Fremdarbeit und A Survivor from Warsaw – das moderierte Melodram

Die „gehaltsästhetische Wende“ Harry Lehmanns wird aktuell hart unter Beschuss genommen. Eigentlich ist das ziemlich herrlich, wie wir uns Alle am Begriff „Gehaltsästhetik“ abarbeiten! Und dadurch wird es heute ein sehr langer Beitrag.Johannes Kreidler dokumentiert dies auf seiner Facebookseite. Nach der auch hier im Badblog erfolgten Auseinandersetzung über Artikel zu Digitalisierung, konzeptueller Musik und Diesseitigkeit zum Beispiel infolge der letzten Ausgabe namens Konzeptmusik der Neuen Zeitschrift für Musik (01/2014), den zu erwartenden Seitenhieben des neuen Flammer-Buches „Fortschritt – was ist das?“, den Facebook-Gesprächen auf Lehmanns wie Kreidlers dortigen Präsenzen zu „Materialfortschritt“ und dessen kreidlerscher Eindampfung auf „Materialrecherche“ kündigt die Diesseitigkeits-Apologetin Gisela Nauck sich über „eine völlig unzulässige Reduzierung von Avantgarde auf Materialästhetik“ aufregend eine gesamtgehaltsästhetische Darstellung der historischen Avantgarde von Xenakis bis Lachenmann in den Positionen Nr. 98 mit dem Allerweltstitel „Utopien“ an. Das zeigt, wie interszenisch der Diskurs wieder ins Rollen gebracht wurde nach dem Mahnkopfschen Intermezzo Ende des letzten Jahrhunderts, seitdem darüber wie im Badblog im Internet geschrieben wird und mit Kreidler wie den stock11-Komponisten wieder schrifstellerisch interessierte und begabte Komponisten sich direkt, ohne Leib-und-Magen-Musikwissenschaftler einbringen. Auch verändern sich 25 Jahre, nachdem mit Adevantgarde ein von jüngeren Komponisten selbstgemachtes Festival auftrat, endlich die von öffentlich-rechtlichen Trägern veranstalteten Kurse und Festivals wieder mehr in Richtung neuer Komponisten und ihrer Diskurse als der permanenten Selbstbestätigung durch alte Symposienritterschaften als sei man die ästhetische Ausgabe der PRI, der staatstragenden „Partei der institutionalisierten Revolution Mexikos“.

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Und so gibt es viel zu tun. Ich beobachte, dass sich Kollegen wie Johannes Kreidler den Erwartungen der Institutionen erstaunlicherweise um so mehr anpassen, je mehr diese sich ihnen eigentlich öffnen. Das geschieht zwar nur sehr untergründig, was ihre Musik selbst betrifft. Die Inhalte ihrer Werke verschieben sich allerdings von „sozialkritisch“ zu „musikbetriebspiotopisch“, wenn sie überhaupt je „engagiert“ sein wollten. So steht nach den „Charts Music“ und „Fremdarbeit“ zu Zeiten ausserhalb der Premiumfestivals nun „Hegel“ im Mittelpunkt, was sich aber wohl auch wieder gerade zu ändern scheint. Man hat aktuell oft den Eindruck, dass sich besonders die Komponisten der sogenannten „digital natives“ eher mit ihrem Subsystem oder netten Alltagserfahrungen beschäftigen als größeren sozialen und politischen Zusammenhängen die über die Implikationen der Konfrontation mit dem Urheberrecht hinausgehen. Nur wenn dieses ihnen Steine in den Weg legt, wird die Aussage kämpferischer. Neben Johannes Kreidler und den beiden „Diesseitigen“ Martin Schüttler und Hannes Seidl sind vielleicht noch Sarah Nemtsov als poltisch, sozial und historisch engagierte Ausnahmen nennen. Begabungen wie Gordon Kampe, Leopold Hurt, Geneol Lilienstern, Klaus Schedl oder Robin Hofmann sind mehr als ausgeprägte Künstlerpersönlichkeiten, scheuen sich aber musikalisch trotz individueller starker und profilierter Weltwahrnehmung, dies kompositorisch deutlicher zu zeigen.

