Auf wilden Pfaden – ein Besuch beim Ensemble Sentieri Selvaggi
Als ich die Einladung des Mailänder Ensembles „Sentieri Selvaggi“ zu einer Aufführung zweier meiner Stücke in Mailand bekam, war ich nicht wenig erstaunt. Italien ist wie wir wissen ein Land mit massiven finanziellen Problemen im Kulturbereich. Unter Berlusconis perfidem Medienregime der Dummheit haben es Opernhäuser, Orchester und natürlich vor allem Ensembles für zeitgenössische Musik extrem schwer. Normalerweise bedeutet dies, dass man sich notgedrungen auf die eigene „Szene“ konzentriert, eigene Komponisten fördert, und es ist relativ selten, dass man von außerhalb eingeladen wird. Tatsächlich war es schon Jahre her, dass ich das letzte Mal eine eigene Aufführung in Italien erlebt hatte.
Am Flughafen holt mich Filippo del Corno ab, zusammen mit Carlo Boccadoro künstlerischer Leiter des Ensembles. Beide sind Komponisten und quasi die Bad Boys der italienischen Szene, denn sie verweigern sich den oft sehr akademisch geprägten Konzertprogrammen der italienischen Musikszene und versuchen andere Namen nach Mailand zu bringen, Komponisten wie Michael Gordon, Steve Reich, Louis Andriessen (z.B. die italienische Erst- und bisher einzige Aufführung von „De Staat“) .Andriessen war es auch, der die Gründung des Ensembles anregte.
Filippo del Corno: „Als ich bei Andriessen studierte, jammerte ich ihm ständig etwas vor von der miserablen Qualität und den langweiligen Programmen unserer italienischen Ensembles. Er sagte zu mir: Wenn ihr etwas ändern wollt, müsst ihr ein eigenes Ensemble gründen, und es besser machen. Wir haben auf ihn gehört.“
Das Ensemble besteht aus nur 6 festen Musikern, die in dieser Form seit fast 15 Jahren zusammenspielen und ihre Besetzung jeweils wo nötig erweitern. Dirigiert werden sie meistens von Carlo Boccadoro – einem sehr aktiven Dirigenten und Komponisten, der auch Radio- und Fernsehsendungen über Musik macht, Artikel schreibt und Vorträge hält. Der Name „Sentieri Selvaggi“ (Wilde Pfade) kommt vom italienischen Titel des berühmten amerikanischen Westerns „The Searchers“.
Schnell kommt die Sprache auf Berlusconi. Filippo erzählt mir, dass man sich in Mailand momentan an einer historischen Schwelle wähnt. Zum ersten Mal ist es einem Kandidaten der gegen Berlusconi kämpfenden Linken gelungen, einen Großteil der Bürger Mailands – was die politische Kultur Italiens angeht wohl die einflussreichere Stadt als Rom – auf seine Seite zu bringen. Zum ersten Mal seit über einem Jahrzehnt könnte es möglich sein, dass das perfekt durch politische Strohmänner abgesicherte System Berlusconi dauerhaft Schaden nimmt.
„In zwei Wochen sind Wahlen. Wenn unser Kandidat gewinnt, wäre das wie ein Erdrutsch. Dann würde ein Wahlkreis nach dem anderen fallen. Das Ende der Ära Berlusconi wäre eingeleitet.“ Filippo ist dies sehr wichtig – er widmet diesem Kampf alles und unterstützt den Wahlkampf der Linken auch selber aktiv. „Ich habe aufgehört zu komponieren, bis die Wahlen in 2 Wochen vorbei sind. Diese Wahl ist wichtiger als alles im Moment.“
Nicht nur in diesem Gespräch merke ich: Der Name Berlusconi ist omnipräsent, in allen Gesprächen taucht er immer wieder auf.
