Spahlingers Katze oder: Müssen Komponisten nett zueinander sein?
“I love deadlines. I like the whooshing sound they make as they fly by.” (Ich liebe Abgabetermine. Ich mag das laute “Wusch” mit dem sie an mir vorbeifliegen.
(Douglas Adams, Autor von “Per Anhalter durch die Galaxis”)
Nach langer Abwesenheit bedingt durch Reisen nach San Sebastian, London, Köln, Mainz, Koblenz und die holländische Karnevalshochburg Tilburg: hier bin ich wieder! Patrick und Arno hielten die Stellung, vielen Dank dafür. Nachdem es hier letztens wieder mal emotional hoch her ging schreibe ich diesen Eintrag mit der ausdrücklichen Bitte, alle Aggressionen in Zukunft wieder an die einzige Person zu richten, die es ohnehin schon gewohnt ist – nämlich mich.
Oder die Person, die für die wöchentlichen Thielemann-Großbeilagen in der FAZ redaktionell verantwortlich ist, das wäre auch in Ordnung.
Außerdem: Mir reicht’s: Ich beende diesen Blog! Ich gehe! In diesem Moment gehe ich zur Tür hinaus. Hört ihr? Ich gehe!
Hallo, hört ihr mich raus gehen?
Ich knalle auch die Tür ganz feste zu: Bumm!
So, nachdem ich das mal gesagt habe, können wir wieder weitermachen, bin ja doch noch da….
Bei welchem Thema waren wir? Ach ja: Zuerst einmal: Deadlines!
Viele Komponisten können davon ein Lied singen. Jeder von uns hat es schon mal erlebt – zuerst scheint der Abgabetermin eines Stückes endlos entfernt, dann nähert er sich mit Siebenmeilenstiefeln und langsam verwandelt man sich in ein um Gnade winselndes Tier, das schon das Klingen des Telefons in Schockstarre versetzt. Das Schlimme ist: Ohne Abgabetermin ist es noch schlimmer, denn dann gibt es ja keinen Grund, etwas fertig zu bekommen, man könnte ewig daran arbeiten.
Eine wahre Geschichte: mein Freund Axel Singer, ein wunderbarer Komponist, fing während seines Studiums an, ein großes, langes Orchesterstück mit Chor zu planen. Ein ganzes Jahr erzählte er uns von dem Stück und wir Kommilitonen waren schon sehr gespannt. Irgendwann fiel der Chor weg, und es war nur noch ein Orchesterstück. Dann wurde aus dem Orchesterstück ein Kammerorchester. Kein Wunder, denn unaufhaltsam näherte sich die Deadline eines Kompositionsklassenkonzertes. Schließlich kam der große Tag und das Stück wurde nach einjähriger beständiger Arbeit daran aufgeführt: es hieß nun „Gesänge einer Badenden“ und bestand darin, dass eine Sopranistin hinter der Bühne ungefähr eine Minute leise sang, begleitet vom Plantschen in einem Wassereimer.
Andere Komponisten fangen erst mit Verstreichen der Deadline an, das Stück zu komponieren: So zum Beispiel Jörg Widmann, der dafür bekannt ist, nächtelang in Hotelzimmern durchzuarbeiten, damit bei der ersten Probe überhaupt etwas da ist. Der Rest kommt dann kurz vorm (oder nach dem) Konzert. Peter Ruzicka wiederum ist das genaue Gegenteil – er ist bekannt dafür, die Stücke überpünktlich abzugeben und hat noch nie eine Aufführung platzen lassen, so wie es Jörg gelegentlich passiert. Vielleicht lernt man das als Jurist? Immerhin versteht er ja das Kleingedruckte in den Kompositionsverträgen!
Ich selber bin wahrscheinlich irgendwo in der Mitte – bei Verhandlungen über Abgabetermine mache ich es wie Scotty von der Enterprise: Erst mal wird grundsätzlich jeder Termin als unmöglich und „nicht zu schaffen“ deklariert (a la „she can’t take it anymore, captain!“), daraufhin bekommt man Verhandlungsspielraum für einen späteren Termin, der einem ein bisschen Luft und sogar die Möglichkeit verschafft, doch an dem ursprünglich vorgeschlagenen Termin alles zu schaffen. Oder auch nicht.
Nun bekam ich, es war einmal, vor vielen, vielen Jahren, kurz nach der Russischen Revolution glaube ich, einen Auftrag für ein Orchesterstück der musica viva in München. Die Sache zog sich ein bisschen hin, wie es manchmal so ist, aber irgendwann war mal ein Vertrag da. Und wenn es nach Josef Anton Riedl gegangen wäre, hätte es vielleicht auch ein bißchen länger…ach nein, das würde der ganz bestimmt nicht machen.
Womit wir auch schon beim zweiten Thema dieses Eintrags wären, nämlich: „Müssen Komponisten nett zueinander sein?“. Wie auch immer: Aus meiner angeborenen Angst vor Deadlines heraus machte ich mich ziemlich umgehend an die Erledigung des Auftrags: ein paar Monate später war ich also fertig und schickte mein Opus an den Auftraggeber, den BR. Hieraufhin hörte ich erst einmal ein Jahr lang gar nichts. Überhaupt nichts. Aus verschiedenerlei Gründen, die ich hier aus Gründen unglaublicher Bescheidenheit nicht näher erörtern will, hatte die Partitur eine ziemliche Größe, so ungefähr DIN-A-1 (oder, nach Hans-Ulrich Engelmann: „Kindersarggröße“). Insofern war ich dann doch bass erstaunt, als man mir auf meine bescheidene Anfrage hin mitteilte, die Partitur sei „nie angekommen“, denn da diese noch nicht einmal in einen Mülleimer passen würde, musste hier schon eine mutwillige Zerstörung stattgefunden haben.