Auch wenn nicht alle eben Genannten sich in Gefolge Harry Lehmanns sehen, ja, sich eher über dessen Ideen und vermeintliche musiktheoretische Unbeholfenheiten lustig machen, stehen sie im Bann seiner „gehaltsästhetische Wende“, die ein Hinwegdriften vom klassischen Hauptparadigma der Neuen Musik „Materialfortschritt“ zu „ästhetischem Gehalt“. Nach Lehmann ist dieser nicht nur auf den Inhalt reduzierbar, wie ich es hier wohl vollziehe. Durch das Freilegen des werkimmanenten Konzepts durch die Wahrnehmung des Hörers und Zusehers, soll sich jenseits von z.B. weiterentwickelten Spieltechniken oder harmonischen Konstrukten oder Stilzitaten, etc. das Werk erschliessen. Das tat es natürlich auch schon zuvor zu allen Zeiten, wenn Zuhörer den Code eines Werkes knackten. Grob gesagt führt dies momentan zu einer Wiederbelebung von stark performativen und gestischen Anteilen in den aktuellen Kompositionen, zu strengen und doch gut sichtbaren Konzepten. Und eben zu Auseinandersetzungen mit Fragen, die über die rein technische Konstruktion von Neuer Musik hinausgehen. Die Wahrnehmung der eigenen Umwelt, also Welthaltigkeit, kann eine Rolle spielen. meist bleibt es im Anriss von Nettigkeiten stecken, sei es im Darlegen der eigenen Lektüre des Internetboulevards oder der letzten menschlichen und musikalischen Diskothekenabenteuer. Ich allerdings erwarte, dass sich eine Künstlerpersönlichkeit neben solchen Petitessen doch auch mit den Hauptnachrichten zu Gesellschaft, Politik und Geschichte aus seinem Kopf und Bauch meldet. Und da kann man die Zweifel der Anderen an der Gehaltsästhetik verstehen, wenn diese das dennoch per se implizierte und damit versprochene Mehr an Inhaltlichkeit, eben Welthaltigkeit, nicht oder nur sehr bemüht einlöst.

Immerhin bemächtigen sich einige gehaltsästhetische Stücke einer Art transportierten Konzeptbeibackzettel. Statt im Programmheft dem Vertreiben der Langweile während einer endlos erscheinenden Aufführung zu verschwinden, wird das Konzept verbal oder medial während oder zwischen der Aufführung selbst in das Stück eingebaut. Den Böswilligen kann das an die Textübertitel in Opernhäusern erinnern. Der Gutmütige denkt an deren Einbau in Regiekonzepte, wenn zum Beispiel La Fura dels Baus in der aktuellen Münchener Turandot-Produktion über diesen Weg zum Aufsetzen der 3D-Brille auffordert, um das Bühnenbild und dessen Projektionen richtig wahrnehmen zu können. Das Problem hierbei ist, dass das trotz aller Erziehungsmassnahmen doch stückintegrationsunwillige Publikum eine Handlung vollführen muss, die es nicht in seiner Lethargie belässt. Ich denke sowieso, dass man das Publikum nur zum Handeln bewegen kann, wenn man ihm Stühle, Ruhe und dazu noch Austrittsmöglichkeiten während des Stückes nimmt, was dann zur Freiheitsberaubung werden kann. Also Vorsicht dabei!

Das Publikum will unterhalten werden, es will vor allem psychisch bewegt werden. Dies passiert vor allem durch klassische Konventionen der Musikdramaturgie wie z.B. Steigerungen und Abbrüche. Das erzeugt Gänsehaut, das nennt man Pathos. Zum guten Ton unter Komponisten gehört es heute, Pathos aus dem eigenem Werk als ausgeschlossen zu betrachten. Und sollte es einem doch unterlaufen, werden wachsame Worte Adornos oder Lachenmanns zum Material bemüht. Das ist dann auch das Moralische, was vom Materialfortschritt übrig bleibt: der bewusste Einsatz von Topoi bei gleichzeitiger Pathosvermeidung. Wenn zum Beispiel Popmusik eingesetzt wird, dann nur „schlechte“ oder deren Derivate am Rande der Unkenntlichkeit. Man bemüht die Postmoderne zur Begründung des eigenen Stilpluralismus, will aber nicht mit dem Vorwurf der Kitschgefahr konfrontiert werden wie es zum Beispiel Alfred Schnittke oder Luciano Berio widerfuhr.

Ein Grund Johannes Kreidler mit „Fremdarbeit“ 2013 zum Adevantgarde-Festival einzuladen, war neben der Globalisierungskritik das performative Pathos des werkimmanenten Moderators, des Komponisten selbst, der immer wieder betont, wie sehr er musikalisch-komponiertes Pathos ablehnt. Ob im Video der Berliner Uraufführung nun die Zwischenrufe eines Zuschauers simuliert sind oder nicht, die Johannes gegen die Komposition von Walzern in Dubai durch am Projekt „into“ beteiligte Komponisten als amoralisch angesichts der Ausbeutung in diesen Ländern der zweiten und dritten Welt geisseln ließ. Das ist das unmittelbare Pathos der direkten Aussage im Gegensatz zu den schwellkörperreichen Diminuendo- und Crescendopartituren, die physikalischen Ohrendruck und dadurch erzeugte physische Erregungszustände zu weltanschaulichen Mitteilungen einsetzen. Das geht eigentlich nur bei erotischen Aussagen, die eben letztlich erotische Regungen verursachen. Somit ist dies nur intensiven Liebesdramen vorbehalten. Oder Werken, die den Tod und den Widerstand dagegen, und sei es passiver Widerstand, zum Inhalt haben. Ein solches Werk ist Arnold Schönbergs „A Survivor from Warsaw“.

