Die Nazikeule

Die ästhetische Diskussion um Neue Musik ist zwangsläufig und aus historischen Gründen sehr eng mit der Geschichte des Nationalsozialismus in Deutschland verknüpft. Kein Wunder: waren doch die bedeutendsten und wichtigsten Vertreter der modernen Musik sehr schnell im Visier der Faschisten, wurden als „entartet“ verfolgt, verjagt und im schlimmsten und auch keineswegs seltenen Fall umgebracht.
Wie sehr das Nazi-Regime sich das Scheitern dieser Musik wünschte, zeigt dieser Musiklexikonartikel zum Stichwort „Neue Musik“ aus den dreissiger Jahren (H.J. Moser: Musiklexikon, ca. 1935)

Werbung

„Neue Musik, Stilbegriff für die antiromantische, unpersönlich-arabeskenhafte Nachkriegs-Musik (1920-30) mit ihrer Neigung zum *Atonalen, ihrer möglichst nur horizontal ausgerichteten *Polyphonie, der Bevorzugung von Kleinformen u. Kleinbesetzungen, gewollt primitiver Motorik, deren Führer *Strawinksy, *Schönberg sowie die Six (*Milhaud, *Poulenc, *Honegger u.a.), *Hindemith, K. *Weill, E. *Krenek, *Casella, *Holst, *Bax, *Bliss usw waren – doch haben die Vertreter der N. M., die sich zunächst auf *Busoni beriefen, letzhin meist wieder einigermaßen zu den ewigen Gesetzen der Harmonik zurückgefunden. (Vgl. auch Expressionismus, Jazz, Negro Spirituals, Mechanische Musik).“

Sowohl Schönberg als auch Strawinsky hätten sich vermutlich gewehrt, hier in eine Ecke gestellt zu werden, aber so vereinfachten die „Kulturwächter“ dieser Zeit die Dinge eben. Und sie behielten – gottseidank natürlich – Unrecht mit der Annahme, hier handele es sich nur um eine momentane geschmackliche Verwirrung, der man mit möglichst „gesunder“ Musik fürs Volk entgegnen müsse.

Aus dieser Verfolgung und aus diesem Unrecht zog – und das muss man aussprechen können, auch wenn es sicherlich ein heikles Thema ist – die Neue Musik einen Teil ihrer Existenzberechtigung. Dass sie als Genre selber nie ganz frei von totalitären Aussagen und seltsam aggressivem Jargon und Verhalten geprägt war, vor allem in den direkten Nachkriegsjahren, kann man als psychologische Gegenreaktion erklären, und dem ewigen Kreislauf zuschreiben, bei dem der, der geschlagen wird, irgendwann selber zu schlagen beginnt. Komponisten wie Bernd Alois Zimmermann sind sicherlich auch an dieser zum Teil sehr unguten und von bitteren Grabenkämpfen geprägten Atmosphäre zugrunde gegangen. Hans Werner Henze bezeichnet bis heute den rein aus ästhetischen Differenzen entstandenen Bruch mit seinem engen Freund Luigi Nono als einen der tragischsten Momente seines Lebens.
Auch über die Rolle von Komponisten wie Wolfgang Fortner – als Lehrer und prägende Figur aus der Neuen Musik nicht wegzudenken und ein durchaus auch interessanter Komponist – die problemlos ihren musikalischen Platz sowohl zu Nazizeiten wie auch danach behaupten konnten, ohne in wahrnehmbare innere Widersprüche zu geraten, könnte man viel reden, in der Klassik mag man an den Fall Karajan denken.

Nun sind diese Zeiten gottlob lange vorbei, und die heutige Diskussion ist eher von einem zarten Abtasten und allgemein herrschender political correctness geprägt als von offen ausgetragenen Feindschaften. Das ist auch ganz in Ordnung so: Da niemand so wirklich Bescheid weiß, wo es lang geht (ich persönlich finde dies einen sehr kreativen und wunderbaren Übergangszustand) trauen sich nur wenige, Positionen zu beziehen. Aber in einem Punkt verstehen viele keinen Spaß, und das ist, wenn man das Genre an sich hinterfragt. Ich persönlich finde es ja ein großes Problem, dass es sich bei „Neuer Musik“ eben zumeist nur noch um ein „Genre“ handelt (was unglaublich einengt und auch den Ballast diverser Substile beinhaltet), nicht mehr aber wirklich seinem eigenen Namen gerecht wird, schlichtweg also wirklich NEU zu sein. Was natürlich auch damit zu tun hat, dass die ganzen Ideen von „noch nie da gewesenen Klängen“ und deren Erzeugung mittels verschiedenster Tonsysteme ziemlich abgenudelt ist. Dissonanz wird nicht mehr automatisch als Regelüberwindung und Befreiung empfunden, und Konsonanz nicht mehr automatisch als reaktionär und begrenzt, diese Diskussion ist vollkommen überholt (hoffe ich zumindest).

