. Und dies als Abo-Unternehmen! Orchesterkonzerte der Biennale z.B., bei Maerzmusik und dgl., Festivals mit Ballungscharakter und dem Hang, so eher ein grösseres Publikum zu ziehen, erlebte ich schlechter besucht. Am ehesten können Veranstaltungen von eclat und natürlich der Donaueschinger Musiktage mit der Musica Viva mithalten bzw. umgekehrt. Ein bewährtes Format, vor einigen Jahren schon mal substanziell bedroht, in der Anzahl der grossen Orchesterkonzerte heute reduzierter als zu vergangener Zeit. Nur zählt das Argument des schlechten Publikumsbesuches nicht mehr wirklich. Es gibt ein Publikum, das geschürft wurde, welches diese Art Neuer Musik durchaus gerne annimmt, sogar „benötigt“, dem sie Lebenselixier ist, um bei den Galliern Uderzos zu bleiben. Wie wichtig sie selbst hart rangenommenen Kindern sein kann – s. den Kampf um das Jugendorchester Marzahn-Hellersdorf…
Auf der anderen Seite: Neue Musik geht bei manchen Sendern kaum noch durch, siehe die Berichte hier im Blog über NDR, ZDF. Sieht man auf kommunale Haushalte vieler Städte, schrumpfen die Gelder massiv für Freie Szenen, ist das öffentliche Fördervolumen Berlins der freien Neue Musik Szene inzwischen bei ca. 130 000 Euro angekommen – im Vgl. München bei ca. 250 000 Euro und einer sehr überschaubaren Szene. Droht Berlin nicht, wie Ignaz Schick letzthin auf einem Symposium der MGNM berichtete, die Gefahr einer kompletten Übernahme dieser Mittel durch einen sich neu formierenden music-board der musikalischen Kreativwirtschaft, die dies knallhart mit ihrem riesigen Steueraufkommen begründet? So zumindest mein Informationsstand, gerne berichtigungsfreudig, wenn jemand Zurechtrückendes dazu beitragen kann.
Erinnert sich zudem niemand mehr, wie wir uns in den letzten zwei Jahren seit Bestehen des Badblogs petitionswund getippt haben? Die Situation für heutiges Komponieren im Sinne von Aufträgen wie von Eigenproduktion oder gar kleinsten Aufführungen ist mehr denn je eine schwierige. Dennoch läßt sich bei einiger Hege und Pflege das ach so absent gescholtene Publikum gewinnen, erobern, erhalten, ausbauen. Fährt man die bestehenden Infrastrukturen gegen Null, ist das Publikum weg. Wie o.g., Festivals sind nicht der Ausweg, auch längere, aber befristete Projekte leisten nicht das, was regelmässige, gut gepflegte Reihen leisten.
Das führt zur jetzigen Situation: ja, die verbesserte Technik, die heute in ein Notebook passt, die Tonproduktionen erlaubt, es ermöglicht auch jenseits grosser Apparate permanent, in einfachen Interventionen an fast jedem Platz Musik zu spielen, die der Komponist als sein eigener Solist „performen“ kann. Das ist sehr reizvoll, das findet auch sein Publikum, ja, das hat auch seine Zukunft, vielleicht sogar eine grosse. Es gilt allerdings: So sehr diese Kunstausübung auch den Komponisten benötigt, so geht sie nicht in erster Linie vom Komponisten aus. Sie ergibt sich der Tatsache, dass es heute schlichtweg erheblich billiger ist, Musik so durchzuziehen. Es handelt sich aber nicht um neue Schreibtechniken, die dazu führten, vielmehr passten diese sich dem Rechner an. Ja, es gibt PC-Quartette anstelle von Streichenden, etc.
