Das Schweigen der Schwemmer

Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie zusammenkamen, die Genres die die Welt liebt und die das Publikum begeistern.
Von welchen überaus populären Genres ich spreche? Natürlich von…

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Neuer Musik und Pantomime!

Nach ersten zaghaften Versuchen (wer erinnert sich nicht an die legendären Stücke von George Lopez bei musica viva in München, bei dem ein Pantomime zu Orchesterklängen…ja was eigentlich? Ich weiß nur noch, dass er weiß geschminkt war)

Wie auch immer, nun hat sich ein weiterer Komponist dem Genre „Neue Musik und Pantomime“ angenommen, und zwar Frank Schwemmer. Sprechen wir also heute über sein Werk „Miserere“, einem wahren Highlight der neuen, absolut ernstzunehmenden Gattung „Neue Musik und Pantomime“, die man auch mit „Numusomime“ abkürzen könnte, einem Schlagwort, über das schon im Jahre 2567 Abhandlungen geschrieben werden werden.

„Miserere“ also – der Titel verspricht schon die These und das zugehörige Temperament: es wird gelitten werden, und dazu passt das dezent freudlose protestantische Ambiente der Aufführungskirche dieses Videos, das uns der ARD dankenswerterweise vollkommen illegal auf youtube zur Verfügung gestellt hat.

Ich bitte euch also, euch jetzt zu youtube zu begeben, das Video einzuschalten, und dann diesen Artikel weiterzulesen. Ihr seid wieder da? Schön.

Man hört es schon in den ersten Takten: Das ist neue Kirchenmusik, wie sie sein soll und wie wir sie lieben. Das kontrapunktische Wollen ist gleich vom ersten Takt an zu spüren, die kleine Sekunde gleich am Anfang „reibt“ sich, will das Leiden gleichsam thematisieren wie auch akustisch nachvollziehbar machen. Doch was ist das, bei 0:17? Ist dieser ernste Mann mit der Gigolo-Frisur etwa ein Sänger? Nein, er schaut gehetzt und zieht die Augenbrauen hoch…ist es etwa….ja, es ist unser Protagonist, der Pantomime!

Wie um sein Schweigen zu kontrastieren schneidet der Videoregisseur aber erst einmal wieder auf unglaublich präzis artikulierende Madrigalchorsänger – da wird das Wort zum Ereignis, zum Gleichnis, und wir lernen auch etwas sehr wichtiges: es ist scheinbar Weihnachten, wie der Christbaum hinter dem sympathischen Sänger mit dem Dreitagebart belegt. Weihnachten, das Fest der Freude? Das muss – gerade hier und heute in Deutschland – natürlich in Frage gestellt werden.

Bei 0:29 ist er wieder, unser Gigolo. Sein Blick verrät – etwas stimmt nicht! Ist es, weil die hübsche Sängerin vor ihm ihn nicht beachtet? Das würde einen Gigolo wie ihn allerdings verdrießen, denn nein, sie schaut unverdrossen zum Dirigenten hin (Klaus-Martin Bresgott). Oder hat es mit der ominösen Musik zu tun? Signale von Außerirdischen? Wir merken: „Klaus Franz“ (Pantomime) stellt hier keinen glücklichen Menschen dar, sondern einen wahrhaft Gequälten. Ganz besonders eindringlich: sein genau auf einen besonders misereren Akkord getimetes Zucken bei 0:45! So sieht Leiden, Angst, Furcht aus. Doch diese Furcht bleibt weiterhin stumm.

Der Chor singt weiter, und wird plötzlich mehrsprachig: „Mein Auge!“, „Oculos mios“! (0:54), es geht ums Sehen, ums Erkennen. Doch Klaus Franz ist eingesperrt, und er macht das, was Pantomimen am besten können, ja, was den Sinn ihrer Kunst symbolisiert: Das Eingesperrtsein in UNSICHTBAREN (Wahnsinn!!!) Wänden sichtbar machen. In diesem Moment tritt er aus der Masse des Madrigalchores hervor, er ist nicht einer von ihnen, er hat keine Birkenstockschuhe an und hält auch keine schwarze Mappe in der Hand.