Also gleich noch einmal eine geschickt – die Antwort kannte der Wind, aber der Wind schwieg ziemlich beharrlich. So langsam wartete ich auch auf einen Aufführungstermin. Auf erneute Anfrage hin geriet das Büro erst einmal in Panik: „Es tut uns leid, Herr Eggert, die Partitur ist verschwunden, wir finden sie nicht! (sic!)“.*
*Anmerkung: das „sic“ erklärt sich aus der oben beschriebenen Größe der Partitur. Zumindest fand ich die Vorstellung, eine Partitur dieser Größe sei einfach mal so im Büro verschwunden schon skurril.
Irgendwann tauchte die Partitur dann wohl wieder auf, aber der ursprünglich für die Saison 2008/2009 geplante Uraufführungstermin war plötzlich auf 2010 verschoben worden. I was not amused.
Also fand nach Intervention des dem Auftrag wohl gewogenen Udo Zimmermann ein Gespräch mit mir und Josef Anton Riedl statt (siehe auch Titel dieses Blog-Eintrags: „Müssen Komponisten nett zueinander sein?“). Riedl erzählte mir zuerst einmal seine (durchaus spannende) Lebensgeschichte, dann sagte er mir „Wissen Sie, Herr Eggert, Sie müssen gar nicht zornig sein, Spahlingers Cellokonzert – das jetzt gemeinsam mit Ihrem Stück im selben Konzert kommen soll, was für Sie eine große Ehre ist – also Spahlingers Cellokonzert liegt schon seit ZEHN JAHREN bei uns auf dem Schreibtisch, und vorher konnten wir es einfach nicht aufführen. So ist es halt manchmal.“
Ich fand er hatte recht, das war tatsächlich schlimmer als „nur“ 2 Jahre auf die Aufführung zu warten. Daher entschloss ich mich, lieb zu sein, und mich auf die gemeinsame Aufführung mit dem von mir schon geschätzten Spahlinger zu freuen.
Um so erstaunter war ich, als das Programm des musica viva – Konzertes kam: Anstatt der Uraufführung des Spahlinger-Cellkonzertes war nämlich plötzlich ein Stück von Dieter Schnebel angekündigt (was auch schön ist). Spahlinger war ausgefallen weil….“das Stück war nicht rechtzeitig fertig geworden“!“*
* Der aufmerksame Leser wird hier eine gewisse Diskrepanz zwischen der Behauptung, Spahlingers Stück sei schon seit 10 Jahren fertig und der eben genannten feststellen. Seltsam, aber so steht es geschrieben.
Nun wirft dies schon die Frage auf, wie genau sich der Fertigstellungsgrad einer Spahlingerschen Partitur genau messen lässt. Ich stelle mir das ungefähr so vor, in Anlehnung an Erwin Schrödingers berühmtes Gedankenexperiment: in unendlich vielen luftdichten Kästen sitzen unendlich viele Katzen von Spahlinger und schreiben an einem Stück. Draussen auf dem Kasten steckt eine kleine Fahne auf der steht „Das Stück ist fertig“. Aber in 50% aller Fälle lügt diese Fahne. Man weiß also erst, ob Spahlingers Stück fertig ist, wenn man als Veranstalter einen Aufführungstermin ansetzt und den Kasten kurz vorher öffnet. Erst dann ist wirklich klar, ob Spahlingers Katze das Stück überhaupt geschrieben hat, oder ob sie inzwischen eine Giftkapsel geschluckt hat und sich in Staub aufgelöst hat.
Zumindest ist das eine Theorie, die mir die mysteriösen Geschehnisse sympathisch erklärt. Ich denke ja gerne positiv…
Die Aufführung war dann übrigens sehr schön: Das BR-Symphonieorchester war wie immer hervorragend und Peter Rundel ein kollegialer und wirklich äußerst fähiger und höchst sympathischer Dirigent. J.A. Riedl sprach kein einziges Wort mit mir – keine Ahnung warum. Wahrscheinlich war er beschäftigt.
Womit wir zum dritten Mal beim Thema dieses Artikels sind:
„Müssen Komponisten nett zueinander sein?“
Also, wisst ihr was? Ich finde: ja!
Euer
Bad Old Boy
Moritz Eggert
Komponist
Verstehe die Geschichte vom Axel Singer nicht: Deadlines setzen so unter Druck, dass am Ende die ganze Chose den Bach runter geht? Oder: Deadlines sind die pragmatische Dimension des Komponierens – sie fördern zutage, was sich tatsächlich befindet hinter den noch größten Ankündigungen und Wunschträumen?
@S.B. – die Geschichte von Axel Singer hatte die Moral, dass Deadlines das ursprünglich anvisierte Stück sehr verändern können, in diesem Fall vom Stück für Großes Orchester und Chor zum Solostück für Sängerin (übrigens ein ganz wunderbares Stück, das da am Ende rauskam, komisch wird es erst in Verbindung zum ursprünglichen Plan).
Das wäre für mich dann der Bezug zu „Spahlingers Katze“ gewesen (ist das Stück überhaupt da oder nicht), aber das war vielleicht nicht klar genug herausgearbeitet :-)
Moritz Eggert