Der geilste Tag des Jahrtausends!
Gestern war es soweit. Die Welt lebt weiter, wie zuvor. Keiner hat es realisiert. Wie hektisch ging es am 11.11.11 noch zu, wurde geheiratet und wurden Kaiserschnitte vollzogen, als wolle man ein „ES“ oder einen „IHN empfangen oder verhindern. Hätten die Verzückten das Datum richtig ausgeschrieben, nicht der sechsstelligen Langeweile ihrer Identitätspapiere folgend, wäre ihnen aufgefallen, dass jener geilste Tag der gesamten Zeitrechnung bereits vor 900 Jahren über die Bühne ging, damals der 11.11.1111.
Gestern war der 20.11.2011. Das folgt dem Wiederholungs- bzw. Doppelungsprinzip des vor 900 Jahren verstrichenen Datums. Und siehe da, so besonders war selbst das Gestern nicht. Nächstes Jahr stolpern wir kurz vor Weihnachten noch – für die meisten sang- und klanglos – über den 20.12.2012. Wer sich jetzt richtig aufgeilen will, wer Anhänger von polyphonen Sogetto-Bearbeitungen ist, konnte sich 2011 schon im Februar mit dem Krebs 11.02.2011 befriedigen. Beim genaueren Hinsehen ist das ganze letzte Jahrzehnt ein pseudo-kabbalistisches Dauerfest gewesen: vom 20.01.2001 über den 10.02.2001, im Folgejahr sogar nur den 20.02.2002 bis eben zum gestrigen 20.11.2011 hätten die Freudenfeuer der Zahlenfreunde lodern müssen, als hätte Zarathustra einen Donnerkeil gezündet. Und das nach der seriellen Blütezeit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Um es noch mehr auf die Spitze zu treiben, warum gerade der gestrige Tag zu besonders sein sollte: bildet man die Quersumme, so kommt man auf 8. Da treffen sich gleichzeitig Symmetrie, Periodik und Fibonacci. Nur macht das irgendwas besser, schöner, grösser? Ausser das die Sonne schien und Sonntag war mit Mittagskonzert, Lindenstrasse und Tatort, mehr gibt es nicht zu berichten.
Aber es geschah real betrachtet wirklich nichts Besonderes gestern. Ausser dass ich das Jahr 2011 nochmals Revue passieren ließ, geschockt vom Anblick halbvertrockneter Adventskränze, beschloss, vor Allen Anderen einen Jahresrückblick zu wagen. War also was los? Richtig rumgekommen bin ich nicht. Trübe Highlights waren die Abdankung des alten musica-viva Chefs und die jetzt erfolgte Inthronisation des Neuen. Gab es unter der Ägide des Alten noch fleissig fast jedesmal eine Orchesteruraufführung eines oder einer auch mal jüngeren Lebenden, scheint sich unter dem Zepter des Neuen nur noch die Seniorengeneration einer Rentenaufbesserung in Höhe eines mittleren Jahresdurchschnittseinkommens erfreuen zu dürfen, bis auf den guten Enno Poppe Alles alte, weitbekannte Eisen. Das Diktum Armin Köhlers, Jüngeren nur noch nach endlosen herkulischen Aufgaben ein Orchesterwerk zu ermöglichen, kriecht durch die auftragsvergebenden Rundfunkanstalten der Republik. Dabei wäre doch mein klägliches Datum ein so schöner Anlass zur Auftragsvergabe gewesen! Angst vor Wirtschaftsproblemen regiert das Land, hat dazu die Neue Musik nur altvertrautes zu bieten? Sind sich abzeichnende Problemlagen nicht die Aufforderung, nach neuen Antworten dafür zu suchen? Jetzt wäre doch die Zeit für Konzeptkonzerte am laufenden Meter, könnten die grossen Veranstalter ihre Dramaturgen zu Höchstform auflaufen lassen.
Halt! Natürlich gab es dieses Jahr viele positive Eindrücke. Um bei der Jugend zu bleiben, der Orchesterauftragsfaulheit, muss eins doch noch gesagt werden: wer kennt Samy Moussa? Ein junger, sehr junger kanadischer Komponist. Weiss die Rundfunkwelt, was dieser Mann bisher schrieb? Orchestermusik, Orchestermusik, Orchestermusik! Fast jedes seiner Stücke wurde bisher aufgeführt. Sie mögen ein wenig wie Spektralismus ohne Mikrotöne wirken, sind aber in ihrem Verlauf von mal zu mal stringenter geworden. Jetzt hat Samy Moussa endlich mal ein Solostück zu Wege gebracht, „Ruah!“ für Akkordeon solo. Das besticht nicht durch die Neuerfindung des ballow-shakes oder dgl. Es überzeugt schlichtweg durch seine Dringlichkeit. Bisher drängte es Moussa zu Grossem, Riesigen. Hätte er seine Orchestermusik kaum aufführen können, würde die Dringlichkeit seiner Musik nicht so zum Tragen kommen. Inzwischen dirigiert er sogar, so wichtig wurde die frühzeitige Orchestererfahrung für ihn.
