Lange Nacht der Nachrufe

Liebe Leser des Bad Blog of Musick,

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auch ich war sehr erschüttert über den Tod von Christoph Schlingensief.

Ich mag aber Nachrufe nicht. Es gibt bestimmt ganz viele kluge Zitate darüber, wie gut über Menschen, die tot sind, gesprochen wird, wenn sie denn dann mal tot sind. Und wie verlogen das Ganze ist, weil vielleicht dieselben Personen jetzt tief zu trauern vorgeben, obwohl sie den ein oder anderen Verriss für den Künstler oder die Künstlerin übrig hatten. (Wobei auch ein gemeiner Kritiker den verrissenen Künstler geliebt haben kann. Ich behaupte gerne nach zwei Gläsern Rotwein, dass Adorno Wagnerianer war. Und warum er das – natürlich – nicht offen sein konnte/durfte).

Mir ist klar, dass ich bestimmt (ich habe erst einen – gedruckten – Nachruf geschrieben; über Friedrich Goldmann) in Zukunft häufiger gebeten werde, Nachrufe zu schreiben. (Meinen Goldmann-Nachruf finde ich im Übrigen grauenvoll; hätte ich nicht machen sollen; ein Fehler). Je älter man wird, desto wahrscheinlich wird es, dass man selbst stirbt, oder dass Freunde, Bekannte, die vielleicht bedeutende Künstler waren, sterben. Am sichersten ist es aber, dass es Nachrufe geben wird. Nachrufe, Nachrufe, Nachrufe. Ganz viele. Und am allerallersichersten ist es, dass man gebeten werden wird, Nachrufe zu schreiben, schließlich habe man Künstler X oder Künstlerin Y persönlich gekannt. Vielleicht hat man aber auch X oder Y gar nicht gut gekannt und/oder gibt das nur vor; also, vielleicht hat man X oder Y kein bißchen gekannt und gleichzeitig, umso schlimmer, nichts, aber auch wirklich gar nichts von der XY-Kunst verstanden, weil man vielleicht unglaublich blöd und verstockt ist. Weil man von Kunst (egal ob X, Y oder ß) vielleicht einfach nichts versteht. Aber man schreibt natürlich trotzdem Nachrufe, weil man da ausnahmsweise mal so ganz viel Pathos raushängen lassen darf.

Ich verstehe dabei diesen persönlichen Drang, etwas über jemanden, der tot ist, zu schreiben. Das kenne ich. Ich könnte auch schreiben, wie sehr mich Schlingensief-Projekte wie „Talk 2000“ oder das grandiose, ultra-böse Hörspiel „Rocky Dutschke ’68“ geprägt haben. Aber das ist ja nicht interessant genug. Oder? Will das jemand wissen? Bringt das jemandem etwas? Außer, dass ich so andeuten darf, dass ich in Wahrheit ein ganz bedeutender Anarcho bin (Wortspiele über meinen Vornamen herzlich gerne an die bekannte Adresse).

Ich verstehe auch, dass mein Hauptarbeitgeber Nachrufe vorproduziert. Ich darf darüber bestimmt gar nichts schreiben, weil ich sonst entlassen werde. Oder vielleicht auch nicht. Nein, es ist bestimmt so, dass jeder größerer Radiosender, dass jede größere Zeitung bestimmte Nachrufe „bereithält“.

Und jeder, der aufgeklärten Sarkasmus lieber mag, als (vielleicht falschen, verlogenen, selbstverliebten) Pathos, ist doch – wenn er von solchen Dingen erfuhr – schon mal auf Ideen gekommen… Auf die Idee, vorproduzierte Nachrufe (und ich denke ja dabei immer: die wollen unbedingt gesendet werden; also stirb bitte bald! BITTE!) einfach mal zu senden. Wäre praktisch kein Problem für mich. Wenn der Nachruf länger dauert, übernimmt der Hauptschaltraum (Abkürzung: HSR). Dann ist es wahrscheinlich zu einem ganz schnellen Anruf in der Schaltzentrale durch den Chef selbst oder durch einen der Redakteure gekommen. In jedem Fall werde ich gefeuert, wenn ich z. B. den Metzmacher- oder Rattle-Nachruf sende. Nein, keine Angst, beide sind sehr gesund. Essen Salat und so. Mal ein Gläschen Wein, aber nur wirklich eines! Lecker, gesund, ich will 103 Jahre alt werden und so. Es gibt diese Nachrufe einfach, weil die für Berlin wichtig sind – also, äh, Rattle und Metzmacher. (Obwohl: Metzmacher verlässt das DSO Berlin ja jetzt. Dann sollten wir im rbb diesen Nachruf entweder löschen, oder Metzmacher ist so höflich und stirbt demnächst.) Rattle, Metzmacher, Theo Adam, Dieter Schnebel, Ozawa, Fischer-Dieskau, Lachenmann (glaube ich…), Haitink. Das sind Namen, die ich hier einfach mal aufreihe. Ich habe nicht gesagt, dass die bald sterben! Nein, habe ich nicht gesagt!

In jedem Fall möchte ich eine „Lange Nacht der Nachrufe“ inszenieren. Kam jetzt mit einem Freund zusammen auf diese Idee. Dem Makabren mit dem Makabren begegnen (sozusagen: Le Grand Macabre meets Le Grand Macabre; Ligetis Oper „Le Grand Macabre“ ist ja eine Anti-Anti-Oper – hat er mal gesagt. Sozusagen wäre unser Projekt ein Anti-Anti-Anti-Projekt. Nach dem Motto: „Immer einmal mehr wie du!“ „Alle Ideen gab es schon!“ „Na schön, du Trottel!“). Inszenieren, also nicht die Original-Nachrufe illegal verwenden. Das würde meine sofortige Entlassung bedeuten. Völlig zu Recht natürlich. Nein. Wir erinnern uns: Friedrich Gulda lancierte ja mal einen Nachruf auf sich selbst, obwohl er noch lebte. Ich würde einige Künstler auffordern, ihren eigenen Nachruf vorproduzieren zu lassen. Und von allen bedeutenden (ja, ja, ihr hört den Subtext mitsummen: what ever that means, babe…) Künstlern würde ich in nur einer Nacht alle Nachrufe spielen lassen. Das Ganze müsste toternst ablaufen, keine Witzchen, keine Alt-Männer-Possen. Absolut seriös und traurig.

Herzliche Grüße,

euer Arno

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Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.

2 Antworten

  1. Ein Nachruf auf den Nachruf.

  2. querstand sagt:

    Hier ein Hinweis aus meinem Kommentar, auf Moritz letzten Beitrag, auf das totale Kentern der Nachruferei, wenn die Musikszene es versucht, so lokal auf die hessische Provinz das begrenzt sein mag