Abschied vom linearen Erzählen?

Hier mal wieder ein Beitrag von Wolfgang-Andreas Schultz, den er mir für die Veröffentlichung im Bad Blog anbot (der Artikel erschien vor einiger Zeit in der NZ). Da es sich hier um einen ernsthaften Beitrag zu momentanen ästhetischen Fragen handelt, finde ich es angemessen, ihn hier noch einmal zu bringen.
Im Grunde geht es Schultz darum, einen neuen Denkansatz zu finden, der die scheinbare Unvereinbarkeit mancher Positionen der Moderne in einen neuen Zusammenhang bringt, der ihnen ihre Folgerichtigkeit und auch produktive Wirkung nicht abspricht, aber auch ein „danach“ ermöglicht.
Dass sich alle Positionen irgendwann abnutzen, ist uns allen klar – die Frage ist nur: sind diese dann endgültig zu den Akten gelegt, oder tauchen sie – unter veränderten Umständen – wieder auf? Dieser Frage will der folgende Artikel u.a. nachgehen.
Moritz Eggert

Wolfgang-Andreas Schultz:

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Abschied vom linearen Erzählen?

I.

Die Gegenwart aus der Vergangenheit heraus verstehen zu wollen und eine Zukunft zu entwerfen, gehört zum bewußten Menschsein dazu. Allerdings ergeben sich Entwicklungslinien, die zur Orientierung dienen können, nicht von selbst, sie sind Konstruktionen, die an zwei Punkten auf subjektiven Entscheidungen beruhen: in der Auswahl der Fakten und in der Art, wie diese durch einen „roten Faden“ zu einer sinnvollen Erzählung verbunden werden. Darin findet sich in der Regel das eigene Weltbild verschlüsselt: ein Agnostiker, der sich und die Welt als zerrissen erlebt, wird die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts anders lesen als ein praktizierender Buddhist. Die Subjektivität geschichtlicher Erzählungen ist unhintergehbar (Rapp 1992), einen objektiven, „archimedischen“ Punkt außerhalb gibt es nicht.
In der Regel werden musikgeschichliche Entwicklungen linear erzählt, d.h. auf der gedachten Zeitachse sind die Ereignisse derart angeordnet, daß das Neue das Alte ersetzt; beliebtes Beispiel: nach Entstehung der Atonalität sei Tonalität nicht mehr möglich – so Adorno in seiner „Philosophie der neuen Musik“. Wird solche Entfernung von der Tradition gradlinig fortgeschrieben, dann sind irgendwann Phrasenbildung, Melodik, Taktmetrik und vieles andere nicht mehr verfügbar, jede Art von Sprachlichkeit wird zum Problem – so kürzlich noch vertreten von Albrecht Wellmer (Wellmer 2009). Wenn Komponisten es anders halten, gelten sie als „rückwärtsgewandt“ oder „reaktionär“, weil sie auf dieser gedachten Linie einen oder mehrere Schritte zurückgehen und auf vermeintlich „unwiderruflich“ Verlorenes zurückgreifen.
Bei solcher – etwas grob skizzierten – Lesart der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts wird Folgendes nicht thematisiert:
1.Die subjektiven Entscheidungen, die dieser Linie zugrunde liegen. Die Frage von Tonalität und Atonalität ins Zentrum zu stellen, Schönberg und seine Schule und die darauf aufbauenden Strömungen als nahezu einzig relevante neue Musik zu erklären, ist eine subjektive Entscheidung, die eingestanden und philosophisch begründet werden sollte.
2.Eine solche Entwicklungslinie – und das gilt für alle – erhält ihre Zwangslaufigkeit und ihr Verpflichtendes nur durch die Ausblendung der Frage, ob bestimmte Phänomene nicht durch Zeitumstände bedingt sind, die später ihren Einfluß wieder verlieren können. Ist es Zufall, daß nach dem ersten Weltkrieg die Zwölftontechnik, nach dem zweiten die serielle Musik entstand? Sollten diese Techniken Folgen der Kriegtraumata sein (Schultz 2005), dann würde deren Wirkung nach einigen Generationen nachlassen. Damit wären bestimmte Entwicklungsschritte umkehrbar, scheinbar „unwiderruflich“ Verlorenes wieder möglich. Wenn also bestimmte Phänomene Folge bestimmter historischer Konstellationen sind, ist der Glaube an die Unumkehrbarkeit von Entwicklungen nicht haltbar.
3.Jede Entwicklungslinie erreicht irgendwann einen Punkt, wo sie mit Sinn nicht mehr fortsetzbar ist. Dann bricht Pessimismus aus und es wird vom Ende oder vom Tod der Musik gesprochen (Lachenmann 1997), anstatt die Einseitigkeit und die Sackgasse der einen Entwicklungslinie wahrzunehmen – da bleibt nur der Sprung aus alten Denkstrukturen heraus.
Demgegenüber wäre es schon befreiend, von einer Vielzahl paralleler und sich durchkreuzender Entwicklungslinien auszugehen. In einer anderen Entwicklungslinie – auch sie ist eine Konstruktion – stellt sich die Frage von Tonalität und Atonalität ganz anders. Wenn man von Mahler über Schostakovitsch zum Stilpluralismus eines Alfred Schnittke einen „roten Faden“ legt, dann ist Tonalität nie verloren gegangen, sie hat sich weiterentwickelt und ist immer Teil der musikalischen Sprache geblieben. Oder man betrachtet die Entwicklung in England (Britten) und in den skandinavischen Ländern, wo bis heute eine Tradition lebendig ist, die eine romantische Diktion und Tonalität einbezieht. Auch muß die chromatische Harmonik der Spätromantik nicht zwangsläufig zur Atonalität führen. Vom späten Debussy ausgehend könnte man eine Entwicklungslinie konstruieren bis hin zur Polytonalität, nicht zur Abschaffung, sondern zur Vervielfältigung tonaler Zentren. Der Glaube an die eine wesentliche Linie, die den Bruch mit der Tonalität und nach und nach mit allen traditionellen Dimensionen ins Zentrum stellt und sich als „Neue Musik“ (mit großem N) etabliert hat, ist finsterer Aberglaube und ziemlich zentraleuropäisch-provinziell.

