Das Jahrhundert der lebenden Toten
In der letzten Zeit war ich in wenig still hier, was einerseits mit der üblichen Arbeitsüberbelastung vor Weihnachten zu tun hat, andererseits mit der Tatsache, dass mich die momentan sich überschlagenden Negativnachrichten im Kulturbetrieb so ermüdeten, dass Sprachlosigkeit die Folge war. Aber man will halt ungern erneut in den (verständlichen) Chor des Lamentierens einfallen. In diesem Forum sind wir uns eh größtenteils einig, dass um jeden Cent für Musik gekämpft werden muss, dass jedes Theater, jedes Festival, jedes Orchester bis auf’s Blut verteidigt werden muss. Wir bestätigen uns darin selber, beweisen damit die Solidarität von Soldaten im Schützengraben, können aber die Verhältnisse nicht wirklich damit ändern.
Inzwischen hat sich ein bißchen unter Kulturschaffenden als Pfeifen im Wald eingebürgert, dass man die momentane Situation allein mit den Spätauswirkungen der letzten Wirtschaftskrise erklärt. Insgeheim hoffen viele, dass es schon wieder besser würde, wenn erst einmal die Staatskassen wieder gefüllt sind. Aber natürlich stehen die gekürzten Theater und Orchester nicht plötzlich wieder von den Toten auf. Noch nicht mal als Zombies werden sie die Rotstiftschwinger quälen, sie werden weg sein, und es ist aus und vorbei, um die Fantastischen 4 zu zitieren.
Wir dürfen nicht vergessen: dies ist nicht die erste Krise der Nachkriegsjahre. Es gab deren viele, und zahlreiche davon waren genauso wirtschaftlicher Natur wie die jetzige. Im Vergleich zu mancher Krise der Vergangenheit, ist sogar die momentane Situation noch relativ überschaubar (was zynisch klingen mag angesichts nach wie vor drohender europäischer Staatspleiten -aber letztlich wird Geld einfach immer nur umgeschichtet, es gibt immer jemanden, der vom Verlust eines anderen profitiert).
Zu allen Zeiten werden nämlich Prioritäten gesetzt: Was ist wichtig für eine Gesellschaft, was ist erhaltenswert? In Krisenzeiten treten diese Prioritäten klarer zutage als sonst. Daher ist es wichtig zu erkennen, dass in vergleichbaren Krisen der Vergangenheit (wenn wir die Nachkriegszeit in Deutschland betrachten) niemals (!) ein solcher Raubbau an öffentlich unterstützter Kultur stattfand wie momentan. Dies heißt nicht, dass die jetzige Krise schlimmer als alle vergangenen Krisen ist, es heißt nur, dass man unsere Form von Kultur einfach nicht mehr als wichtig genug empfindet. Was als unwichtig empfunden wird, fällt beim geringsten Anzeichen von Problemen unter den Tisch -dies ist letztlich die Botschaft der Bonner Bürgermeister, der verantwortungslosen Lokalpolitiker und der holländischen Rechtspopulisten, etc.: „Ihr seid unwichtig“. Dieser Konsens ist unter Politikern immer häufiger anzutreffen.
Gestern sprach ich mit Ulrike Trüstedt, einer tapferen Protagonistin der freien Neue Musik-Szene in München. Sie erzählte mir von einem Besuch bei EON, einer Firma die in München in der Vergangenheit immer wieder Kultur gefördert hat. Ein Manager sagte zu ihr: „Wissen Sie, Frau Trüstedt, es ist inzwischen unter Managern geradezu schick gewordern, Kultur NICHT mehr zu fördern“.
Was wird stattdessen gefördert? Die Unkultur? Autorennen?
Selbst ein unermüdlicher Theo Geißler stellte neulich per Facebook fest, dass ihm einfach nichts mehr einfiele, wenn er zum tausendsten Male Leuten Kultur schmackhaft machen muss, die davon nicht das Geringste verstehen und die das auch nicht im Geringsten interessiert oder jemals interessieren wird. Also ist auch das vielbeschworene „amerikanische Modell“ keine Rettung, nämlich die Übergabe der Verantwortung für Kultur an private Sponsoren und Firmen. Der so genannte „Paradigmenwechsel“ ist in den USA schon schwer im Gange – da muss man sich keine Illusionen machen. Dort ist die Situation noch wesentlich desolater als hier, und die Rolle zeitgenössischer Kunst gleicht an nationaler Wertschätzung der Bedeutung eines Statisten in einer Massenszene von „Ben Hur“.