Darüber muss man reden können, offen, denn Neue Musik HEUTE zu kritisieren, also Selbstkritik zu betreiben, ist ein gesunder dialektischer Prozess und stellt in keiner Weise die historische Bedeutung Neuer Musik und ihre zahlreichen Glanzmomente in irgendeiner Form in Frage (so wie es manche reaktionäre Kräfte gerne würden, die in der Tat beschränkt agieren).

Manch ein Kopf ist aber in einem selbstgerechten automatischen Verteidigungsmodus gefangen – so erging es auch Frank Hilberg, der in seinem Anti-Bad Boy-Artikel (siehe hier) auch gleich die Nazikeule schwang und mir quasi vorwarf, im Stürmer-Jargon das Schwert der Wertkonservativen zu schwingen, weil ich mich über Aspekte der Neuen Musik-Szene lustig gemacht hätte. Die einfache Rechnung, die er aufmacht, ist in drei Punkten zusammengefasst diese:

1) Neue Musik wurde von einem anerkannt bösen Regime verfolgt. Daher ist Neue Musik die Sache der Guten, denn wer verfolgt wird, muss gut sein.
2) Alle Neue Musik bezieht aus ihrer Geschichte einen ewigen Status des Revolutionären und „Gewagten“.
3) Wer daher heute Neue Musik als Genre kritisiert ist ein Nazi.

Nun ist jeder einzelne dieser Punkte natürlich totaler Quatsch, genau diese unausgesprochenen Annahmen liegen aber der Nazikeulenargumentation zugrunde. Ganz großer Quatsch werden die drei Punkte, wenn man sie in direkter Abfolge als logische Konsequenz betrachtet, denn Quatsch mal drei ist immer noch Quatsch.
Die Nazikeule hat sich nicht nur in der Musik vor allem in der innerdeutschen Diskussion als deutlich zu oft eingesetzes Mittel entlarvt, um unangenehme Thesen zu diffamieren, anstatt ihnen auf wirklich hohem Niveau zu begegnen. Oder anders gesagt: Jemanden wie Sarrazin einen „Nazi“ zu nennen, macht es sich zu einfach, man muss bessere Kritikansätze finden (und die gibt es ja in dessen Fall auch mehrfach).

zu 1) „Neue Musik“ war niemals durchweg „gut“ oder moralisch erhaben, sondern voll widersprüchlicher Gestalten (z.B. Webern) und Historien. Aus ihrer zeitweisen Verfolgung eine Art ewigen heiligen Adel abzuleiten ist schlichtweg Blödsinn.
zu 2) zu behaupten, dass Neue Musik heute ständig höchste ästhetische Wagnisse eingehen würde in einem Umfeld des doch sehr bürgerlich abgesicherten Betriebs voller Stipendien, Preise und Studienaufenthalte ist ungefähr so lächerlich wie vom jemanden zu hören, der behauptet es sei auch heute noch wagemutig, sich zur französischen Resistance zu bekennen.
zu 3) Die Nazis haben sehr viel Blödsinn gesagt, und das meiste davon hat die Geschichte gottseidank hinweggefegt. Aber Hitler hat sicherlich auch mal „Guten Morgen“ gesagt (darf man also noch „Guten Morgen“ sagen?) und den Wald wollten sie auch schützen (ist man also heute Nazi, wenn man gegen die Abholzung des Regenwaldes ist?). Man merkt also schnell: man kommt in Teufels Küche, wenn man diese Argumentationslinie benutzt, außer man kann seinem Gegenüber lückenlos nachweisen, dass es Neue Musik für volkszersetzend und undeutsch hält, und auch bereit wäre, physische Gewalt gegen deren Komponisten anzuwenden, denn genau dies tat das Naziregime. Diskussionen über Ästhetik sehen anders aus.

