A Day in The Life (in the year 2021)

In nicht allzuferner Zukunft. Wir schreiben das Jahr 2021. Auf Beschluss der Bundesregierung wurde ein Gesetz erlassen, dass intensive Beschäftigung mit Neuer Musik zum Pflichtfach in allen Schulen macht. Aber nicht nur das: nach 12-jährigem wirtschaftlichen Aufschwung und dank grenzenloser finanzieller Ressourcen in Deutschland ist es den Kuratoren der verschiedenen Neue-Musik-Netzwerke nun möglich, all ihre Vorhaben zur Vermittlung Neuer Musik zu verwirklichen, selbst die kühnsten. Neue Musik ist Teil de täglichen Lebens geworden. Der Protagonist der folgenden Kurzgeschichte lebt in dieser Welt und beschreibt seinen Alltag, exklusiv für uns im Bad Blog.

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Der Wecker klingelte.
Vielmehr…er sang. Schrill und unüberhörbar. Die Sequenza für Stimme Solo, von Luciano Berio.
Nichts konnte mich schneller und sicherer aus dem Schlaf reißen. Verdammt, ich konnte dieses Scheißstück nicht mehr hören, aber so wurden sie nun einmal in der Fabrik hergestellt, die Dinger. Ich seufzte und erhob mich mühsam von meinem Schlaflager. Meine Designerbettdecke war mit Noten von Ferneyhough bedruckt, aber das fiel mir schon gar nicht mehr auf, denn seit kurzem brauchte ich eine neue Brille. Wahrscheinlich wegen Ferneyhough. Der Vorteil des Musters: peinliche Flecken waren nicht mehr sichtbar. Besonders beliebt in Hotels und Jugendherbergen, wie man mir beim Kauf sagte.

Ich machte mich auf den Weg zur Dusche, aber dort stand schon jemand und sang. Ich hatte vergessen – meine Wohnung war Teil einer Komposition/Performance des Multimediakünstlers Johannes Stiftler, zumindest noch die nächsten 10 Tage. Mit mir in der Wohnung lebte momentan die berühmte Stimmkünstlerin Salami Zimmer, die mein tägliches Leben einerseits beobachtete aber auch als musikalische Chronistin fungierte. All ihre akrobatischen Stimmimprovisationen wurden live ins Internet übertragen.
Ich grinste krampfhaft in die Kamera und putzte mir die Zähne. Das würde wieder so ein richtiger Scheisstag werden.
„Alles klar?“ sagte Frau Zimmer zu mir – sie hatte die Dusche inzwischen verlassen und stand nackt vor mir. Ich dachte an die Internetkameras und begrüßte sie mit dem einzigen Geräusch, das Musiker interessiert: dem Klatschen von zwei Händen.
„Danke, danke“, sagte sie verlegen. Irgendwie schaffte sie es, diese zwei Worte mit einem faszinierend artifiziellen Glissando zu verbinden. „Man tut, was man kann. Hat Ihnen meine Improvisation gefallen?“
„Sehr“, sagte ich. Was sollte ich auch anderes tun, mein Job bei einer großen Musikagentur hing davon ab, das ich das hier noch 10 Tage aushielt und gute Miene zum bösen Spiel machte. „Ist die Dusche jetzt frei?“
„Aber natürlich“. Trällernd zog Frau Zimmer ab, sich ein Handtuch um die Hüfte wickelnd.

Einige Zeit später hatte ich mich frisch gemacht und betrat die Küche. Wie immer gab es einen Höllenlärm, als die Bewegungsmelder der Klanginstallation von Karlheinz Trinkl (permanent in meiner Küche installiert) meine Bewegungen in ein hyperkomplexes granulares Klangspektrum umwandelten, das mir ominös um die Ohren waberte. Finanziert von der Bundeskulturstiftung natürlich. Ich wartete, bis die Klänge abebbten (was immer viel zu lange dauerte) und machte mir Kaffee. Hunger hatte ich keinen, nach meiner Erfahrung verdarben sowohl die Improvisationen von Frau Zimmer wie auch Trinkls Klangwabern mir dauerhaft den Appetit.

„Wo musst Du heute hin, mein Schatz?“ sagte meine Frau. Wenig überraschend hatte sie einen Kopfhörer auf, der ihr in Endlosschleife nicht-pythagoräische Stimmungssysteme vorspielte. Wie viele heutzutage war sie Teil einer Massenstudie über Hörgewohnheiten (initiiert vom Deutschen Musikrat) und verdiente sich ein bisschen etwas nebenbei. Inzwischen war sie in der Lage, Hänschen Klein in 25 verschiedenen Stimmungssystemen fehlerfrei vorzutragen. Sicherlich würde sie einen Bonus bekommen.

„Nach Stuttgart“, sagte ich.