II.

Die Postmoderne verweist auf die Relativität aller „großen Erzählungen“ (dazu Welsch, 1988, S. 32), also auch der einer Entwicklung von der Tristan-Chromatik über die freie Atonalität, die Zwölftontechnik zum Serialismus und zur Arbeit mit Geräuschklängen. Das heißt nun aber nicht, man könne und dürfe keine Entwürfe für die Zukunft und keine musikhistorischen Konstruktionen mehr entwickeln, nur muß man um ihre Relativität wissen und in der Lage sein, auch anderen Entwürfen ihre Berechtigung zuzugestehen.
Die pluralistische Postmoderne irritierte besonders die Anhänger der von Adorno geprägten Erzählung dadurch, daß wieder ältere Stil- und Ausdrucksbereiche zugelassen wurden. Stile stehen immer auch für Lebenshaltungen, Charaktere und Arten, in der Welt zu sein und die Welt zu sehen, und mit der Ausgrenzung älterer Stilmittel verschwanden immer auch Ausdrucksbereiche und Lebenshaltungen aus der Musik, jedenfalls wenn man die Entwicklung als Linie liest im Sinne von „Das Neue ersetzt das Alte“.
Die Theorie der Bewußtseinsevolution, im Kern bereits formuliert im Odysseus-Kapitel von Horkheimer und Adornos „Dialektik der Aufklärung“ (Adorno/Horkheimer 1969) und Musikern bekannt durch die Jean-Gebser-Rezeption von Peter Michael Hamel (Gebser 1949, Hamel 1976), erkennt in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit verschiedene Stadien, die mit den Begriffen „archaisch“, „magisch“, „mythisch“, „rational“ und „integral“ bezeichnet werden. Heute werden diese Ebenen noch differenzierter betrachtet (Wilber 2001), und darüber hinaus fasst man die Ebenen bis einschließlich der rationalen in einer größeren Gruppe zusammen, das „first tier“. Die Moderne gilt als letzte dieser Ebenen, die überwiegend nur ihr eigenes Paradigma leben, als letzte des „first tier“.
Mit der Postmoderne betreten wir die erste Ebene des „second tier“, und da die Linie als Modell für Entwicklungen hier offenkundig nicht ausreicht, werden sie mehr spiralförmig vorgestellt, d.h sie kommen immer wieder zu ähnlichen Punkten zurück, aber auf einer höheren Ebene, angereichert durch die inzwischen gemachten Erfahrungen. (Beck 2007) So kann man allen Ausdrucksbereichen, Daseinsformen und Lebenshaltungen ihre relative Berechtigung innerhalb der spiralförmigen Entwicklung zugestehen. Beim Auftreten des „second tier“ „fällt es uns wie Schuppen von den Augen, und wir können zum ersten Mal die Legitimität aller bislang erwachten menschlichen Systeme anerkennen. Es sind Formen unserer Existenz, die das Recht haben, da zu sein.“ (Beck 2007, S. 424). Insofern nimmt die pluralistische Postmoderne eine Schlüsselstellung ein als Scharnier innerhalb der Bewußtseinsevolution beim Übergang zu den Ebenen des „second tier“. Das läßt historisierende und archaisierende Stile in neuem Licht erscheienen; und in jeder Aufführung von Strawinskys „Sacre“ lebt, ins Ästhetische transformiert, die Zeit wieder auf, in der man glaubte, der Mutter Erde Menschenopfer bringen zu müssen. Bernd Alois Zimmermann hat mit seiner Idee von der „Kugelgestalt der Zeit“ (Zimmermann 1974) schon in diese Richtung gedacht.
Lag die Gefahr bei den Strömungen der Moderne in einer verhärteten, zu engen, auf die eigene Entwicklungslinie fixierten Identität, so liegt die der Postmoderne im Zerfließen der Grenzen, in der Auflösung von Identität. Auf der drohenden Beliebigkeit des „anything goes“, der großen Gleichgültigkeit alles allem gegenüber, haben die Vertreter der Moderne zur Recht kritisch insistiert. Aber das Verharren in den Fesseln der „Neuen Musik“ ist keine Lösung. Eine solche könnte allerdings zu finden sein im Übergang zur nächsten Stufe des „second tier“, der „integralen“.
In der Evolution des Bewußtseins treten die Ebenen nämlich nicht beliebig auf, sondern in ihren Grundstrukturen in einer kulturübergreifend gleichen Reihenfolge, die eine Orientierung ermöglicht. So kann Sri Aurobindo, der indische Philosoph und Vordenker der integralen Ebene, formulieren :“Eine solche Komplexheit und ein solches Zusammenfassen von vielen Persönlichkeiten in einer Person (bzw. von verschiedenen Stilbereichen und Ausdrucksformen in einen Stil – Ergänzung WAS) kann ein Zeichen für eine sehr fortgeschrittene Stufe in der Evolution des Individuums sein, vorausgesetzt, daß ein starkes Personenwesen vorhanden ist, das sie alle zusammenhält und auf Harmonisierung und Integration der gesamten vielseitigen Bewegung der Natur hinarbeitet.“ (Aurobindo 1957, S.51) Das ließe sich in kompositionstechnische Problemstellungen übersetzen.