Wenn aber „Neue Musik“ endlich erwachsen werden will, wenn sie eine klitzekleine Chance haben soll, den gequälten und abgehangenen Begriff mit dem doofen Wörtchen „Neu“ (groß geschrieben muss es sein, gähn) noch irgendwie über die nächsten Jahre zu retten, dann muss sie sich endlich befreien von den Klischees ihrer eigenen Geschichte, die zwar – wie quasi alle Klischees – irgendwann mal wahr waren, es heute aber einfach nicht mehr sind.

Vielen Dank für Deine Aufmerksamkeit, liebes Onkelchen Frank,

Moritz Eggert

Liste(n) auswählen:
Unsere Newsletter informieren Sie über Neuigkeiten im Badblog Of Musick. Informationen zum Anmeldeverfahren, Versanddienstleister, statistischer Auswertung und Widerruf finden Sie in unserer Datenschutzbestimmungen.

6 Antworten

  1. Stimme vollumfänglich zu. Kein Dissens. Warum dann nicht gleich den nierentischförmigen Begriff „Neue Musik“ (vgl. „Neues Bauen“) ersetzen durch „Zeitgenössische Klassische Musik“ (ZKM)? Das ist zwar „nur“ eine wörtliche Übersetzung des us-amerikanischen „Contemporary Classical Music“ und klingt weder sonderlich elegant noch irgendwie erhebend, aber es gibt die Vertreter dieser Richtung wenigstens nicht komplett der Lächerlichkeit preis („Was machst’n du eigentlich für Musik? – „Neue Musik.“ – „Hä, wie – neue Musik? Na klar, alte kann’s ja nicht sein, die gibt’s ja schon, haha.“ – „Nein, ich meine, äh, Avantgarde-Musik, Experimentelle Musik und so…“ – „Ah klar, so was wie in den Sixties, na sag’s doch gleich.“) ZKM umfasst natürlich auch die „Sub-Genres“ Elektroakustische Musik, Musikperformance und Klanginstallation – also schlicht alle Arbeitsweisen, die sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts unabhänig vom Pop (d. h. nicht unbedingt gegen ihn, das wäre mir nun doch zu verbiestert) herausgebildet haben.

  2. Guntram Erbe sagt:

    Dass „klassisch“ ein klassisches Nichts ist, weil alles „klassisch“ ist, ja sogar das Wort „klassisch“, hat uns ja schon Nestroy vorgeführt.

    Nein, „Zeitgenössische Klassische Musik“ ist ein Unbegriff. Und da ich keinen umfänglichen Begriff von der vielleicht gemeinten Musik habe, habe ich auch keinen Begriff dafür anzubieten.

    Wie rede ich dann darüber?

    Ich empfehle zum Beispiel einem bisher Unbeleckten, er möge doch mal auf youtube gehen, nach „Moritz Eggert“ suchen und sich das gefundene Zeug ansehen und anhören.

    Hat Mozart „klassisch“ komponiert? Nein, er wurde zum Klassiker gemacht. Vielleicht wird Ähnliches mit Moritz Eggert passieren. Manche Szene in seinen Klavierstücken hat ja schon Bäsle-Qualitäten, also „good hope“.

    Guntram Erbe

  3. @Guntram Erbe: Die passepartout-haftigkeit des Begriffs „klassisch“ habe ich kürzlich selbst in meinem Blog ausführlich glossiert. Dennoch danke für die Nestroy-Referenz: ich lerne immer gerne dazu :-)

    Die Argumentation „Lieber gar kein Begriff als ein ‚Unbegriff'“ halte ich allerdings für weltfremd: solange die Komponisten sich weigern, ihre Arbeit selbst zu kategorisieren (aus welch ehrenwerten Gründen auch immer), überlassen sie das Feld schlicht anderen, evtl. weniger wohlgesonneneren (Markt-)Kräften. Dann dürfen sie aber auch nicht jammern, wenn ihnen diese Fremd-Bezeichnungen noch weniger gefallen als „Neue Musik“…

    Das „Klassisch“ in „Zeitgenössische Klassische Musik“ steht semantisch natürlich nicht für „klassizistisch“ oder „Verwendung ‚klassischer‘ Instrumente“, „klassisch“ heißt hier einfach: – „Nicht-Pop“. Aber zu sagen „Ich mache Nicht-Pop“, klingt nun wirklich idiotisch, oder?

