In der Fremde 5: Daniel N. Seel in (Süd)Korea (1. Teil)

Daniel N. Seel

Daniel N. Seel

Als ich Daniel N. Seel vor einigen Monaten fragte, für diese Artikelserie Fragen über seine Zeit in Korea zu beantworten, merkte ich gleich an seiner Reaktion, dass es sich bei ihm hier um ein „großes“ Thema handelte, dem er nicht leichtfertig begegnen wollte. Es dauerte eine Weile bis sein Text kam, der in vielerlei Hinsicht der bisher ungewöhnlichste in dieser Reihe ist, handelt es sich doch um eine recht kompromisslose Abrechnung mit dem koreanischen Musiksystem bei gleichzeitiger Kritik des hiesigen. Es ist eine „enttäuschte Liebe“ zur Fremde, die hier präsentiert wird, aber dies geschieht weder leichtfertig noch gehässig. Ich finde diesen Text ganz außerordentlich und vor allem mutig, und bin froh, dass Daniel ihn geschrieben hat. In vielerlei Hinsicht decken sich seine Beschreibungen mit denen, die ich von Koreanern selber bekommen habe.

Daniel ist ein außerordentlich interessanter Komponist und Pianist dessen Musik auf besonders eindringliche Weise die Reduktion und die Konzentration auf das einzelne Ereignis sucht. Seine Musik ist komplett befreit von hohlen Gesten oder avantgardistischem Pathos, stattdessen erreicht sie eine strenge, fast rituelle Intensität. Daher war es für ihn konsequent, die Beschäftigung mit traditioneller koreanischer Musik zu suchen, die auch diese Parameter kennt. Wie schwer diese Suche für ihn wurde, beschreibt er im folgenden. Daniel studierte bei Günter Reinhold, Wolfgang Rihm und Walter Zimmermann in Karlsruhe (später auch in Berlin) und ist nicht nur als Musiker sondern auch als Dozent tätig (Meisterkurse sowie Vorträge in Musikwissenschaft und Musikgeschichte). Für die Zeitschrift „KunstMusik“ schrieb er kürzlich einen satirischen Beitrag über das „Elend in der Neuen Musik“.

Auch sein Beitrag – der bewusst auch meine vorgegebenen Fragen in einer freien Erzählung und nicht direkt beantwortet – wird in zwei Teilen veröffentlicht, der nächste kommt in 3 Tagen:

(Moritz Eggert)

Koreatimes
von Daniel N. Seel

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Erster Teil
I.

Ich bin raus, endlich raus aus Karlsruhe, dieser badischen Provinzposse, in der ich vor Einsamkeit und Langeweile fast vor die Hunde gegangen wäre, endlich raus aus dem deutschen Sumpf, aus dem ich mich am eigenen Schopf nicht mehr ziehen konnte.
Das Leben kann von Neuem beginnen – und es beginnt: in frischer Herbstluft und im Gewühl der Metropole – in einer noch nie gespürten Freiheit.

Nach der Ankunft auf dem Flughafen in Kimp´o hat mich der Freund, bei dem ich zunächst wohnen werde, erst einmal zum PAN-Music-Festival gebracht. Nun stehe ich inmitten des postmodernen Kulturzentrums im Süden Seouls auf einem weiten Platz, eingerahmt von Bergen, umgeben von Opern- und Konzerthäusern, Universitätsgebäuden, Museen und Open-Air-Bühnen und blicke auf die Neonlichter, die Hochhäuser und die Baracken des Großstadtdschungels.

In den nächsten Stunden und Tagen werde ich ein Konzert nach dem anderen mit Neuer Musik über mich ergehen lassen. Xenakis hat zwar leider abgesagt, dafür ist Younghi Pagh-Paan da, mit der ich erst letzte Woche in Karlsruhe zu Abend gegessen hatte. Heute verteilt sie Flugblätter mit Texten der Weißen Rose, demonstriert wider die Nazis und protestiert gegen die Unterdrückung der Frau. Anschließend wird eines ihrer Stücke aufgeführt und dann spielt Anzellotti ein Programm, das ich gerade erst irgendwo auf einem Festival in Deutschland (oder war es bei den Darmstädter Ferienkursen gewesen?) genau so schon gehört habe.
Alle sind nett, alle begrüßen mich überschwänglich, alle sprechen Deutsch.

Die koreanische traditionelle Musik will ich hier studieren. Mein koreanischer Freund hat versprochen, mir dabei behilflich zu sein, Kontakte zu knüpfen, um bei großen Meistern studieren zu können, er kennt sie alle, er hat selbst die traditionelle koreanische Musik hoch und runter studiert, er kennt alles und jeden, er ist der Beste und er wird ohnehin bald der mächtigste Professor der Nation sein…

II.

