Jean Tinguely

Gestern, am 22. Mai, wäre der von mir geschätzte Maschinenkünstler Jean Tinguely (1925-1991) 85 Jahre alt geworden. Heute Vormittag lief auf 3Sat eine Sendung über ihn.

Werbung

In der Sendung hieß es, einstmals, in den 1960er Jahren seien seine Maschinenskulpturen kritische Kunstwerke gewesen, die die Maschinisierung des Menschen anklagten. Dann, später, habe sich Tinguely – auch durch den wachsenden Zuspruch der Kunstszene – durch seine immer heiterer werdenden Bewegungsbauten mit der modernen Welt „versöhnt“.

Und da fiel mir doch eine begriffliche Unschärfe aus, die ich zwar auch einfach hätte meinem Kioskmann erzählen können, aber warum sollte ich das nicht hier ansprechen?

Natürlich hat sich Tinguely nicht v e r s ö h n t, sondern: seine Kunst hat sich domestizieren lassen.

Ich weiß, es interessiert niemanden. Aber: ich hasse begriffliche Unschärfen!

Versöhnung ist nicht = Domestizierung.

Der Wolf ist ja nicht deswegen ungefährlicher für das Lamm, nur weil sich der Schäferhund zuhause so süß streicheln lässt.

Liste(n) auswählen:
Unsere Newsletter informieren Sie über Neuigkeiten im Badblog Of Musick. Informationen zum Anmeldeverfahren, Versanddienstleister, statistischer Auswertung und Widerruf finden Sie in unserer Datenschutzbestimmungen.

Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.

8 Antworten

  1. wechselstrom sagt:

    „Domestizierung“ und im Zusammenhang damit „Selbtdomestizierung“ ist ein Begriff, der u.a. in der vergleichenden Verhaltensforschung a la Konrad Lorenz in Gebrauch ist.
    In politischen Zusammenhängen und in Kunstkontexten (sofern Kunst politische Inhalte transportiert) hat dieser Begriff den Geruch einer Jauchegrube.
    Hier wird „Domestizierung“ auch mit „Verhausschweinung des Menschen“ übersetzt.

    Im oben stehenden Artikel ist dieser Begriff wohl im übertragenen Sinne, also etwa „Verfälschung einer ursprünglichen Idee“ gebraucht.
    Wodurch diese Verfälschung geschehen ist, wenn Lücker schreibt „seine (Tinguelys) Kunst hat sich domestizieren lassen“, was an Tinguelys Kunstidee verfälscht wurde und wie diese Idee in ihrem Ursprung zu beschreiben ist, das alles wird geschickt offen gelassen.

    Ebenso fehlt ein Nachweis/Hinweis, ob Tinguely überhaupt eine Idee fixe hatte, die er dann in Variationen ausarbeitete oder die er immer mehr zu verfeinern und zu perfektionieren gewillt war.

    Ich hasse gedankliche Unschärfen.

    Bevor hier wieder ein unreflektierter Blödsinn gepostet wird, empfehle ich Herrn Lücker, sich eine Zeitung zu kaufen (z.B. die Züricher), mit „seinem“ Kioskmann eine nette Unterhaltung zu führen und einige Zeit nachzudenken, was dieser belesene Kioskmann so gesagt hat.

    Ich hoffe auf ein Lückersches Heureka (Eureka)
    Als Anregung:
    —> http://de.wikipedia.org/wiki/Heureka_(Plastik)

    – wechselstrom –

  2. querstand sagt:

    Ich sehe Rösti, nein, Röstigräben zwischen Berlin und Wien!? Der sogenannte Kartoffelgrabenbruch öffnet sich… Wenn ich „domestizieren“ höre, sehe ich Tinguely an einem Halsband vor Niki de Saint Phalle daherkriechen.