Aber, aber… a b e r: nach wie vor bedient man sich als komponierendes Menschlein gerne von Instrumenten, neben all den neuen elektronischen benutzt man genauso immer noch hochentwickelte klassische Instrumente, die am ehesten durch für Orchester ausgerichtete erlernt und gepflegt werden. Und zieht es diese Musiker nicht in Orchester, freuen sie sich auf ihre Spezialensembles, wenn sie freischaffend sind, gibt dies neben all den Unterrichtsfoltern, so erquicklich die sein können, den meisten der Musiker das rechte Gefühl „gebraucht zu werden“, das „Eigentliche“ ausüben zu können. Dies ist allerdings immer schwieriger durchzuführen, zu finanzieren. Das mag z.T. zu oft publikumsleere Selbstbefriedigung sein. Das kann beim einigermassen gelungenen Programmieren, Platzieren auch kleine bis grössere Erfolge, gerade mit den unbekannten, neuen Musiken hervorbringen, fordert die Musiker, sich weiterzubilden, den professionellen Stand zu wahren. Das gilt übrigens auch für die weit o.g. Neue-Musik-vielspielenden Orchester.
Und was braucht es dazu, als Notenlieferant wie genauso oft als Ko-Organisator? Den Komponisten! Letzteres machte er auch so nebenbei, unbezahlt wie das Komponieren so oft ja auch. Soll man jetzt das Fass einer Umwegrentabilität aufmachen, das Stärken der Musiker an Herausforderungen der Neuen Musik für ihre weitere Mucken und Hauptjobs zwischen U und E? Oder die mal aussen vor gelassen: Wo anspruchsvoll anspruchsvolle Kultur gepflegt wird, auch das Sperrige, gewinnt man Menschen mit hohen beruflichen Leistungen eher als wo es diesen mangelt. Ja, es gehören natürlich Stellen für jene Leute her! Aber, und nun wird es mal wieder süddeutsch borniert: warum kann man von gut besuchten Konzerten Neuer Musik immer von hier oben berichten? Hier wächst und prosperiert es, wegen den Jobs, aber auch wegen all der verschiedenartigen Kulturangebote.
Dennoch schafft es selbst dieser prosperierende Süden nicht, Komponisten angemessen Komponisten sein zu lassen. Da sind sehr individuelle Lebensfinanzierungen gefragt, die weitab der eigentlichen Profession stattfinden, sofern man nicht ein hervorragender Instrumentalist ist. Da wird massig Zeit in andere Fachlichkeiten investiert. Ganz wenig sind Professoren, einige leben temporär von Stipendien, sind Instrumentallehrer, hüten die Kinder der Frau, geben Deutschkurse für Ausländer, wohnen mit 45 noch im elterlichen Keller, verlassen die Stadt in billigere Städte, schreiben zu sehr bekannten Serien Filmmusik und fühlen sich doch so als Komponist von E-Musik, Neuer Musik, schneiden den Ton, kümmern sich um Wohnungssuchende, finden nach Jahren einen erste Lehrauftrag, sind Arbeitslosengeld-II-abhängig. So wird sozial wirklich Vieles gegeben, um das „Eigentliche“, gerade eher für Minibesetzungen als das Grosse, machen zu können, geht immens Zeit drauf, die man durchaus im Elfenbeinturm masturbierend für langsames Ziselieren von Wichtigeren als all diesen Neben-Hauptjobs einsetzen könnte. Andererseits führen einige dieser Konstrukte zu sehr enger Nähe am wirklichen Geschehen der Gesellschaft, an Trennungen, an Verlusten, an prekärste Daseins-Improvisationen, an Hochwichtige, an haushoch Durchgefallene. Das ist NICHT weltfern, das ist näher am Puls der Zeit, als all die Rufer nach Abschaffung der Neuen Musik selbst. Und das führt allmählich zu dem Gedanken: Das Hinnehmen des schleichenden Abwrackens- und Abgewracktwerdens ist auf Dauer nicht durchgehend zumutbar, der Verlust an entgangener Kunst, die wie auch immer ihren materiellen Wert hat, höchst unrentabel wie unglücklich machend. Da haben es natürlich jüngere, immer noch an Stipendien wie elterlichen Geldbeuteln klebenden oder mit Leichtigkeit mit ihren Hauptjobs ihr Konstrukt querfinanzieren leicht, auf die härter Knabbernden mit der Aufzählung des angeblich künstlerisch wie wirtschaftlich Faktischen herabzublicken, Abschaffungen dessen zu fordern, was ihren Weg erst ermöglicht.