„Ach, schon wieder in diese Stadt. Haben sie immer noch nicht mit dem Bahnhof angefangen?“

„Nein. Man will erst einen Akustiker prüfen lassen, ob der Neue Bahnhof den Anforderungen der Stuttgarter Vokalsolisten entspricht“. Die würden dort nämlich irgendwann täglich proben und Konzerte geben, als Teil der Kampagne „Unbefahrene Gleise – Neue Musik im öffentlichen Fernverkehr“. Im Frankfurter Bahnhof probte schon jetzt das Ensemble Modern auf Gleis 16, in München gehörte der Starnberger Bahnhof gänzlich den „piano possibile All-Stars“.

„Ach so, naja, Du kannst ja den Zeppelin nehmen“

Ich nickte und nahm einen Schluck vom Kaffee. Er schmeckte bitter. Kein Wunder, niemand konnte sich mehr guten Kaffee leisten – nach dem „Mozartgroschen“ war der „Adornogroschen“ gekommen, eine heftige Steuer auf Genußmittel aller Art zur dauerhaften und gesicherten Finanzierung der Donaueschinger Musiktage, inzwischen ein milliardenschweres Massenevent, das in ganz Europa übertragen wurde. Der Grand Prix d’Eurovision hatte irgendwann nicht mehr mithalten können und war eingestellt worden.

Plötzlich hörte ich draußen ein diffuses Rumpeln, gefolgt von einer blechernen Kaskade von Tönen. Mit diesen Klängen aus Gerhard Stäblers „Den Müllmännern von San Francisco“ kündigten sich heute in allen Städten die Müllmänner an (und Stäbler war durch die GEMA-Einnahmen ein reicher Mann geworden). Es war Zeit zu gehen. Meine Frau hatte inzwischen den Fernseher eingeschaltet – wie immer morgens lief die Wiederholung der aktuellen Runde von „Deutschland sucht den Neue Musik – Superstar“, doch das interessierte mich nicht besonders. Jens Wadfrau würde eh wieder gewinnen.

Draußen war es schon recht belebt. Wie gewöhnlich wurden die Straßen gesäumt von Frühaufstehern, die zu den ambitionierten und für jeden in der Stadt sichtbaren Wolkenbilderkompositionen des amerikanischen Komponisten Mark Peartree improvisierten, auf verschiedenen Instrumenten, ohne Instrumente, mit ihren Laptops oder mit ihren iphones. Ich versuchte die Spinner und ihre Kakophonie zu ignorieren und betrat die Ubahn. Ein abgerissener Geiger und eine ebenso abgerissene Sängerin führten die Kafka-Fragmente von Kurtag auf, wie jeden Morgen. Leider verlangten sie dafür auch Geld, was durch den leeren Hut vor ihnen offensichtlich wurde. Ich ignorierte das Klimpern meiner Schritte auf der Treppe, die die Form und Funktion von Klaviertasten hatte (auf diese Idee war eine schwedische Werbeagentur gekommen) und ebenso den hässlichen Kontrapunkt zu Kurtags Musik, der auf diese Weise entstand.

In der U-Bahn das übliche Bild: Jeder Wagenabschnitt war von einer anderen Performancegruppe permanent belegt, Teil des Projektes „Musik im Underground“. Ich wählte den Wagen mit der Clapping Musik von Steve Reich (in Dauerwiederholung), vermutlich weil es unglaublich schwül war und ich mir ein wenig vom Klatschen zugefächerte Kühlung erhoffte. Ich nahm den Sitz neben einem blassen Männchen, das krampfhaft einen Aktenkoffer hielt. Ich musterte den Mann genauer, bis ich das vertraute blaue Armband entdeckte. Der Arme – er arbeitete für das Kulturreferat, einer der schlimmsten Knochenjobs, die es heutzutage gab. Da quasi jeder Künstler war, umfasste allein die Freie Musikszene jeder größeren Stadt Tausende Namen, alle mit Anrecht auf persönliche Betreuung und finanzielle Unterstützung für deren viele Projekte. Das konnte alles mögliche sein: Neue Musik im Krankenhaus (zur Beruhigung und Erbauung). Neue Musik im Schlachthof (zur Betäubung der Tiere). Neue Musik und Häkeln, Neue Musik und Tai Chi, Neue Musik und…Die Mitarbeiter des Kulturreferats waren nicht zu beneiden, ihre Freizeit war quasi nicht existent.

Zu meiner anderen Seite saß ein „New Earer“, einer der wenigen Glücklichen, die ihre ganze Erfüllung im Hören von Neuer Musik fanden. Ein blasser und schlaksiger Langhaariger. Vielleicht war er mal Student gewesen. Wahrscheinlich war er schon seit Tagen im Abteil.
Er hatte die Augen geschlossen, im Takt wippte er mit dem Kopf zur „Clapping Music“. Aus seinem Mundwinkel tropfte Speichel. Wie hielt er es nur aus?