Ein Ausblick? Besser nicht: Beim Donauschingen-Stammorchester, dem SWR Sinfonieorchester Freiburg-Baden-Baden unterläuft in der aktuellen Saisonbroschüre das Wort Uraufführung nur dreimal in Bezug auf Werke alter Hasen. Das einzige Highlight: ein Kammerkonzertporträt des Kollegen Minas Borboudakis. Keine Orchesteruraufführungen junger KollegInnen! In Köln gibt sich das WDR-Sinfonieorchester immerhin dreimal die Ehre, wirklich Lebende uraufzuführen. Beim näheren Blick reicht es für leichte Muse: ein Trompetenkonzert von Rolf Wallin, ein Glockenblues von Martin Smolka, Dornröschen-Stelldichein mit Brice Pauset. Soll man noch fortfahren anbetracht des Schwächelns der angeblich grossen Neue-Musik-Schlachtschiffe?
Es bleibt mal wieder an den kleinen Orchestern hängen, die jede Saison erneut um ihr Weiterbestehen bangen müssen. Das BR-Rundfunkorchester pflegt unaufgeregt seine Paradisi-Gloria-Reihe, die Brandenburger Symphoniker stemmen wacker ihre 4. Biennale, all die anderen kleinen, feinen Orchester trauen sich hier und da Neue Musik zu produzieren. Oder man verpackt es in Education-Projekte wie die Deutsche Radiophilharmonie Saarbrücken-Kaiserslautern: junge Komponisten – Gruß an Eggert und Hechtle – schreiben für Jugendliche. Lin Wang darf für Zheng und Sheng schreiben. Sonst Nachaufführungen von Rihm und Hefti. Immerhin – bis auf das Jugendprogramm aber nichts Weltbewegendes! So lässt sich die Recherche fröhlich fortsetzen. Natürlich wird man bein den Spezialfestivals- und Ensembles schlagartig fündig. Die bisher die Neue Musik honorig wie selbstverständlich beauftragenden Grossen halten sich zurück mehr denn je, sind genauso im Feigenblattstadium angekommen, wie es besonders jungen Kollegen immer stärker widerfährt. Ob so ein neuer Rihm, ein neuer Pintscher gefunden wird? Eher nicht…
Aber woran liegt das? Ist es nur die Angst jener „Grossen“, ihr wirtschaftlicher Erfolgsdruck? Oder ist es der Erfolgsdruck, der auf den „jungen KomponistInnen“ lastet, der sie nicht mehr riskieren läßt? Merkwürdige Zeiten! Da geht vieles bergab, ist in Scherben, doch die E-Musik schweigt dazu, schweigt künstlerisch zu ihren eigenen Problemen. Wir hätten uns und den Anderen soviel zu sagen und schaffen nur noch Content-Peanuts im Vergleich zu den fetten Reibereien der dicken Jahre. Da haste noch Töne!
UPDATE I: Es gab doch was Besonderes am gestrigen Abend: die dritte Wiederholung von Moritz Eggerts Münchener-Philharmoniker-UA „Puls“ mit Zubin Metha am Pult. Beeindruckener Beginn von einsamen Bongos und hohen Streicherschnipseln – irgendwo zwischen Killmayers vier Poèmes Symphoniques und hohen Streichern in Nonos A Carlo Scarpa, später viel Effekt, stampfende Rhythmik, konsequente Steigerungen. Da kann man sich streiten, bin ich eindeutig der Fan des Beginns! Das kam dennoch beim Publikum erstaunlich gut an, wippte und schnippte selbst manche alte Lady dazu. Der vermutlich von mir gesichtete Thomas Gottschalk blätterte emsig im Programm, das tat er auch beim Lied von der Erde (am Ende hörte er allerdings zu, schnappte nach dem letzten Ton dann aber gleich sein Smartphone…). Seine weibliche Nachbarin war eindeutig enthusiasmierter, besonders bei Eggert. Auch wenn der alte Mehta nicht das Mass aller Dinge ist: Chapeau für diesen Einsatz! Bei soviel Traute für’s Neue, das sich erst zur Biennale ergänzen wird, freut man sich auf Riskanteres, was momentan aber leider ausbleibt. So muss man doch manchmal an die berühmte Opernkritik im Monaco-Franze denken. Aber keine Angst, der Münchner Kritiker hat ja sehr begeistert vom „Puls“ der Zeit berichtet.
Komponist*in