Und blickt man dann in die Abgründe, die die engeren Runden von DKV, TKV, GEMA und Politik nicht verlassen, sieht man, wie die Züge für die Neue Musik, besonders deren Schreiber abgefahren sind, als die Abschaffungsrufer in den eigenen Reihen je ahnen würden. Es wird der Kampf um das Geld letzthin von Kreidler als die letzte Ästhetik ausgerufen? Das Geld, um das nicht Veranstalter schon so hart auch gegeneinanderkämpfen, das ist für uns Komponisten gar nicht mehr zu erhalten, zu beantragen. Es ist schlichtweg jetzt schon weg!! Es empfehlen sich engste Allianzen mit der Filmmusik, die aber schon ein wenig länger als manche Anderen einigermassen ihre Politik verkünden. Derweil hocken die Neuen Musiker und E-Musiker in netten Runden, lassen sich immer noch nicht so mächtig blicken, wie sie es mit wohl schöngerechnet 2000-3000 Leuten hierzulande und mit den eng hier aufgeführten Ausländern sein dürften. Und da wird auch billigeres Produzieren keine Lösung sein. Am kleinen Rechner sitzen, das klingt wie ein Eventmanager. Das Dumme: der verdient tatsächlich damit sein Geld und kann das öffentlich subventionierte Atelier damit finanzieren. Der letztlich Experimentelle, der Neue-Musiker, wird nicht ohne freie Logis und Taschengeld mithalten können…. Und das gibt es nur noch in Massimo, Concordia und Schreyahn! Selbst als Berliner Kompositions-Start-Up muss man wohl hart in die Unterhaltung oder die Konzeptkunst, also die Bildende oder Darstellende Kunst gehen. Der Rest: aufgewacht!!!!!! Und das ist nun kein Troubadix-Gedöhns…. Informiert Euch mal bei Euren DKV-Funktionären, Euren Abgeordneten – frohes Aufwachen…….
@ Goljadkin: Sie haben gar keine Ahnung, welche Minderheiten, Zukurzgekommenen ich jeden Tag sehe, versuche zu versorgen! Das versorgt mich tatsächlich mit Geld. Das belastet aber auch ziemlich, so, dass es gar nicht mehr zu Musik taugt. Und das Gesehene fliesst dann doch wieder ins Schreiben. Sie haben wirklich keine Ahnung… Ja, es gilt für die Kranken der Zweiklassenmedizin, die Suchtkranken, die Ausgebrannten, die Gewaltopfer, die Flüchtlinge, die aus dem Arbeitsmarkt Gedrängten, die veramten 200 Euro Rentnerinnen, etc. Und es gilt diesen auch und besonders in den eigenen Stücken. Und natürlich gilt’s dann auch mal den eigenen Spleens. Was tun S I E für die zu kurz Gekommenen? Ich schaue, dass die Wohnungslosen nicht total im Behördenwust untergehen, spende weinenden Frauen Trost, zeige kleine Möglichkeiten bei der Suche, nenne aber auch die sozialen Härten, die ein Wohnungssystem wie die Stadt nur bieten kann, rede also ziemlich oft Tacheles und kämpfe genug um jede Möglichkeit für jene Menschen. Und jetzt ist Schluss damit an dieser Stelle. Und ja: Neue Musik kann auch ziemlich Minderheit sein, der die Daseinsberechtigung abgegraben wird. Aber das will keiner gerne hören, Sie gar nicht – ok. Nur, es gehört auch gesagt. Es scheint Ihnen richtig weh zu tun. Wo ist also I H R Hund begraben?! Bitte befriedigen, ähm, bedienen Sie meinen Voyeurismus.
@ Strauch:
Ich verstehe gar nicht, wo diese Laus-Leberwurst-Stimmung plötzlich herkommt. An keiner Stelle habe ich irgendjemandem und schon gar nicht Ihnen abgesprochen, ein sozial engagierter Mensch zu sein. Die ganze Debatte wurde doch von Strieders widerlichem Aufrechnen von Orchesterstücken mit Menschenleben in diese unsägliche Richtung gedrückt.
