Bericht aus Toronto
Ende Juni war ich ein paar Tage in Toronto. Eingeladen von einer kleinen Musiktheaterkompanie, die den vielleicht schönsten Namen aller Musiktheaterkompanien weltweit trägt: Queens of Puddings Music Theatre.
Ich habe dort am 24. Juni die Uraufführung des Werkes „Svabda (The Wedding)“ der serbisch-kanadischen Komponistin Ana Sokolovic gesehen.
Sechs Freundinnen (dargestellt von sechs Sängerinnen a capella). Eine wird am nächsten Tag heiraten – und auf dieses Ereignis bereiten sie ihre fünf Freundinnen vor. Und zwar nach alter Balkan-Tradition, was sich bisweilen in folkloristisch anmutenden Rhythmen, Melodiefloskeln oder Persiflagen dessen, was wir für „Balkan-Musik“ halten, niederschlägt. Wir werden Zeuge musikalisch-szenisch ausgetragener Riten, bei denen Scherze, Hysterie und Alkhohol – eine attraktive weibliche Mischung – offenbar nicht fehlen dürfen. Es geht aber auch um diese besondere Art von „Wehmut“, die bei einem Junggesellinnenabschied immer merkwürdig anwesend sein mag.
Ein ziemlich perfekter, aber nicht „glatter“ Abend. Bühnenbild, Personenregie, Gesang: alles perfekt und auf den Punkt einstudiert. Die Musik: vokalistisch, unterhaltsam, intensiv, mit reflektiert tonalen Anklängen – und vor allem dramaturgisch gut durchdacht: Es gibt in diesen knapp 50 Minuten eben jene Pausen, die es auch in einem 50-Minuten-Musiktheater braucht. Das kann nicht jeder. Längst nicht.
(Das mangelnde Gespür in der zeitlichen Gestaltung von musikalischen Werken ist eines der Hauptprobleme der Neuen Musik überhaupt. Unzähligen Werken der Neuen Musik fehlt jegliches zeitliches Gespür. Und, nein, das hat nichts mit unserer heutigen „Schnelllebigkeit“ zu tun. Bitte nicht mehr dieses Argument! Das hat etwas mit Hör-Sensibilität zu tun. Vielleicht auch mit den jeweiligen Auftraggebern oder der GEMA. Denn: je länger, desto mehr Geld. Ich kenne Komponisten, die eigentlich schon fertige Stücke „verlängert“ haben, weil es ab Minute X halt mehr Geld gibt. Interessanterweise erlebe ich gerade bei jenen Komponisten diese „Kritikresistenz in Bezug auf Werklänge“, die auch im sozialen Miteinander gerne mal etwas nicht mitbekommen… Das ist eine private Beobachtung, klar. Aber eine immer wiederkehrende Beobachtung, die ich hiermit zur Theorie mache. Fertig.)
Das 1995 gegründete Queens of Puddings Music Theatre residiert im Berkeley Street Theatre Downstairs – und wird von verschiedenen Institutionen finanziert. Natürlich auch, wie im nordamerikanischen Raum üblich, von privaten Sponsoren. Das ist (noch?) der große Unterschied zur Musiktheaterszene in Deutschland.
Nach der Toronto-Erfahrung habe ich den Eindruck, dass dieses Sponsoringsystem im Grunde eine feine Sache ist. (Wiewohl unser System, das vornehmlich auf staatliche Subventionen baut, ein schöner Luxus ist.) Bei der Premierenfeier wurde den privaten Sponsoren freundlich, aber kurz gedankt. Das war es. Kein mit-der-Sänfte-Hineintragen, wohl auch kein „Hineinreden“ in künstlerische Entscheidungen, keine Eitelkeiten – jedenfalls keine, die ich mitbekommen hätte. Sympathisch, uneitel – und vor allem interessiert: so kam mir das Premierenpublikum in diesem kleinen Theater in Toronto vor. Kein Familientreffen der Neuen Musik ohne wirkliches Interesse an der Musik, sondern emotionale Teilhabe an dem künstlerischen Ergebnis. Kein „Egal-Stück“ nur zum Anlass eines Szene-Treffs, bei dem wichtigen Leuten die Hand geschüttelt und dies zum einzigen Zweck der Anreise auserkoren wird. Also eben nicht so, wie es in Donaueschingen und Witten ist. Sondern eben schöner, interessierter, emotionaler, authentischer, sympathischer, intensiver.