Ein halbes Jahr später: mittlerweile bin ich an der Seoul National University, der besten Universität Koreas (wenn nicht Asiens oder sogar der Welt!) als Schüler des bedeutendsten koreanischen Komponisten der Gegenwart, der (wie viele andere hier) die Neue Musik mehr oder weniger im Alleingang erfunden hat, immatrikuliert. – Zwar kenne ich noch immer kaum einen traditionellen Musiker, geschweige denn einen Meister, doch bin ich immerhin, nunmehr erfolgreich im Sumpf der Großstadt versunken, glücklich und verzweifelt, völlig vereinsamt in meiner intensiv empfundenen Gemeinsamkeit mit anderen verschrobenen und zutiefst tragischen koreanischen Existenzen, schicksalhaft in das Abenteuer der Fremde verstrickt – erfüllt und selig verkommen.

Mein Freund ist noch immer kein Professor – man wird ihn auch in den nächsten zehn Jahren nicht zum Zuge kommen lassen, bis seine Familie, seine Psyche und seine körperliche Gesundheit zerrüttet sind – und er kennt wohl doch nicht so viele Musiker aus dem Bereich der traditionellen Musik. Ein anderer Freund, der beste Komponist Koreas überhaupt, Nono und Yun haben bei ihm Ideen geklaut und einzelne Noten abgeschrieben, hilft mir daher mit seinen, wenn auch nur rudimentär, so aber doch tatsächlich vorhandenen Kontakten aus.

Und so kommt es, dass ich endlich anfangen kann, den traditionellen koreanischen Operngesang zu erlernen, in einer kleinen, aus interessierten Hausfrauen bestehenden Gruppe, mit einer sehr begabten und blutjungen Studentin als Lehrerin.
Die Hausfrauen singen alle um Klassen besser als ich, denn sie sind ja auch Koreanerinnen, sie haben die Musik alle schon einmal gehört und sie beherrschen sogar die koreanische Sprache!

Außerdem belausche ich nun auch in der Universität die Proben des traditionellen Orchesters und kann dadurch immerhin Ausschnitte der wunderbaren Suite Yongsanhoesang näher kennen lernen. Bei den Vorlesungen zur Geschichte und Theorie koreanischer Musik helfen mir einige liebenswerte Kommilitonen dabei, den Ausführung des Dozenten folgen zu können. Ohne die Hilfe dieser Freunde, sie sind wohlgemerkt keine Musiker, sondern interessierte Laien, ein Feststoffphysiker der eine, ein Chemiker der andere, wäre ich aufgeschmissen und würde an der Universität, an der kein Musiker des europäisch-klassischen Departements auch nur im Entferntesten ahnt, was die traditionelle Abteilung treibt, nicht das Geringste lernen. Alle sind viel zu sehr mit dem ständigen Gerede über ihre eigene Großartigkeit beschäftigt als dass sie mir auf meine flehentlichen Bitten hin einen Hinweis geben könnten, wo die traditionelle Musik denn nun zu finden ist. Außerdem haben sie schlichtweg keine Ahnung.

Bis ich wirklich in die Szene der traditionellen koreanischen Musik eintreten und einschlägige Erfahrungen sammeln werde, sollen noch einige Jahre vergehen. Ich weiß wohl, dass einige deutschsprachige Komponisten und selbsternannte Musikologen glauben, dies viel schneller, innerhalb weniger Tage oder Wochen hinzubekommen: heutzutage fliegt man eben mal nach Korea, lässt sich von einem Eingeborenen seines Vertrauens die anderen Eingeborenen und ihre Folklore zeigen und bringt ein paar hübsche Souvenirs mit nach Hause, die man dann in eine Komposition oder ein Buch gequetscht als eigene Entdeckungen verkauft. Warum sollte man sich die Mühe des langjährigen Suchens auch zumuten? Niemand, weder hier noch dort, wird bemerken, was genau man den Leuten unterjubelt und niemand wird es wagen, etwas zu bemängeln oder zu kritisieren. Außerdem fressen die Leute in Deutschland, wie in Korea übrigens auch, jeden Mist, wenn er nur hübsch verpackt und ansprechend hergerichtet ist.

III.

So ähnlich könnte ein Roman meines Lebens in Korea vor sich hinplätschern. Das muss nun aber wirklich nicht sein!
Über die weiteren Jahre, meine Studien, meine dortige Lehre, über die künstlerische Leitung eines Festivals mit koreanischer Musik, das in Berlin und in anderen Städten Europas stattfand, in dessen Verlauf ich auch solch dankenswerte Aufgaben wie Chauffeur, Psychotherapeut, Krisenmanager und Prügelknabe übernehmen durfte – Aufgaben, die mir allerdings kein Mensch jemals gedankt hat – über meine Streitigkeiten mit mafiosen, machtgeilen und sagenhaft inkompetenten Professoren insbesondere der Seoul National University und der Sookmyung Women´s University, über meine privaten Krisen und Enttäuschungen in Korea will ich mich lieber nicht, zumindest nicht allzu wortreich auslassen.

Vielleicht nur so viel: all dies hat mich immer wieder an den Rand des Abgrunds geführt und mehr als einmal abstürzen lassen.