Wo mein Hund begraben liegt? Das kann ich Ihnen ganz genau sagen: Als zwar nomineller Angehöriger einer ethnischen Minderheit in zwei Ländern (in Russland ein Deutscher und in Deutschland ein Russe, mithin ein Russlanddeutscher) würde ich dennoch nie und nimmer auf die Idee kommen, diesen Minderheitenstatus für mich in Anspruch zu nehmen. Und da geht es um Berufsverbote, Gängeleien, Ausgrenzungen in der ehemaligen Sowjetunion und um Herablassung, Stigmatisierung und Unverständnis in Deutschland. Wie oft mußte ich mit ansehen, wie meine Mutter in deutschen Behörden mit einer ungeheuren Abschätzigkeit behandelt wurde ob ihres Akzentes. Wie gerne habe ich mich in der Schule einen Russen schimpfen lassen. Wie freut es mich, wenn die Angehörigen meiner Volksgruppe in den Medien als versoffene, räuberische Arschlöcher dargestellt werden. Verständnis für das Schicksal dieser Menschen (Deportation im Zweiten Weltkrieg, Arbeitslager, Zwangsumsiedlung danach usw. usw.) hat hier kein Schwein. Man kommt ins gelobte Deutschland, weil man ja in Russland immer Deutscher war. Und hier ist man plötzlich Russe und weiß gar nicht, wie einem geschieht. Haben Sie, Herr Strauch, mal in einem sogenannten „Auffanglager“ gelebt? Sind Sie mit 90 Mark Startgeld und sonst nichts als zwei Koffern mit Kleidung in ein fremdes Land ausgereist und haben sich Ihr Leben komplett neu aufgebaut wie meine Familie? Ich glaube nicht. Und dennoch haben sie oder ich nie Minderheitenschutz für uns gefordert, haben nie rumgejammert, wie böse die ganze Gesellschaft doch ist, wie gemein alle sind. Vielleicht können Sie von daher nachvollziehen, daß ich das Rumgewinsele von der angeblichen Randgruppe der Komponisten nicht wirklich ernstnehmen kann. Dieser Ruf nach Anerkennung aller möglichen „Minderheiten“ ist nichts weiter als Verantwortungsabwälzung. Womit nicht gesagt ist, daß es nicht wirkliche Minderheiten gibt, die des tatsächlichen Schutzes bedürfen (NSU-Morde etc.). Aber denen wird mit solch lächerlichen Forderungen wie der Ihren, Herr Strauch, systematisch das Wasser abgegraben. Es gibt eben Leid und Leid, und nicht jedes subjektiv empfundene Leid ist objektiv Sache der „Gesellschaft“. Eine bestimmte Berufswahl berechtigt nicht dazu, sich als Opfer zu fühlen. Niemand zwingt Sie dazu, Komponist zu sein, zumal Sie ja offensichtlich noch einen anderen Brotberuf haben. Diese weitverbreitete Selbstwehleidigkeit in der Neuen-Musik-Szene und anderenorts ist mir aus o.g. Gründen ein Graus.
So, jetzt habe ich die Hosen runtergelassen und hoffentlich Ihren Voyeurismus befriedigt. Außerdem muß ich mich jetzt um meine Kinder kümmern und denen beibringen, daß wir als Drei-Kind-Familie eine Minderheit sind. Wir werden Protestnoten an den Bundespräsidenten verfassen und evtl. verbunden mit einem kleinen Präsent daran erinnern, daß auch Drei-Kind-Familien mit einem Vater, der Komponist und Russlanddeutscher ist, also gleich in mindestens dreifacher Hinsicht ausgegrenzt, zu Deutschland gehören.
Goljadkin
Bin gerade zu faul um nachzusehen, welche Methode aus der eristischen Dialektik hier verwendet wurde.