Im folgenden versucht unser Protagonist auszubrechen: Die unsichtbare Wand trennt ihn von den anderen. Gibt es Hoffnung, gibt es ein Entrinnen? Vielleicht nach oben?
Nein, auch mit dem Kopf dotzt er oben an (1:18). Seltsamerweise sind im folgenden alle seine Aktionen von passenden Geräuschen begleitet, so zum Beispiel sein Schlag gegen die unsichtbare Mauer bei 1:23. Sitzt da vielleicht ein Geräuschemacher irgendwo in der Ecke? Oder hat Klaus Franz (Pantomime) ein Mikro im Anzug? Fast vermutet man letzteres – aber warum kommt jemand auf die Idee, bei einem Pantomimen ein Mikro zu installieren? Wäre das nicht so, als ob man einem Blinden einen farbigen Pinsel in die Hand drückt?

Plötzlich und gänzlich unerwartet reißt die Musik…ab! Und in einer großartigen Darstellung sackt Klaus Franz (Pantomime) nach rechts weg (1:35)- fällt er um? Nein, in einer genialen neuen Kameraeinstellung von links schräg unten wird nun ein mysteriöses gelbes Gebilde sichtbar, von dem Franz im folgenden moonwalkartig angezogen wird. Ist es das Grab von Michael Jackson? Sind es die 84 Thesen zur Verbesserung des Urheberrechts (Piratenpartei)? Oder einfach nur ein „künstlerisch“ gestalteter pissgelber Altar?

Die unsichtbare Macht mit der Klaus Franz offensichtlich kämpft will nicht, dass er zu diesem Ort gelangt. Ja, es geht sogar ein scharfer Gegenwind (1:50). Bei 2:09 hat das Ringen aber erst einmal ein Ende – Klaus Franz (Pantomime) sinkt müde darnieder, mit seinen Händen Flügel (Engelsflügel?) symbolisierend, während sein Glitzerhaar morbide funkelt und die Musik zur Ruhe kommt. Endlose Verzweiflung – es gibt keinen Ausweg.

Doch da: Der Chor brüllt „Ich habe, Herr…“ und mit Klaus Franz (Pantomime) geht eine Veränderung vor. Ja, etwas (Gott?) richtet ihn auf, gibt ihm wieder Pepp (2:37), rückt ihn wieder gerade. Göttliches Red Mana Bull regnet auf ihn herab und gibt ihm wieder die Kraft der zwei Doppelherzen. Aber der Kopf – er hängt noch, er ist noch müde, da packt ihn Franz einfach (2:44) und…ZIEHT IHN NACH OBEN! Eine irre Szene, großartig dargestellt von Klaus Franz (Pantomime). Ein Zustand der Verzückung überkommt Franz, und Frank Schwemmer liefert die Musik dazu: „Meine Zeit, mei-ne Zeit, ste-het in dei-nen Hä-händen“, da ist natürlich erst ein Mal ein neuer Moonwalk (3:03) fällig.

Und dann nimmt Franz Anlauf, immer schneller rennt er auf einem unsichtbaren Fließband, dem Fließband zum…Winterschlussverkauf? Nein, dem Fließband zu Gott! Und bei 3:34 ist er scheinbar bei den Engeln im Himmel angekommen und wird selbst zu einem – Klaus Franz (Pantomime) dreht sich im Kreis wie eine Ballerina und schaut ungläubig seinen neuen, wunderbar leuchtenden hammermäßig geilen Engelskörper an (3:51).

„Herr, lass mich nicht zu Schanden werden“ nuschelt der Chor, und Franz fliegt, er fliegt…oder schwimmt er? Egal, der Sinn seiner seltsam erstarrten Schwimmerpose (4:10) wird sich erst noch offenbaren. „Herr, ich rufe Dich, ich rufe dich….AAAAANNNNN“, und mit diesem „AAAAANNNNNN“ (4:25) erstarrt Franz vollends in vollkommener Verzückung.