In diesem Moment wurde es mir klar: Neue Musik war allgemein präsent geworden. Man konnte ihr nicht mehr entgehen. Alles war Klang geworden. Warum noch kämpfen, warum noch widerstehen? Schon jetzt war mein ganzes Leben ein Neue-Musik-Pojekt, Teil einer großangelegten und hochexperimentellen Komposition irgend eines preisgekrönten Komponisten. Es gab kein Entkommen mehr, also konnte man sich auch ergeben. Es hatte keinen Sinn mehr, dagegen anzukämpfen.

Ich beobachtete meinen Fuß. Ein Zucken. Dann zwei. Mein Fuß war schon weiter, mein Fuß machte mit. Mein Fuß wippte im Takt zur Clapping Music.
Und ich wippte auch mit, zum ersten Mal seit langer Zeit glücklich wie noch nie. Ich verstand die Epiphanie: Auch ich war….ein „New Earer“ geworden.

Ich würde nicht mehr nach Stuttgart fahren, es war nicht mehr nötig. Ich würde hier in diesem Abteil bleiben, immerfort.
Zum ersten Mal in meinem Leben war ich glücklich.
Ich pfiff. Ein Ton, zwei Töne, drei Töne. Im Kopf zählte ich mit: 4,5,6,7,8,9,10,11….es fehlte nur noch ein Ton: 12!
Ich lächelte. Alles war gut.
Die Zwölftonreihe war vollendet.

Moritz Eggert

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6 Antworten

  1. strieder sagt:

    Ich bin New Earer und Langhaarig!

  2. Empörend, Herr Eggy, sie sollten sich realiter zu Tone schämen ! Solche affirmativen Schmierereien wie ihr Artikel dürften keinen Cent aus dem Groschen-für-Adorno-Bankkonto (GRAB) bekommen !

    Es sollte einem erfahrenen Blogger wie Ihnen doch bekannt sein, dass die „earClouds“ von Peartree (auch so ein langhaariger New Earer) nur ein virales Marketingprojekt sind für die neue Generation von Apple’s „earPads„, auf deren iTunes App nur noch Neue Musik runtergeladen werden kann – zum einmaligen Gebrauch, wie vorher im Konzertsaal ja auch schon.

    Was ich trotz eingefleischter Konsumkritik daran so super-authentisch finde, ist der Trick, dass man in jedem beliebigen Moment nur solche …fragmente… runterladen kann, die den gerade aktuell aus Börsenkursen und Fourieranalysen aller Klanginstallationen weltweit errechneten Verblendungszusammenhang inwendig hinterfragen: also keinen Bezug zur Obertonreihe aufweisen oder keine rhythmische Eindeutigkeit, von Textverständlichkeit oder Stilistik ganz zu schweigen, selbst Durchhörbarkeit ist ja perfide. So generiert das earPad seine ganz unbeirrbare Neue Musik in jedem Moment neu…

    Überhaupt: dass automatische Komponiersoftwares wie Weinenfrau 2.0 und Scharr-Rhino Zero S, die inzwischen als multinationale Unternehmen den Neue Musik Markt beherrschen, bei Ihnen gar nicht vorkommen, zeigt, wie sehr sie noch im valschen Bewusstsein leben: Als ob die Neue Musik von 2021 noch „human composers“ und ihre historisierenden Namen bräuchte.

    Bei Star Trek geht es doch auch ohne Köche…ein Replikator reicht. Oder etwa nicht ?

    Versachlichungsvoll
    Ihr Notendieb Bach-Vati

  3. strieder sagt:

    keinen Bezug zur Obertonreihe aufweisen oder keine rhythmische Eindeutigkeit, von Textverständlichkeit oder Stilistik ganz zu schweigen

    Radio anstellen 2011: Kein Bezug zur Obertonreihe (statt dessen: max. 7 Töne aus dem 12tet), 4/4-Takt, eindeutige Textverständlichkeit und unzugegebene Collagetechnik als Stilistik :P

  4. Florian Heigenhauser sagt:

    Mensch Moritz&Sandeep,
    Ihr seid noch die gleichen Kindsköpfe wie „zu Zeiten des Säbelzahntigers…“ ;-))
    Es grüßt Euch Florian

  5. @ John: tja, wenn man auch immer nur Untergrund- und Piratensender anhört… der aufrechte New Earer weiss doch eigentlich gar nicht, dass es etwas so saumässig Versöhntes wie 4/4 Takte gibt…kann ich bitte mal ihren musica viva Ausweis sehen ?

  6. strieder sagt:

    @Sandeep: „Untergrund- und Piratensender“? Soetwas gibt es doch gar nicht, ich soll hier wohl veräppelt werden? Es gibt nur zehn Radiosender, die zehn speziell für mich ausgewählte Songs in einer Schleife spielen. Mehr habe ich nicht gefunden*, daraus besteht meine musikalische Welt, und woher sollte ich von einer anderen wissen?

    (*Okay, da war so ein Sender, der war sehr leise und verrauscht, da kamen irgendwelche albernen Hops-Softie-Klänge raus, lt. Moderator „Motzart“ und „Haiden“, aber da schalte ich immer gleich weiter.)