Ich bin immer wieder erstaunt, wie viele Kollegen der Neuen Musik in Deutschland (und nur dort) der Meinung sind „es geht vorüber“, dass sich auf wundersame Weise Rundfunkstationen und Festivals regenerieren und die alten Wanderwege der Festival-Circuits weiterhin funktionieren werden. Zu dieser Illusion trägt bei, dass es uns immer noch im Vergleich zu anderen Ländern relativ gut geht. Das bedeutet natürlich auch, dass Komponisten aus den anderen Ländern verzweifelt nach Deutschland strömen – was eine gigantische Chance eines Schmelztiegels für die Kunst wäre, wenn man sie richtig nutzen könnte, aber leider geht es bei uns ja auch bergab, nur etwas zeitverzögert.
Egal wie optimistisch oder pessimistisch wir in die Zukunft schauen: Wir müssen erkennen, dass sich der Kulturbetrieb wie wir ihn kennen grundsätzlich wandelt, und das schneller als uns lieb ist. Die „Neue Musik-Szene“ (nur ein winziger Teilaspekt davon, wie sich leicht beweisen lässt, wenn man die Spielpläne der ebenso bedrohten Theater und Opernhäuser anschaut), diese Szene wie wir sie noch kennen ist dem Tode geweiht. Dieser langsame Tod mag sich noch jahrelang hinziehen und man mag mich jetzt noch für diese Aussage spotten und schelten, aber insgeheim wissen wir alle – wenn wir ganz ehrlich sind beim morgendlichen Blick in den Spiegel – dass dieser Vorgang unausweichlich ist. Die klassische Musikszene ebenso – da mögen noch tausend Lang Langs die Klaviere malträtieren und damit noch einiges Geld verdienen. Es ist ohnehin die Frage, wie viel „Klassik“ diese Art von Stars überhaupt noch präsentieren, gleichen doch ihre Programme immer mehr müden Potpourris aus den immer gleichen und weniger werdenden „Klassik-Hits“. Die Kuh wird halt gemolken, solange sie noch Milch gibt.
Dieses Sterben ist zum Teil selbstverschuldet und liegt auch daran, dass jede hermetische Szene irgendwann von Kunst zu Kleinkunst wird. Aber es gibt auch Gründe dafür. die komplett außerhalb unserer Verantwortung liegen, ähnlich wie auch keinen „Kumpel“ die Schuld an der Schließung von Bergwerken im Ruhrgebiet traf.
Diese Gründe stellen sich als ein komplexes Geflecht von Veränderungen dar, die schon das ganze 20. Jahrhundert durchzogen haben. Aus der langen Liste wären zu nennen: Verlust der Einzigartigkeit der Kunst durch Reproduzierbarkeit; Niedergang der bürgerlich gebildeten Mittelschicht und wachsende Kluft zwischen arm und reich; das neue Phänomen des „Weltkrieges“ und neue, bis dahin noch nie dagewesene Dimensionen der Unterdrückung und Diktatur, die die natürliche Verbreitung von ästhetischen Ideen der Moderne genau in dem Moment unterbrach, als diese am virulentesten waren und damit das langsam zurückkehrende Publikum der 50er Jahre ratlos machten; neue Formen der kommerziellen Massenunterhaltung, die gleichzeitig kalkuliert den niedrigsten Nenner bedienen, diesen damit aber immer weiter herunterschrauben usw.
Vor uns befindet sich nicht das Ende von Kultur überhaupt, aber das Ende von Kultur wie wir sie kennen.
Vielleicht bedeutet dies, dass wir eine Kultur erfinden müssen, die wir noch nicht kennen.
Kunst sucht sich ihren Weg, das ist sicher.
Wie man mit dieser Situation umgeht, ist jedem selbst überlassen. Es gibt die unterschiedlichsten Haltungen, zum Beispiel die „jetzt erst recht“ -Haltung, die darauf spekuliert, das wir uns in einer Art neuem Mittelalter befinden, in dem das Wissen an den Universitäten oder in den Geheimzirkeln der Neuen Musik überdauert, wo es dann Jahrhunderte später zur großen Begeisterung aller wiederentdeckt wird. Andere hoffen unermüdlich auf den großen Durchbruch im Verständnis, die große Epiphanie des Massenpublikums, das nun sozusagen endlich anfängt, die 12-Ton-Melodien zu pfeifen, um ein abgenutztes Bild zu bemühen. Wiederum andere glauben an die Heilung durch umfassende musikalische Bildung – da ist das Unwort „Grundmusikalisierung“ nicht weit, wenn die Menschen quasi zu ihrem „Glück“ gezwungen werden. Manche suchen ihr Heil in Alternativszenen, die dann ebenso der Gefahr der Randständigkeit ausgesetzt sind. Andere wiederum hoffen inständig auf eine wundersame Wiedergeburt einer „Leitkultur“, die schon vor einigen Jahren zu Grabe getragen wurde, vom Großteil der Menschheit unbemerkt. Und schließlich gibt es diejenigen, denen einfach das Überleben ziemlich gut gelingt und die nichts ändern wollen oder können.