Die Methode lautet jedenfalls folgendermassen: Es wird dem Gegner etwas unterstellt, was dieser gar nicht gesagt/gemeint hat, und sich gleichzeitig darüber echauffiert in der Hoffnung, das der Gegner in einen Verteidigungsmodus übergeht, und somit die Unterstellung für den Aussenstehenden „zugibt“.
@ strieder:
Zu faul zum Nachsehen, oder zu faul zum Denken? (argumentum ad personam)
Ansonsten:
Schopenhauer: Die Kunst, Recht zu behalten; Kunstgriff 24 bzw. auch teilweise Kunstgriff 27.
Goljadkin
Vielleicht kann man die Diskussion fortsetzen, wenn sie sich von dem ganz alleine gegen sich selbst ausgeführten Kunstgriff Nr. 8 erholt haben.
@ Goljadkin: Im einen Auffanglager leben zu müssen, blieb mir um Himmels Willen erspart. Dennoch weiß ich einigermaßen, was dies bedeuten kann, als ehemaliger studentischer Mitarbeiter in städtischen Flüchtlingsheimen während der 90er, zur Hochzeit der ex-jugoslawischen Bürgerkriege.
Ja, und niemand zwingt mich, Komponist zu sein. Nur zwingt es mich selbst dazu. Ich kann nicht anders und suche immer noch den richtigen Weg, dies vollkommen tun zu können, wie Sie selbst wohl auch. Und mir geht es nicht um Winseln, mir gehr es um Haltung. Wenn Sie die Situation so nicht nachvollziehen können oder auch wollen, wie ich sie hier für mich umriss, ist das auch ok. Langer Rede kurzer Sinn: Sie auf Ihrer Insel, ich auf meiner. Und wer zwingt Sie Komponist zu sein, wenn es für Ihre Familie nur ganz knapp reicht? Auch S I E sind Ihr eigener Glücksschmied, allerdings können Sie sich auch mit Ihresgleichen zusammenschliessen, wie sie es andeuten, wenn das mit der Petition ernstgemeint ist.
Es geht mir auch gar nicht um Gutmenschentum, etc. Es geht mir nur darum, mich nicht immer komplett durch Andere infrage stellen lassen zu müssen. Dies ist natürlich die Generalkrux Neuer Musik, dass sie für sich selbst in Anspruch nimmt, Musik und auch andere Bereiche künstlerisch infrage zu stellen, sich dabei auch existentiell gebend. Sie kommt aber nicht auf die Idee, die Existenz Anderer grundsätzlich in Abrede zu stellen. Dies wiederum widerfährt ihr allerdings durchaus von Aussen, quasi mit ihren eigenen Mitteln. Nur soll das Ergebnis dieser externen Infragestellung nicht das Weiterentwickeln der Neuen Musik sein. Es soll ihre Ende sein. Weg damit! Das ist die Parole. Und dagegen bin ich. Abgesehen vom Glauben daran, dass sie sich selbst verändert, sich in andere Richtungen öffnet, davon bin ich beseelt. Dieses Weiterentwickeln allerdings aus ihrem kompletten Einstampfen nach Kriterien der reinen Wirtschaftlichkeit – dagegen beziehe ich Stellung. Reformen, ja bitte, unbedingt, all die Gremien durcheinanderbringen. Revolutionen im Sinne neuer Ideen, eines neuen Namens für die jetzige Neue Musik – wunderbar, neue Techniken und Methoden, hervorragend. Dies aber nicht auf einem Feld der Bedrängnis. Die Not, wohl wieder ein Wort, das Ihnen aufstösst, in der sich Neue Musik jetzt befindet, darf nicht noch schärfer werden. Dies geschieht aber nur, wenn sich ihre Schreiber zu Wort melden, die richtigen Konditionen für ihr Schreiben aufbauen und benutzen können. Das geschieht inzwischen, manchmal zumindest – das Zuwortmelden. Mal durch Stücke, mal durch Worte, mal durch Taten. Es geschieht aber immer noch viel zu gering, fast unsichtbar. Und bleibt dies so, gut bzw. schlecht, dann wird der Rest an Infrastruktur für sie mancherorts endgültig verschwinden. Deshalb: schützt dies, was noch da ist, baut es aus, wie es manche tun, empfinden, krempelt es um, lasst es uns verbessern, öffnen, auch mal abgrenzen, schärfen, wieder aufweichen. Ohne Zähne zeigen, Existenzbewahrung einfordernd, wird es nicht gehen. Aber Sie haben ein wenig auch meinerseits Recht: da sind über weite Strecken eigentlich A L L E Musiker gefordert. Es trifft jeden Bereich… Jeder der sich „Independent“ gibt, jeder der für schwindende Zuhörer spielt. Warum würde es sich sonst lohnen nach Deutschland zu kommen? Wegen der Autos, wegen Sat1, wegen ZDF? Wohl wegen der Freiheit, wegen des Geldes für diese, wegen der Kultur, die sonst kaum in der Welt so kleinteilig blühen kann. Das soll erhalten werden. Wie gesagt, Art 2. GG… Und jetzt ruft mich selbst die Arbeit, die Kompositorische, ach die zwei Seelen in meiner Brust. Das stößt wohl Ihnen auch auf? Jedem seine Insel, mir meine beiden!!