III.

Die „integrale Philosophie“ (Wilber 1996) hält als Theorie der Bewußtseinsevolution an der Idee von Entwicklung fest, engt aber deren Richtung in keiner Weise ein. Bezogen auf die Musik heißt das: Die Erforschung neuer Klanglichkeit steht gleichberechtigt neben der Wiederentdeckung modaler Strukturen, der Erforschung des Kontinuums von Tonalität und Atonalität (Schultz 2001), neben Cross-over-Konzepten von komponierter Musik zu Jazz, Pop oder zur Musik anderer Kulturen. Kein Platz ist für Epigonen, die ohne jede erkennbare persönliche Weiterentwicklung Schumann- und Brahms-Verschnitte liefern, wohl aber für die kreative Anverwandlung historischer Stile vom Mittelalter bis zu Romantik und Expressionismus.
Das integrale Denken arbeitet mit einer Polyphonie verschiedener Entwicklungslinien oder -spiralen, bereichert diese aber durch die Idee einer „Intergrations-Schleife“, die auf zwei Überlegungen beruht:
1.Will man am Bild der Linie festhalten, dann müßte sie als ein gleichsam immer breiter werdendes Band vorgestellt werden nach der Lesart „Das Neue ergänzt das Alte“.
2.Solche Prozesse der Ergänzung verlaufen in der Regel diskontinuierlich nach dem Muster: Erfindung neuer musiksprachlicher Mittel bei gleichzeitiger Ausgrenzung, ja bisweilen Ächtung der älteren; dann erfolgt eine Integration der älteren Sprachschicht in die neue mit dem Ergebnis, daß sich beide verwandeln.
Beispiele aus dem Bereich der Musik ließen sich finden etwa in der Zeit um 1600 mit dem Auftreten der Monodie und des harmonischen Denkens gegen die alte Vokalpolyphonie und in der nachfolgenden Integration bei Monteverdi („Marienversper“) und später bei Corelli (der „stile antico“ als satztechnisches Gerüst mit darüber liegender figurativer Ebene), auf dem Händel und Bach aufgebaut haben; oder in der Zeit um 1750, wo kontrapunktische Denkweisen und die Fugentechnik veraltet schienen zugunsten des frühklassischen homophonen Stils, aber später von Haydn („durchbrochener Satz“) und Mozart („Synthese von Sonate und Fuge“) integriert wurden; oder eben um 1910, als die Atonalität die Tonalität abzulösen schien und wo – denkt man in dieser Entwicklungslinie – eine Integration längst fällig wäre.
Das Modell für solche „Integrations-Schleifen“ findet man in der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung ebenso wie in der des einzelnen Menschen; bleiben sie aus, kommt es zu pathologischen Abspaltungen und Dissoziationen (Wilber 1988). Wie bei Sri Aurobindo steht dahinter die Vision einer Entwicklung, eines inneren Wachstums, bei dem die später auftretenden Ebenen die vorausgehenden umschließen und integrieren müssen. In der Wissenschaft spricht man von Holons (Wilber 1996), die als relativ Ganze Unterholons enthalten und selber Teil eines größeren Ganzen sind. So gesehen wäre das Bild eines Kreises, der von immer jeweils größeren Kreisen umschlossen wird, angemessener als das einer breiter werdenden Linie, andererseits würde dabei der allen in der Zeit sich entfaltenden Entwicklungen inhärente Entwicklungspfeil nicht mehr sichtbar.
Welches Bild man immer auch wählt, es muß der Polyphonie der Entwicklungen Rechnung tragen und Raum geben für evolutionäre Prozesse nach dem Modell „Das Neue ergänzt das Alte“ mit den damit einhergehenden Diskontinuitäten und Integrations-Schleifen. Die Idee einer einfachen linearen Entwicklung ist veraltet und wird der Wirklichkeit der Musik nicht gerecht.