Wie kann man nur Schönbergs „A Survivor from Warsaw“ und Kreidlers „Fremdarbeit“ in einem Atemzug nennen, wird sich mancher Verteidiger der reinen adornitischen Lehre des verbotenen Liedes nach Auschwitz empört fragen. Zuerst einmal entstanden beide Werke zu Zeiten, wo nach langen Materialerforschungen der Gehalt in den Mittelpunkt rückte. Bei Schönberg war dies das Ergebnis seines künstlerischen Weges und der zunehmenden Politisierung des von den Nazis in das Exil vertriebenen Komponisten. So sah er sich mutmasslich wohl selbst als Überlebenden, der den Bericht eines Überlebenden des Warschauer Ghettos und des anschliessenden KZ-Terrors als persönliches politisch-moralisches Anliegen künstlerische verarbeiten musste. Ob sich die Geschichte vom Abzählappell mit seinen Unmenschlichkeiten und dem Abmarsch der dadurch Ausgesuchten in die Todeskammer unter dem widerständigen Singens des Schma Israels nun wirklich so oder anders abgespielt haben, ist genauso egal, ob Johannes Kreidler wirklich Komponisten in Indien und China zur Komposition computergenerierter Musik beauftragte oder ein Rechner und Komponist dies in Europa ausführte. Er führt hier die Mechanismen der menschentötenden Globalisierung vor. Der Auftrag der Komposition nach Fernost und die Aneigung des Ergebnisses dieser Produktion durch Kreidler führt zwar nicht in den Tod, zeigt aber die brutal zementierte conditio sine non qua: dort wird billig produziert, hier dies teuer verkauft. Lag Schönberg nahe, die Rettung seiner eigenen Haut dadurch zu rechtfertigen, kritisiert Kreidler die „made in Asia“-artig billig produzierte Kleidung auf seiner Haut wie auf der Haut eines jeden Normalverdieners im Westen, genauer, die blinde Selbstverständlichkeit, mit der wir das Hinnehmen und im Angesicht von Kunst Armut als hübsch exotisches Beiwerk aus Fernost geniessen.

Beide Werke verbindet zudem die Rolle des Moderators. Bei Schönberg ist es der Sprecher. Er sagt, dass er die Geschichte von den Juden erzähle, die mit dem Schma Israel auf den Lippen in die Gaskammer gingen. Das Ergebnis dieser Vorrede ist das wuchtige Schma Israel des Männerchores. Nüchtern betrachtet ist die Rolle des Sprechers nichts anderes als die eines Moderators. Um 1950 war es noch undenkbar, dass dies ohne musikalische Unterformung geschehen könne. Hier ist es die rezitativisch-rhapsodische Form des Melodrams, die Schönberg immer wieder in allen Stilphasen anwendete. So erklärt sich die expressionistische Aufladung des Sprecherparts, wenn man dies bis zu „Pierrot lunaire“ zurückverfolgt. Statt psychologischer Zustände wird hier exakt der grausige Vorgang im KZ beschrieben. Was mit einer Naturbeschreibung in den Gurreliedern begann, endet hier in einer Schilderung menschlich inhumaner Extremzustände. Sogesehen ist der Einsatz eines Sprechers im Melodram in der Rolle des „Survivor“ eine extreme funktionale Ernüchterung dieser musikalischen Form. Dadurch konnte Schönberg werkimmanente Inhaltlichkeit seines Anliegens sowie Wahrhaftigkeit seiner damit gezeigten künstlerischen Zeugenschaft darlegen. Das macht die Magie dieses Stückes aus.