Das Ende? Nein – in einer irren Überblendung sehen wir plötzlich die Totale: Das Gotteshaus mit seiner Gemeinde, dem Weihnachtsbaum, und links oben: dem JESUS an der Wand hängend, in EXAKT GLEICHER POSE WIE KLAUS FRANZ (Pantomime). Wahnsinn – die Gewalt dieser bildlichen Metaphern erschlägt einen geradezu.

Doch das Stück ist noch nicht zu Ende:

„Wie groß ist Deine Tüte“ singt der Chor, oder war es „Güte“? (4:38) und nun ist es klar, Klaus Franz (Pantomime) IST Jesus, und er will uns von dieser Tüte und Güte etwas abgeben, auf dass wir auch Erkenntnis erlangen. Und wo ist der Platz dieser Güte? Im Herzerl natürlich (4:53), da pocht sie, die Jesusgüte, und jeder von uns darf daran teilhaben, wenn er immer brav in die Kirche geht und sich Werke von Klaus Schwemmer (Komponist) anhört.

Und sie pocht (5:01).
Und sie pocht (5:04).
Oder ist eher das Zucken von Flügeln? (5:08)
Ja, davon fliegen will dieses Herz, es will zu euch, den Lesern dieses Blogs, und es will euch sagen, dass es sehr, sehr weihnachtet.
Immer noch.

„Uuuhuuuuh!“ summt der Chor. Und Franz deutet uns sanft mit einer ironisch-tuntigen Pose an: gut ist’s, ich hab euch lieb. Ich hab euch alle lieb. (5:47).
Black.

Die Welt ist wieder ein wenig besser geworden.

Luja sog i.

Moritz Eggert

2 Antworten

  1. Alexander Strauch sagt:

    Besonders hübsch die Schlussgeste: Sollte sie „super, ok“ bedeuten, ist das Video deutschlandtauglich. Für den französischen hugenottischen Zuhörer würde es „wertlos, sinnlos“ bedeuten. Unsere japanischen Freunde würden nun losprusten, heisst die Geste in jenem Kulturkreis einfach nur „Geld“ – denkt man an Strassenpantomimen, ein ehrlicher sauberer Schluss. Ein humanes „erbarmt Euch meiner, rückt die Gage raus, Ihr bornierten Zuseher und dann schaut, dass Ihr weiterkommt“! Noch schlimmer: Diese Geste bedeutet am warmen Mittelmeer sowas wie „Du Schwuch…“, und das mir mitteleuropäischer Durchschnittstunte. Wein. Grein. Prust. Proust… Ach, ich liebe unsere weltoffenen, verständnisvollen Protestanten und ihre lustigen Liturgieaufbrechungen…

    Und zur Musik? Lassen wir es einfach als Beispiel etwas schrägeren Klängen und kleinen Nicht-Singtechniken sich öffnenden neuen Kirchenmusik im Raum stehen. War da nicht diese Merkel Oper des Frank Schwemmer? Sonst würde es mich an die musikalische Weichspüler-Ästhetik der Neuköllner Oper erinnern: Gute Inhalte, Musik egal. Neue Musik, die nicht weh tut, aber auch nicht erhebt, durcheinander bringt, nervt… Folgt man den Lästereien hier im Blog, scheint die gesamte Berliner Musikszene grad im Weichspülmodus zu verweilen. So betrachtet war ja Schwemmers Merkeloper geradeu emblematisch für das Neu-Berliner Dolcissimo.

  1. 25. April 2012

    […] die Macht der Bilder, wie ich es mir wieder köstlich bei Moritz’ neuestem Schwemmer-Lämmer-Beitrag reinziehen konnte. Es gibt nichts berauschenderes, als dem Treiben der erwachsenen Menschheit in […]