    Hier noch ein paar Begriffs-Alternativen, die sich jedoch als Rohrkrepierer erwiesen haben:
    – „Avantgarde-Musik“: schließt dezidiert postmoderne Strategien aus (Begriff zu eng)
    – „Zeitgenössische Musik“: impliziert einen arroganten Alleinvertretungsanspruch auf das „Repräsentieren“ der Gegenwart (Begriff zu weit)
    – „Moderne Musik“: klingt ähnlich verstaubt wie „Neue Musik“ (Begriff zu weit)
    – „Experimentelle Musik“: bezeichnet lediglich ein Sub-Genre innerhalb der Zeitgenössischen Klassischen Musik (Begriff zu eng)

    Also: Wem ‚was Besseres einfällt – ich (und hoffentlich nicht nur ich) bin gespannt!

  4. Guntram Erbe sagt:

    @Moritz:
    Sei unbesorgt, gehe voran, vertraue Deiner gestalterischen Kraft, komponiere, spiele und führe Deine Musik auf. Sie hat ja Erfolg. Kümmere dich nicht um so dumme Angriffe wie den von Hilberg (der Dir merklich nahe gegangen ist), fetze den Etablierten Deine Urteile um die Ohren, schiebe Diskussionen an, sei ruhig ein Bad Boy (aber ohne Don Quijote zu gleichen).
    Wundere Dich nicht, wenn man Dich angreift und Dir Bapperl anheftet. Fremdbezeichnungen sind nicht immer die schlechtesten (gewesen).

    Bei Gelegenheit könnten wir mal über die nazifizierte und entnazifizierte Musik reden. Ich habe in meinem Studium noch mit Leuten aus der Ecke zu tun gehabt gehabt (wie z. B. mit Max Gebhard und Ernst Lothar von Knorr) und hätte beinahe in Geografie bei einem alten Nazi, der sein Unwesen im Generalgouvernement Polen getrieben hatte, promoviert. Gerne wäre ich frei von den daraus resultierenden, vorsichtigen Vorbehalten gegen heutige musikalische Hinterwäldler.

    Beste Grüße

  5. @Stefan:
    ZKM ist als Begriff schon besetzt, siehe hier: http://blog.goethe.de/amazonas/archives/71-Abschlussbericht-des-Patienten-E.-Abenteuer-im-ZKM,-11.-und-letzter-Teil.html

    Den Begriff „zeitgenössische klassische Musik“ benutze ich aber auch oft, eigentlich immer, wenn „Laien“ einen fragen, was man eigentlich komponiert. Sagt man „neue Musik“ denken sie an neue Popmusik, sagt man dann „zeitgenössische klassische Musik“ wissen sie, dass es sich um die Musik handelt, bei der sie im Radio für gewöhnlich abschalten :-)

    @Guntram:

    Kümmere dich nicht um so dumme Angriffe wie den von Hilberg (der Dir merklich nahe gegangen ist),

    Ich fand Hilbergs Rundmail total super, ganz ehrlich! Nichts freut einen ja so wie eine solche selbstentlarvende Reaktion auf einen provozierenden Artikel damals. Die Methode der Nazikeule kommt aber nicht nur von ihm, daher wollte ich einfach mal über die argumentatorische Fragwürdigkeit ihrer Verwendung diskutieren…

  6. Guntram Erbe sagt:

    Es waren ja nach 1945 Jahrzehnte lang die letzten Fußkranken der Nazizeit, die aus ihren Löchern kamen und die „Neue Musik“ weiterhin verteufelten. Was Wunder, dass man versuchte, sich mit der Nazikeule zu wehren. Schlecht gelesener Adorno tat das seine dazu.
    Wenn Leute wie Hilberg das heutzutage fortsetzen, stecken sie eigentlich tief in den Sechzigern und sind nicht auf der Höhe der Zeit.
    Neue Musik ist heute so unterschiedlich, hat so disparate Zielsetzungen und Ergebnisse, dass die in Darmstadt oder sonstwo sanktionierten Einschränkungen nicht ausreichen, und ein Bestehen darauf und ein Ausgrenzen Missliebiger unbedingt kritisiert werden müssen.
    In diesem Zusammenhang verstehe ich, dass du den Hilberg hier hereingezerrt hast. Dumm ist nur, dass er sich mit Applaus als richtungsgebende Figur stilisieren kann und eine solche vielleicht sogar ist und bleibt.