Um heute künstlerische Wahrhaftigkeit zu erzeugen kann man durch die Historizität der Neuen Musik geprüfte Materialen einsetzen wie emanzipierte Tonhöhen, spektrale Harmonik, erweiterte Spieltechniken. Allerdings leiden sie eben an ihrer heutzutage immer stärker in Erscheinung tretenden Eigengeschichtlichkeit, die die Notwendigkeit ihrer Findung vergessen lassen könnten. So ist die Emanation von Wahrhaftigkeit aktuell an mehr als nur einen vertonten Bericht gebunden. Entweder man benutzt zum Beispiel im Internet gefundenes Originalmaterial. Oder der Komponist kann sich nicht länger hinter seinem Programmheftbeitrag, seinen Interpreten verstecken oder er maximal als Dirigent auftreten. Er muss selbst zum Akteur auf der Bühne werden. So ist es mit Johannes Kreidlers „Fremdarbeit“. Möchte man dieses Stück glaubhaft aufführen, muss man den Komponisten um die Originalmoderation bitten. Der Hauptunterschied zum „Survivor“ ist, dass kein „voiceover“ stattfindet. Die Rede ist direkt, ereignet sich vor und zwischen den Teilen des Werkes. Hierbei wird angesagt, wer wo für wieviel was komponiert hat, wann Text Musik ersetzen muss, wenn die beauftragten Asiaten über die Keyboardtastatur unbewusst emphatisch trotz Computerunterstützung hinauskomponierten, wem das Werk gehört, nämlich nicht dem Arbeitenden, sondern dem Käufer Kreidler. Wie gesagt, geht es dabei nicht um den geschichtlichen Holocaust von Millionen von Toten. Aber es geht um die aktuelle Ausbeutung der Welt durch unsere globalisierte Wohlstandsgesellschaft zu Lasten von Milliarden von Lebenden. Das entfaltet während einer Aufführung von Fremdarbeit seine glaubhafte Magie.

Der feine und dann in der Qualität und dadurch entstehenden Emphase des Notentextes ist folgender: Bei Schönberg ertönen vordergründig die Stimmen des überlebenden und der ermordeten Opfer, den Tätern wird durch den Sprecher des Überlebenden die Stimme geliehen, wodurch dessen in Tötungsabsicht erteilten Befehle noch monströser werden. Bei Kreidler berichtet der Täter über seine Opfer. Das heisst, dass jegliches Mitempfinden mit diesen eigentlich ausgeschlossen ist. So erinnert man sich noch Wochen nach dem „Survivor“ an eine Aufführung, derweil bei „Fremdarbeit“ die Erinnerung an die Reflexion darüber haften bleibt. Das zeigt nochmals deutlich, wie schwierig es heute ist, die richtige Perspektive zu wählen, zu zeigen und zu wahren. Es ist die der Mittäterschaft, es ist die medial Gefilterte. Selbst wenn jemand direkt vor Ort recherchiert, rückt weniger das Ziel der Recherche als der Recherchierende selbst in den Mittelpunkt der Wahrnehmung, wie man es an den Reenactements von Milo Rau verfolgen kann: nicht die Opfer sondern der künstlerische Akteur wird zum Zentrum des Gehalts. So wird es zur Aufgabe von Werken nach der gehaltsästhetischen Wende, mit der Einfachheit eines Mythos, eines Liedes die selbst eingenommene Perspektive der Gehaltsvermittlung zu transportieren. Es geht nicht um das Gesehene, um das Gehörte, es geht um die Sichtweise, um die Hörweise. Und dies rückt auf eine erstaunliche Art und Weise neben dem Erzeuger des Stückes vor allem die Persönlichkeit des Wahrnehmenden in den Mittelpunkt. So könnte der Gehaltsästhetik dies gelingen, was man zur Crux der Neuen Musik erklärte: die Auflösung des Dilemmas der Unverständlichkeit des Gehalts aufgrund des komplexen und permanent fortenwickelten, „moralisch einwandfreien“ Materials. Denn wenn nun Xenakis, Lachenmann und Nono gegen die Gehaltsästhetik ins Spiel gebracht werden, darf man deren Ringen um hohen Materialstand und Inhaltlichkeit nicht ausser Acht lassen und nicht vergessen, dass sie erst dann Erfolg damit hatten und doch auch fast die einzigen darin waren, wenn sie das Material extrem zugänglich machten wie in den Antikendramenvertonungen von Xenakis, dem Spätwerk Lachenmanns und der schwierigen, aber doch viel besser als das Mittelwerk konsumerablen Stille Nonos.

Komponist*in

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3 Antworten

  1. mehrlicht sagt:

    „dokumentiert dies auf seiner facebookseite“ – so eine Formulierung sollte überdacht werden. Zumindest sollten Inhalte nicht als Allgemeingut bezeichnet und verlinkt werden, für die man einen Account und Zugriff benötigt – es sei denn, man will sich im Social Web unter seinen Buddys einigeln. Auch dass sich die Diskussion bei Flammer bisher ausschließlich auf das von ihm selbst verfasste und im Internet einsehbare Vorwort (6 Seiten) bezog, sollte zumindest erwähnt werden. Schließlich meine Frage: wer diskutiert? wo? über wen? wer ist (Zitat) „…wir uns alle“? — nicht als Kritik, sondern zum Weiterdenken.

  2. Teleskop sagt:

    „Ein Überlebender aus Warschau“ und „Fremdarbeit“ unterscheiden sich also hauptsächlich dadurch, „dass kein ‚voiceover‘ stattfindet“. Ich sehe schon, es ist der haarscharfen Analyse im Bad Blog kein Ende.

  3. tja, manchmal gar nicht so schwer, das mit den unterschieden…