Am Abend besuche ich das Ensemble in ihrem Probenraum. Die Wände sind voll mit Plakaten von eindrucksvollen Auftritten rund um die Welt. Carlo Boccadoro begrüßt mich herzlich, und erzählt von der Idee ihres Festivals „Europa“. 1 Monat mit Konzerten mit Musik aus verschiedenen Ländern. Für „Germania“ sind Werke von Manfred Trojahn, Detlev Glanert und mir auf dem Programm. Keine typische Auswahl. Carlo erklärt es mir: „In Italien hat man den Eindruck, dass es nur einen deutschen Komponisten gibt: Helmut Lachenmann. Manchmal auch ein bisschen Rihm, aber eigentlich vor allem Lachenmann. Wir haben nichts gegen Lachenmann, aber es hat uns gereizt, auch mal etwas anderes zu hören. Auch wollten wir ein Statement gegenüber dem anderen Neue Musik-Festival in Mailand machen, das bald stattfindet.“
„Was wird dort gespielt?“ frage ich ihn.
Carlo lacht. „Lachenmann“, sagt er. „2 Wochen lang nur Lachenmann.“
Die „Sentieri Selvaggi“ sind gut, sehr gut vorbereitet, obwohl ihr Probenraum unmöglich klein ist und der Flügel schrecklich verstimmt ist. Da Carlo am nächsten Tag in Venedig dirigieren muss, hat man Ersatz geholt: Giovanni Mancuso aus Venedig, durch seinen Bartschnitt eindeutig als Zappa-Fan zu erkennen. Er ist leidenschaftlich bei der Sache und dirigiert sehr gut.
„In der Neuen Musik gibt es zu wenig Humor. Deswegen liebe ich verrückte Sachen. Aber man muß auch etwas können!“
Am nächsten Tag: Das Konzert findet im „Sala Fassbinder“ statt, Teil des Kulturzentrums „Elfo Puccini“, einem ehemaligen Kino, das nun in mehrere Theatersäle umgebaut worden ist. Am Eingang prangt das Konterfei von Puccini, mit einem Elfen-Ohr. Filippo erzählt mir, dass die Erben Puccinis gegen diese vemeintliche Verunglimpfung des Meisters Einspruch erhoben haben und gerade das Theater per Gericht zwingen, das Design zu ändern. Dabei sieht Puccini auf dem Bild so nett aus!
Die große Angst des Ensembles ist, das Konzert könnte zu leer werden – in Mailand ist viel los. Doch gottseidank ist es nicht so. Ich frage nach einem Programmheft: es gibt keins. „Wir können uns das nicht mehr leisten“, sagt Filippo.
Dann: „Kannst Du mir sagen, wie Manfred Trojahn ausgesprochen wird?“. Ich mache es ich ihm vor. „Tatsächlich?“ sagt Filippo. Er wirkt amüsiert. „Das klingt genau wie ein italienisches Schimpfwort für eine Prostituierte“, sagt er.
Das Konzert beginnt. Statt eines Programmheftes macht Filippo vor jedem Stück charmante Ansagen, wie alle italienischen Intellektuellen redegewandt und gut formulierend. Am Ende des Konzertes werden die Musiker noch einmal einzeln hervorgerufen und bekommen sogar Einzelapplaus – das muss sein, denn ihre Namen würde sonst niemand erfahren. Am Ende des Konzertes taucht ein mir unbekannter bärtiger Mann auf und hält eine Rede darüber, wie wichtig zeitgenössische Kunst für Mailand sei. Gerade jetzt, in diesen schwierigen Zeiten. Es scheint ein politisches Statement zu sein.
Nachher sitze ich mit den Musikern zusammen. Die Musiker albern: „Ihr Deutschen, wenn ihr wieder Lust habt, ein Land zu erobern, kommt zu uns, wir nehmen euch jederzeit als Eroberer. Es kann nur besser werden!“.
Italienischer Humor.
Nachts sehe ich im Fernsehen ein im Berlusconi-Sender von Berlusconi lanciertes Interview mit….Berlusconi. Die Interviewerin ist eine blondierte Schönheit mit deutlich hindrapiertem Ausschnitt. Berlusconi sitzt maskenhaft an einem Tisch, einen Füllhalter zwischen den Fingern manipulierend. Seine Haare wirken wie aufgemalt. Während des Interviews starrt Berlusconi wie gebannt auf den Ausschnitt der Frau. Zwischen seinen fleischigen Fingern rollt er einen Kuli hin und her – Freud hätte seine Freude.
Eines ist sicher – auch wenn ihm niemand mehr treu ist: seine Libido wird es bis zuletzt sein.
Komponist