    Höchstwahrscheinlich war Tinguely allerdings niemals so „kritisch“ in seiner Kunst, als dass auch jenseits von „Verhausschweinung“ und „Domestizierung“ automatisch eine Popularisierung in seiner Kunst steckt. Wenn’s den Kunstsammlern erst Angst machte, was er an Maschinenteilen zusammenlötete, später auch schweisste, dürfte es den Technikfreaks zuerst ein mildes Lächeln abgewonnen haben. Später hat’s wohl Milde auf beiden Seiten ob des technischen Dilettantismus und der naiv-mythologischen Verspieltheit der inhaltlichen Aufladung ausgelöst.

    Wenn man so an die Place Stravinsky in Paris denkt oder auch den Zyklopen nahe Fontainebleau oder an jene Installation am Zürichsee, die ich als kleiner Stepke mal sah – heute nicht wiederfinde (war’s ein anderer Park, an einem anderen Schweizer See – ich war dort als Zwerg aber öfters und öfters eben nur in Zürich… weiß da jemand mehr?), jagen einem eher die Brücke zum IRCAM, die Flipfloptouristen im Wald oder mein schwaches Erinnerungsvermögen Angst ein. Irgendwie hat Tinguely immer schon was „Nettes“ für mich gehabt, liegt’s nun an seiner Freundlichkeit oder an dieser, die man wieder in seiner Kunst findet?

    Vielleicht liegt in seinem Schaffen eine erste Fremdheit, dann aber doch eine Höflichkeit, Nettigkeit wie in Werken Duchamps, Cages, vielleicht auch Feldmans (da schreckt doch eigentlich nur die Länge?). In ihrem ersten Auftreten haben all diese Herren garantiert verschreckt, gewohnte Seh- und Hörgewöhnheiten, besser Seh- und Hörbegriffe durcheinandergewirbelt, aber irgendwie hat deren Kunst doch immer auch eine Verstehensebene, die sie nach dem „Schock“ begreifbar macht, ohne das man in allzu grosse Tiefenschichten eindringen müsste. Wohnt also eine Tendenz in deren Werken inne, die zu simpel ist, um die Dinge wirklich erratisch zu halten?

    Aber selbst diese unzugängliche, vielleicht sogar nur vermeintlich unbegreifbare Ebene mag erratisch bleibend, aber nicht ablehnend sein.

    Wie anders ist es da z.B. mit Ferneyhough: seine Kunst trägt das Unzugängliche auf grossem Schild vor sich her. Als Spieler ist man da tatsächlich immer wieder gefordert, kommt niemals zu einem Ende. Als Hörer, als der, der zuerst an der Oberfläche begreift: erratischer, geschlossener, hermetischer ist diese Musik immer im Erstenmal, als das Erstemal im Erleben der Kunst eines Tinguely, der Reiz des Neuartigen höher in des einen Musik als in des anderen Kunst. Nur beim weiteren Begreifenwollen überrascht der Klang, die Virtuosität, die Hermetik eines Ferneyhough im jeweiligen Erstenmal freundlicher als die Einfachheit Tinguelys. Beim weiteren Hören nutzt sich für mich Ferneyhough dann doch schneller ab als Tinguely im Sehen.

    Vielleicht liegt dies einfach an den unterschiedlichen Bewusstseinsebenen von Hören im Gegensatz zum Sehen? Begreifen über Hören ist ja immer umfassender und darin schneller als Begreifen im Sehen. Beim Hören ist man der Zeit des Machers ausgesetzt, beim Sehen Herr seiner eigenen Blickgeschwindigkeit. Nun kann man natürlich bestimmte Stellen Ferneyhoughs immer wieder durch das Abhörgerät laufen lassen, also sowas wie eigene Hörmacht kreieren. Irgendwann kapituliert man aber eben doch und hakt die eine Stelle im Vergleich zu anderen Stelle im Bezug auf das ganze Stück als interessant, komplex, „aber was soll’s“ ab. Oder man steigert sich bestenfalls in einen Bewusstseinsrausch, der doch immer letztlich nur irgendwie heteronom auf mich wirkt, ein kristallines Zeitgefüge zeigt, aber nicht in ein eigenes Zeiterleben als Hörer integrierbar ist.