Keine dieser Haltungen wird uns retten.
Was mich überrascht ist das allerorten anzutreffende Zaudern. Wäre ich Opernintendant und müsste ich (wie eigentlich inzwischen überall außer an wenigen renommierten Häusern) feststellen, dass selbst alte Zugpferde wie „La Boheme“ oder „Csardasfürstin“ keinerlei Publikum mehr anziehen, da dieses größtenteils weggestorben ist, würde ich einen radikalen Schnitt machen und nur noch (ausschließlich!) ganz neue Stücke spielen, die den bei uns in den Kommentaren immer wieder laut gewordenen Ruf nach etwas „ganz anderem“ erfüllen – weniger Publikum könnte ich ja gar nicht mehr haben, oder? Und vielleicht hätte ich die Chance, ein neues Publikum zu gewinnen.
Ich glaube schon – als ewiger Optimist, was sich diesen Zeilen vielleicht nicht anmerken lässt – dass bestimmte Aspekte der Neuen und klassischen Musik eine Überlebenschance haben. Ich glaube auch an eine Überlebenschance unserer Theater, Opernhäuser und Orchester. Aber es ist ganz klar, dass ein Umdenken stattfinden muss, dass die klassischen Produktionsmethoden die sich allerorten eingebürgert haben, einer radikalen Neudeutung bedürfen. Wir werden auf manch Liebgewonnenes Verzichten müssen, aber es gibt dann auch Neues, das man wieder liebgewinnen kann.
Das ist im Moment der Gedanke, der mir persönlich die meiste Hoffnung macht: Wenn etwas stirbt, entsteht etwas Neues. Aber wir müssen diesem Neuen auch eine Chance geben. Es bedarf einer gemeinsamen Anstrengung, dieses neue Feld zu bereiten, wir dürfen nicht tatenlos dahindämmern.
Es ist interessant, dass der Zombie das prototypische Popularkultur-Monstrum des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts ist. Der Zombie symbolisiert das Vergangene, das nicht loslässt, den Wiedergänger, der uns quält. Die schrecklichsten Zombies sind diejenigen, die sich dumpf der Wiederholung der immer gleichen einstudierten Rituale hingeben. Hierfür hat George Romero mit dem Bild der Zombiebelagerung eines Einkaufszentrums in „Dawn of the Dead“ das vielleicht stärkste Bild gefunden – die lebenden Toten zieht es dorthin, weil sie sich schon in der Vergangenheit in diesem Konsumtempel aufgehalten haben, mit hohlen und leeren Augen starren sie auf die Auslagen, den Glanz vergangener Zeiten heraufbeschwörend. Aber im Grunde interessiert sie nur noch eines: Menschenfleisch.
Auch der Kulturbetrieb frisst schon jetzt seine eigenen Kinder. Wir leben schon im Zombieland, sind selber die lebenden Toten, wir halten uns am Vergangenen fest, als hinge unser Leben davon ab. Aber vielleicht ist es nur ein Reflex, ähnlich dem der Zombies. Der Unterschied ist vielleicht, dass wir das Dasein als Lebende Tote jederzeit abstreifen könnten. Velleicht werden wir es dann tun, wenn wir durch äußere Umstände dazu gezwungen werden.
Ansonsten dürfte auch ein einfacher Kopfschuss genügen, um der Sache ein Ende zu machen.
Das bißchen Gehirn dürfte relativ leicht abzuwaschen sein.