@Alexander Strauch
Zumindest für mich trifft das nicht zu. Auch hier wird erst umgekehrt ein Schuh draus: erst seit wenigen Jahren ist es dank der extremen Verbilligung „amtlich“ klingender sound libraries überhaupt erst möglich, auch ohne die kostspielige und exklusive Inanspruchnahme hochspezialisierter Neue-Musik-Ensembles die eigenen Kompositionen am Laptop zu realisieren (was ich z. B. hier gemacht habe). Ok, das klingt noch nicht ganz „echt“ – aber warte mal 5 – 10 Jahre ab… Die Frage ist hier nicht „Billig oder teuer?“, sondern schlicht „Kann ich meine Arbeit überhaupt hörbar machen oder nicht?“
So wird die Verfügbarkeit über einen komplexen Klangkörper klassischer Instrumente, bisher exklusive Erfahrung weniger Spezialisten, des technologischen Fortschritts wegen nun peu à peu zur Erfahrung der Massen. Ich verweise in diesem Zusammenhang immer gern auf Jay Bacals Laptop-Realisierung von Strawinskis „Sacre“).
Ein soziokultureller Einschnitt, den in Neue-Musik-Kreisen wohl bisher nur Johannes Kreidler wirklich bemerkt zu haben scheint.
Schon in wenigen Jahren also wird in der Musik mit klassischen Instrumenten die gleiche Situation vorliegen, die schon die großen öffentlich-rechtlichen Studios für Elektronische Musik überflüssig gemacht hat: Die Produktionsmittel werden qua Technologie demokratisiert. Es wird jedem, der das will, möglich sein, stundenlange hochkomplexe Kompositionen für 120-köpfiges Orchester nicht nur zu komponieren, sondern auch in ansprechender Weise hörbar zu machen.
Genau in diesem Moment forderst du „Minderheitenschutz“ für den partitur-orientierten E-Musik-Komponisten alten Typs. Mit Verlaub, es erinnert mich ein wenig an die inbrünstigen Plädoyers von Lichtkünstlern der Nachkriegszeit für den Erhalt der Glühbirne.