    Nun herrscht beim Betrachten eines Tinguely-Apparats mit seinen mechanischen Abläufen auch eine eigene Zeit, die erstmal nicht die meine ist. Da man dabei immer einen grossen Teil übersieht, gibt man sich gerne der Wiederholung hin, schlüpft in diese Zeit hinein, lässt deren Ablauf zu einem eigenen Ablauf werden. Und so geht es einem doch auch mit Feldman und Cage – natürlich gibt es da auch als grandiose Ausnahme die Music of Changes.

    Was hilft nun die Frage des „domestizierten“ Kunstwerks, wenn es von sich aus auf Reizebenen spielt, die Begreifen sehr klar ermöglichen? Domestiziert es aber den Domestizierenden? Die Gefahr in der Klarheit und Einfachheit ist immer, dass simplifizierende Allgemeinplätze das Kunstwerk auf einen Boden, ein Niveau bringen, das fern jeder Erratik ist. Allerdings kann dann solch ein Kunstwerk auch wieder Wirkungen entfalten, wo Hermetik immer abgehoben bleibt.

    So begreife ich das Janusköpfige Tinguelys: es öffnet sich irgendwie immer Richtung Betrachter, der öffnet sich, glaubt den Wesenskern zu erfassen, ist bei höherem Bewusstsein auch von dem nicht zu Erschliessenden fasziniert, das Erratische dringt so oder auch unbewusst an ihn heran.

    Das hat natürlich nichts mit „altersmilde“ zu tun. Das ist eher mal wieder ein Ausfluss der Relevanznachweise, die ein Kunstfilmproduzent selbst in einer öffentlichen-rechtlichen Sendeanstalt, die sich ja – wie erst recht 3Sat – dem Kulturellen verschrieben haben, seinem Direktor bringen muss. Dieser Direktor wird dann sowieso Niki de Saint Phalle eher für Tinguely halten, da er in irgendeinem Urlaubsressort schon einmal ähnliche bunte Figuren in einer Ecke gesehen hat oder unter drehenden Buntfiguren im Pool eine dunkle Schönheit nicht befriedigen konnte. Wäre er doch beim Privat-TV, da könnte er „Phalle“ auch ohne „Niki de Saint“ ausleben, das Gehalt würde es ihm ggf. ermöglichen…

    Wenn also so klare Kunst, wie die Tinguelys herabformuliert werden muss, wo sie doch von sich aus zu uns hernierderkommt… Da wäre doch mal ein Ferneyhough-Brunnen angesagt! Und aus solch heiligem Zorn heraus gewinnt die komplexe Musik wieder ihre Berechtigung. Vielleicht muss Kunst den Schlüssel immer zu sich tief verbergen, vielleicht heute tiefer denn je?!? Aber kann sie dann nicht mit Honig locken, Fliegenfänger ausbreiten, Scheintüren bereithalten – die man aber mit Freuden sucht? Und das mit der Freude ist ja auch eine Geschmacksfrage, die weder altersmilde noch domestiziert sein sollte… Die Kunst ist dies nicht, allerdings der Mensch. Vielleicht ist Altersfrust in ihrer kapitulatorischen Fakitizität einfach nur „scheinbare Altersmilde“? Der Schein aber ist oft schon Alles…

  3. peh sagt:

    politischer tinguely:

  4. querstand sagt:

    @ peh – danke, marvellous!!

  5. wechselstrom sagt:

    Eureka, die Wundermaschine, das eiserne Monster und monströses Spiegelbild einer Kuckucksuhr-Gesellschaft

    —> http://www.youtube.com/watch?v=Eax4nuOFp8I

    Standort laut Wikipedia
    Zürichhornpark in Zürich

  6. querstand sagt:

    @ Vielen Dank ins Laborrrr!!

  7. strieder sagt:

    Leider ist die Welt übersäht mit Texten, die solche „begrifflichen unschärfen“ pflegen. Ich rege mich da auch immer furchtbar auf …

  8. Erik Janson sagt:

    Schrott- und Schießbilder:

    Da wird – vor allem die angloamerikanische Kultur und das, was derzeit passiert – perfekt widergespiegelt.
    Zynismus und Affirmation in Reinform.