Moritz Eggert
Komponist
Mein lieber Moritz,
eins möchte ich dann doch anmerken: Es werden zu viele Totenglocken und Krisenlamenti angestimmt von denjenigen, die am Leichnam noch ganz gut verdienen. Ich merke jedenfalls nichts von einer versorgungskrise der Opernhäuser, die insgesamt in Deutschland immer noch gigantische Summen jährlich verschlingen.Die Krise findet eher woanders statt:
1) Die soziale Schere zwischen arm und reich geht in Deutschland seit der Wiedervereinigung immer weiter auseinander (statistisch nachweisbar). Das heißt: Immer weniger können sich eine Opernkarte überhaupt leisten, selbst wenn sie mit 80% subventioniert ist. Der Bedarf an kultureller Unterhaltung ist dagegen keinesfalls zurückgegangen, nur finden Angebot und Nachfrage eben nicht zueinander. Auf der einen Seite wird zu viel Geld verteilt, auf der anderen Seite ist zu wenig Kaufkraft da. So einfach ist das Problem auf den Nenner gebracht.
2) Folgert aus 1): Wir Komponisten sollten endlich unsere Eitelkeit ablegen und aufhören darüber zu philosophieren, wie die Welt geschaffen sein müsste, damit sie unseren Vorstellungen von Kultur entspricht, sondern wir sollten endlich das Riesenkulturpotenzial, was in den Menschen nun einmal schlummert, erkennen und es aktiv wecken. Also: Weg mit den Podesten und dem Falkenblick aus 200 Meter Höhe, der in der Tat zu Schwindel- und Übelkeitserscheinungen führt, wenn man ihn zu lange praktiziert.
3) gerade lese ich in der Zeitschrift Concerti ein Interview mit dem neuen Generalmusikdirektor der deutschen Oper Donald Runnicles (einem Schotten, aus den USA importiert). Man mag mich für einen unverbesserlichen dumpfen Nationalisten schelten, aber ich bleibe bei meiner Meinung: Ausländische Generalissimi etc. an deutschen Opernhäusern sind das letzte, was wir brauchen, wenn zeitgleich 15 vergleichbare Begabungen, die bei uns eine harte und hochwertige Ausbildung durchlaufen haben, keinen Job finden. Wenn man diese Kinderkrankheit an den deutschen Opernhäusern nicht möglichst bald abstellt, bin ich – FÜR eine Schließung derselben.
Vielleicht wäre es hilfreich, wenn die Neue Musik endlich als das „vermarktet“ würde, was sie ist: Das aufregendste überhaupt. Wünschenswert wäre es auch, statt des ständigen Entschuldigens dafür, was man tut (z.B. Neue Musik spielen oder komponieren), etwas mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln, wie etwa diese Herren: http://www.youtube.com/watch?v=1bQHZwCsKpg
Viele Grüsse ;)
Das passiert doch auch schon vielfach, z.B. durch „2x hören“ – Moderation Markus Fein, B.A. Zimmermanns Monologe. Nur würde ich, wenn ich ein neues Werk für 2 Klaviere oder Cello solo schreiben sollte, mir B.A. Zimmermanns Stücke als Vorbereitung nur deshalb anschauen, um dann genau zu wissen, wie ich es NICHT machen würde. Insofern kann ich jetzt heute sagen, dass ich heute keine „Neue“ Musik mehr schreibe, in dem festen Wissen, dass die „Neue Musik“ mittlerweile ein stockkonservatives, durch unausgesprochene Verbote festgefahrenes Unternehmen geworden ist. Und aus diesem Bewußtsein heraus ziehe ich mein Selbstbewußtsein, das keinesfalls deifizitär gelagert ist.
Wie sehen diese unausgesprochenen Verbote aus?
Da könnte man so einige heilige Kühe nennen: 1) Etwas Kritisches über die Musik und die Musikvermittlungsvorstellungen von Helmut Lachenmann zu äußern. 2) für ein neues Werk das Schreiben eines Textkommentars ablehnen. 3) Der Dissonanz einen qualitativen und möglicherweise auch gravitativen Charakter zuzusprechen (in scharfer Antithese zur heute unangezweifelten Doktrin der Quantenmechanik und zu Schönbergs Dodekaphonie und Folgende/16tel-Ton-Verfeinerungen etc., bei der alle Dissonanzen prinzipiell gleichgestellt sind)- Schönbergs Ansatz nicht als Anfang, sonder als Ende einer Entwicklung zu begreifen 4) Kein Interesse an Multi- Inter-Extra usw.media tralala zu haben (meiner Meinung nach Verrat an der Musik) 4) Dass der Hörer in der Lage ist, neu komponierte Musik unmittelbar zu verstehen, und keine infantilen und simplizistischen Legosteine o.ä. als Demonstrationsobjekte benötigt (wie es Markus Fein bei den Monologen exerziert).