Literatur:
Adorno, Theodor W. (1975): Philosophie der neuen Musik, Frankfurt, Suhrkamp Verlag
Adorno, Theodor W. und Horkheimer, Max (1969): Dialektik der Aufklärung, Frankfurt, Fischer Verlag
Aurobindo, Sri (1957): Der integrale Yoga, Hamburg, Rowohlt Verlag
Beck, Don Edward (2007): Spiral Dynamics, Bielefeld, Kamphausen Verlag
Gebser, Jean (1949): Ursprung und Gegenwart, Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt
Hamel, Peter Michael (1976): Durch Musik zum Selbst, Kassel, Bärenreiter Verlag
Lachenmann, Helmut (1997): Die Musik ist tot … aber die Kreativität lebt, in: Musiktexte 67/68, Köln
Rapp, Friedrich (1992): Fortschritt – Entwicklung und Sinngehalt einer philosophischen Idee, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Schultz, Wolfgang-Andreas (2001): Das Ineinander der Zeiten – Kompositionstechnische Grundlagen eines evolutionären Musikdenkens, Berlin, Weidler Verlag
Schultz, Wolfgang-Andreas (2005): Avantgarde und Trauma – die Musik des 20. Jahrhunderts und die Erfahrungen der Weltkriege, in: Lettre International Nr. 71, Berlin
Wellmer, Albrecht (2009): Versuch über Musik und Sprache, München, Hanser Verlag
Welsch, Wolfgang (1988): Unsere postmoderne Moderne, Weinheim, VCH Verlagsgesellschaft
Wilber, Ken (1988): Halbzeit der Evolution, München, Goldmann Verlag
Wilber, Ken (1996): Eros, Kosmos, Logos, Frankfurt, Krüger Verlag
Wilber, Ken (2001): Integrale Psychologie, Freimat, Arbor Verlag
Zimmermann, Bernd Alois (1974): Intervall und Zeit, Mainz, Schott Verlag

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2 Antworten

  1. Murr sagt:

    Es wird wohl niemand hier die Triftigkeit dieser Theorie anzweifeln. Ständige Integration alles dagewesenen wäre der gültige Stand des Materials. Aber sag das mal einer den Veranstaltern! Die vergeben Kompositionsaufträge für Streichquartett auf ewig; bestenfalls kommt mal eine Kontrabassklarinette dazu. Das ist nicht plural, aber noch nicht mal linear – es ist Stillstand.

  2. wechselstrom sagt:

    Das Modell für solche „Integrations-Schleifen“ findet man in der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung ebenso wie in der des einzelnen Menschen; bleiben sie aus, kommt es zu pathologischen Abspaltungen und Dissoziationen (Wilber 1988).

    was damit wohl gemeint ist … ?
    Die Krux mit allen Theoriebildungen, die auf schwammigem Terrain stehen, und deren einzige Voraussetzungen im sogenannten „Integralen“ – früher bemühte man pathetische Worte wie „weltumspannend“ – liegen.
    Sobald man im Denken nicht mehr weiterkommt, wird die Pathologie („diabolo ex machina“) als warnendes Bild bemüht – hatten wir schon mal – da gibts nur eine Antwort:

    Gute Nacht liebe „Musikphilosophie“

    – wechselstrom –