Manch‘ einer möchte vielleicht doch noch für Menschen schreiben und die Interaktion mit einem menschlichen Gegenüber haben. LOL, das erinnert mich jetzt sehr an die Diskussionen darüber, das Jugendliche nur noch am Rechner sitzen und keine „sozialen Kontakte“ mehr hätten. Wie dem auch sei. Für solche (und ich zähle mich dazu) ist ein Computer keine Option [und das sage ich, obwohl ich mit dem Computer aufgewachsen bin, jahre(zehnte)lang elektronisches Zeug fabrizierte und im Internet lebe]. Musiker haben übrigens auch Gefühle, daran sollte man denken bevor man sie durch den Computer ersetzen will :P
Lieber Alexander Strauch,
wir kommen wohl nicht mehr zusammen. Ich vertrete eine grundsätzlich andere Weltanschauung (darf man dieses große Wort überhaupt noch im Mund führen?) als Sie. Ich glaube eben, daß zuerst mal die künstlerischen Ergebnisse stimmen müssen. Und das tun sie in weiten Teilen nicht. Sie haben es ja gesagt: Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Das mag sich nun neoliberal anhören, Tea-Party-like, aber so ist es natürlich nicht gemeint; ich verstehe das eher als große Befreiung, nicht mehr in den von Politikern oder anderen „Mächtigen“ vorgegebenen Bahnen agieren und also denken zu müssen. Nicht von Anti-Schließungs-Petition zu Anti-Abschaffungs-Petition rennen zu müssen, nur weil irgendein Hansel sich in seinem Kleinraumkabuff ausgedacht hat, daß es sinnvoll wäre, an diesen Stellen Geld zu sparen. Ich will kein push-button-pupil sein. Ja, das ist wahrscheinlich unsozial, unsolidarisch, aber ich bin zum Geier nochmal kein Gewerkschaftsfunktionär. Mich interessieren weder der DKV noch der TKV noch irgendwelche GEMA-Ausschüsse. Ich bin auch nicht für deren Abschaffung oder für die Selbstabschaffung der Neuen Musik, sie ist mir schlichtweg egal, weil es in meinen Augen ein vollgefressener Dinosaurier ist, der schon halb zusammengebrochen ist und in seiner Agonie mit dem Schwanz um sich schlägt. Diskussionen z.B. darüber, ob der Laptop nun ein Instrument sein kann oder nicht, sind so was von überflüssig und lahm, daß ich gar nicht weiß, wohin mit meiner ganzen Fremdscham. Als käme es allen Ernstes darauf an womit Musik gemacht wird und nicht wie. Reine Instrumentalstücke können genauso beschissen sein wie Stücke mit Sampler, Zuspiel oder dressierten Singvögeln. Und obwohl das nur ein Teilaspekt der „aktuellen“ Dispute ist, zeigt er für mich den Gesamtzustand der Neuen-Musik-Szene an: selbstverliebt, agressiv nach außen und nach innen, borniert, vernagelt, vorgestrig, stupide. Ich habe schlichtweg keine Lust mehr auf die Neue Musik. Mich interessieren Stücke, gelungene, weniger gelungene, Stücke, die wirkliche Fragen an mich stellen, die mich nachts unruhig schlafen lassen, die mich inspirieren, die mich glücklich machen usw. Es gibt Free-Jazz-Stücke, die in einem tieferen Sinn komplexer sind, als alles, was Ferneyhough, Chernowin und Mahnkopff sich zusammen ausdenken könnten. Und gleichzeitig haben sie eine Lebendigkeit, die die Kopfgeburten so mancher Neue-Musik-Komponisten wie Totgeburten aussehen läßt. So wie es auch Neue Musik gibt, die mich staunen läßt, mich auf einer existentiellen Ebene anspricht, mich beseelt. Und meistens oder besser immer häufiger ist es nicht die, die innerhalb des „Systems“ entsteht oder entstanden ist.
Genug der Tiraden.
Goljadkin (Halbinsel mit Anschluss ans Festland)
@strieder + Goljadkin:
Nun ja, jetzt fühle ich mich doch gründlich missverstanden mit meiner Laptop-Bemerkung: Ich will weder „Musiker durch Computer ersetzen“, noch habe ich behauptet, nur Musik, die mit dem Laptop gemacht ist, wäre state of the art.
Es ging mir einzig um Folgendes: Die Demokratisierung der Produktionsmittel durch technischen Fortschritt hat die irgendwie immer noch funktionierende bundesdeutsche Nachkriegsidee von einer „Neuen Musik“ politisch und ästhetisch ins Wanken gebracht und wird früher oder später zu ihrem Verschwinden oder zumindest einer gehörigen Transformation führen.
@Goljadkin:
Im Gegensatz zu dir käme ich nicht auf die Idee, dich als „selbstverliebt, agressiv nach außen und nach innen, borniert, vernagelt, vorgestrig, stupide“ abzukanzeln. Obwohl auch du Teil der Neuen-Musik-Szene bist.