Leider war die Saison an den größeren Häusern (Konzert, Oper, Ballett) schon vorbei. Trotzdem spürt man in dieser Stadt, die sich sonst in vielen Dingen nicht sehr von anderen amerikanischen Großstädten unterscheidet, dass man hier stolz ist auf seine Kultur. Und die zeigt man eben auch vor – und zwar nicht nur die „Kultur“ in Anführungsstrichen (also Musical, Open-Air-Konzerte und Jongleure für Touristen). Wenn man erzählt, man käme aus Berlin und würde dort „Kultur machen“, wird man noch freundlicher behandelt als ohnehin schon. Berlin gilt als kultureller Nabel der Welt. Und jeder möchte da hin. So ist es. Ich mag diesen Berlin-Hype persönlich nicht, aber wenn man selbst von Künstlern aus New York erzählt bekommt, dass Vieles in Berlin kulturell spannender sei als in New York: Irgendwann glaubt man es. Und fürchtet sich manchmal etwas (z. B. davor, von Touristen in der S-Bahn zerquetscht zu werden).
Toronto ist vornehmlich eine Business-Stadt. Natürlich sind die kulturellen Angebote – im ungerechten Vergleich mit Berlin – begrenzt. Und natürlich ist die Kunst nicht so lebendig wie in Berlin, wo leerstehende Industriebauten schnell von Künstlern okkupiert werden, um dort eben Kunst zu machen. Das zeigte mir beispielsweise die internetöse „Nachbereitung“ (eines der auch inhaltlich schönsten deutschen Wörter) der Geschichte um ein seit 30 Jahren leerstehendes Malz-Lager-Gebäude an der Toronto Harbourfront am Ontario Lake, das ich sofort mochte, als ich es sah und anschließend fotografierte.
Das 1928 entstandene Gebäude direkt am Wasser soll seit 1980 abgerissen werden. Offenbar hat man sich erst vor einigen Monaten aber dagegen entschieden. Was genau daraus wird, ist noch nicht klar. In Berlin wäre das Haus bereits in der Hand der Künstler! Tanzperformer oder freie Theatergruppen hätten sich längst eingenistet. Und das ist (wäre) auch gut so.
Eine kleine Enttäuschung: Der Toronto Music Garden. Ein Garten (ebenfalls direkt an der Harbourfront), inspiriert von Johann Sebastian Bachs Cellosuite Nr. 1. Die einzelnen Nummern (Prélude, Allemande usw.) finden sich an einzelnen Stellen des gewundenen Gartens auf einfachen Tafeln wieder. (Ohne, dass die Musik irgendwo zu hören wäre. Die muss man sich denken. Doof, wenn man sie als gehirnloser Tourist nicht kennt.) Ein bisschen pauschal. Eine bloße Behauptung. „Und hier bitte einmal das Schild mit der Courante hin, danke.“
Ich hatte das Glück, dass in der beeindruckend großen und in manchen Bereichen sehr kreativ und ungewöhnlich konzipierten Art Gallery of Ontario eine Ausstellung aus dem Museum of Modern Art zu Gast war. Gezeigt wurden Werke der Pioniere der abstrakten Kunst, Jackson Pollock, Ad Reinhardt, Mark Rothko. Absolut bereichernd. Dazu gab es auf einer der Audiostationen Musik von Morton Feldman zu hören, der einen engen Kontakt zu einigen dieser Maler hatte. Fotos durfte man keine machen. Da war man sehr streng.
Hier endet der Kulturteil. Der Rest war fiesester Massentourismus.
Die etwa 1 1/2 Autostunden entfernten Niagara-Fälle mussten natürlich von mir besucht werden. „You have to see them!“ Habe ich dann ja auch. Allerdings bekam ich auf der Fahrt mit einem Massentourismusbusunternehmen leichte Depressionen, weil der Guide ständig durch das Mikro plärrte: „Everybody have fun?“
Leider spielten die Baseballer der Toronto Blue Jays nicht. Zu gerne hätte ich mal ein Spiel von denen, die den hervorragenden Jose Bautista in ihren Reihen haben, gesehen. So blieb mir nur übrig, um das Stadion, dem beeindruckenden Rogers Centre, zu schleichen (nach dem unvermeidlichen Besuch auf dem CN Tower, der bis 2007 mit 555,30 m das höchste Gebäude der Welt war, aber längst von Dubai übertroffen wurde).
Obwohl in meiner American-Sports-Favoritenliste Eishockey erst an dritter Stelle (nach Baseball und Basketball, aber vor American Football) kommt, besuchte ich die Hockey Hall of Fame mitten in Toronto. Für ein Sportmuseum wirklich mächtig. Die Biographien samt Devotionalien („Mit diesem Puck erzielte X im Spiel Y den Treffer zur Meisterschaft des Jahres Z…“) aller wichtigen NHL-Spieler und eine komplette Umkleidekabine der legendären Canadiens de Montréal (mit 24 Stanley-Cup-Siegen nordamerikanische Rekordmeister) inklusive der Ausstellungsteile mit „Erlebnisfaktor“ überforderten mich, denn ich hatte nur 30 Minuten Zeit. Ein Foto mit dem originalen Stanley Cup musste natürlich trotzdem sein. Auch, wenn ich auf dem Bild eher nach Tennis aussehe.
Weiter in Sachen Sport: Am 24. Juni musste ich natürlich unbedingt das Eröffnungsspiel der Frauen-Fußball-WM schauen. Pikanterweise: Deutschland vs Kanada. Mit meinem unverwechselbaren „Schland“-T-Shirt begab ich mich auf den „Times Square Torontos“, dem Dundas Square, unweit meines Hotels, das mit 1600 Betten als das größte Kanadas gilt. Überall Deutschland-Farben. Warum? Nicht, weil die deutsche Kolonie in Toronto so groß wäre, sondern, weil ein deutsches Touristikunternehmen Deutschland-Hüte-, Fähnchen und Schminke verteilt hatte („Germany – The country of culture and business“). Das schöne Eröffnungsspiel erlebte ich also inmitten von deutschlandfahnenumgarnten Menschen, die größtenteils kein Wort Deutsch sprachen. Lustig.
Kanada war schön. Danke. Gerne wieder.
Abschließend noch einen Gruß an meinen Kollegen und Mit-Blogger Patrick Hahn, den ich zweigeteilt in Toronto traf. In der Nähe der Canadian Stage Company (Zufall?) das „Hahn“-Straßenschild, an einem anderen Tag dann der ergänzende „Patrick“. Absolut sinnlos, aber doch nett, oder?
Es grüßt euch herzlich, euer:
PS: Sorry für die vielen Selbstportraits mit Hintergrund und die daraus resultierende „Ich-war-hier“-Ästhetik, die aber – glaubt mir – dermaßen intellektüll durchreflektiert wurde, dass das schon in Ordnung ist! Ehrlich.
Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.
danke arno, ich mag deine artikel immer sehr gerne :)) ich will jetzt nämlich auch nach kanada, so schön war dein reisebericht. und jetzt zum ernsten teil: das mit den sponsoren ist wirklich so eine sache. schon seit jahren kann ich nicht verstehen, warum menschen, die ohnehin schon eine halbe million pro jahr verdienen, auch noch auf einen kostenlosen ehrenplatz komplimentiert werden und ihnen am besten noch drei skla- … ääh, butler zur seite gestellt werden müssen, die sekt und lachshäppchen bringen. schließlich soll ja ihre unterstützung der kunst zugute kommen und 99% der geldgeber schätze ich auch so ein, dass sie ihr geld wirklich in den dienst der kunst stellen möchten um die kunst ernsthaft zu fördern. dafür darf und soll man ihnen dankbar sein, denn ohne geldgeber gäbe es ja keine öffentlich wahrgenommene kunst! aber so, wie es in deutschland zumeist gehandhabt wird, wird bei jeder kulturveranstaltung die macht des geldes nicht nur nicht in den hintergrund, sondern sogar noch in den vordergrund gestellt! bitte, lasst kunst und kultur kunst und kultur bleiben und nicht auch noch großzügigen geldgebern als unfreiwillige werbe- und präsentierfläche aufgedrängt werden.