Im Grunde sehe ich für Korea in absehbarer Zeit keine Zukunft, keine, die mich wieder dorthin locken würde. Lieber bleibe ich mit meiner Familie in Deutschland und pflege das, was mir in und von Korea wichtig war und ist, hier, an Ort und Stelle, in einer mir und meiner Familie gemäßen Umgebung. Soweit dies überhaupt möglich ist…

Es ist auch nicht zu leugnen, dass ich Europäer bin und immer bleiben werde – auch wenn ich behaupten möchte, dass kaum ein deutscher Komponist sich Korea so sehr einverleibt hat und selbst so sehr zum Koreaner mutiert ist wie ich. Umgekehrt muss ich sagen, dass sich meine saarländisch-deutsch-europäische Identität, die wohl doch in erster Linie von Christentum und westlicher Geistesgeschichte geprägt ist, ohne Korea so nicht entfaltet hätte.
Korea war der Spiegel, der mich gelehrt hat, die Schönheit und die Hässlichkeit der eigenen Kultur wahrzunehmen und Korea war eine Erfahrung, die mich vor allen Dingen eines gelehrt hat, nämlich, dass es keinen Wert hat, weder hier noch dort, der Karriere oder des Geldes willen jeden Schwachsinn bis zur Selbstaufgabe mitzumachen.

IV.

Lieber Moritz,

ich freue mich sehr über Dein Interesse an meinen Erfahrungen in und mit Korea. Denn schon oft hatte ich den Eindruck, dass sich kaum ein Mensch dafür zu interessieren scheint.

Vor nunmehr fast zwanzig Jahren hat diese Beziehung angefangen und seitdem habe ich noch selten Gelegenheit gehabt, zu berichten oder meine Sicht der Dinge darzustellen ohne in Deutschland als aufdringlichen Schwätzer oder in Korea als Verräter unliebsamer Wahrheiten zu erscheinen.

Dummerweise geht es mir auch jetzt wieder so: die Angst beherrscht mich, die Angst, trotz Deiner sehr genauen, richtigen und berechtigten Fragen nur wieder falsche Antworten zu finden oder mich ungebührlich zu verplappern.

Unversehens könnte es mir wie unlängst dem von mir so sehr geschätzten Lars von Trier ergehen: eine Sicherung brennt durch, ein schlechter Scherz verselbständigt sich, bis der ohnehin schon lädierte Ruf endgültig ramponiert ist. Der Ausschluss folgt auf dem Fuße: so ging es mir, gerade im Zusammenhang mit Korea, schon oft genug, und nun soll ich, da gerade ein wenig Ruhe eingekehrt ist, schon wieder ins Fettnäpfchen treten?

Vielleicht kann man sich in der Rede über ein Land der Hoffnungslosigkeit überhaupt nur in falsches Gerede verstricken. In Korea gibt es kein richtiges Leben im Falschen, weder für mich noch für die Koreaner. Von innen her geht das also schon einmal gar nicht, von außen aus aber fällt es umso schwerer.
Die Erfahrung übrigens, der falsche Mann zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein und das Falsche zu tun und falsch verstanden zu werden, habe ich in Korea immer wieder gemacht – aber nicht nur dort.
Aus Deutschland weggegangen bin ich, weil ich auch dort außen vor war, keine Perspektive mehr erblicken konnte. Umgekehrt muss ich sagen, dass mir gerade in Korea das Erlebnis des καιρóς widerfahren ist: gerade in der Musik, aber auch in existentiellen Grenzsituationen habe ich in Korea eine Fülle des Glücks gefunden, die mir in Deutschland weithin versagt geblieben ist – diese Fülle wiederum hat auf beinahe unerklärliche Weise mit der koreanischen Kultur, mit der wahrhaft koreanischen Kultur, nicht mit der pervertierten Form, die man gemeinhin und allenthalben vorfindet, mit einem gewissen asiatischen Extremismus, einer spezifisch koreanischen Radikalität zu tun. Es ist dies ein Suchen nach dem Ursprünglichen, ein Vorstoßen zu den Wurzeln, das in Korea mit einer zuweilen unbarmherzigen, aber auch glaubhaften Wahrhaftigkeit dem anderen Extrem, der generellen Verlogenheit und Relativierung aller Werte (nur die Würde des Geldes ist unantastbar!) entgegensteht.
In dieser Hinsicht bin ich der Studienstiftung des Deutschen Volkes überaus dankbar, sie hat mir zu einer Zeit eine Tür geöffnet und mich zu mir selbst geführt, als ich in Deutschland nur noch gegen Mauern gerannt bin. Später haben mich meine koreanische Familie und die Arbeit als Hochschullehrer jährlich für mindestens drei Monate bis hin zu zwei Jahren am Stück in Korea leben und wirken lassen.
Doch gerade in dieser Hinsicht war Korea mir auch ein Fluch: schwer zu sagen, ob sich all die Mühsal und alle Enttäuschungen, all die in Korea verbrachte und verschwendete Zeit, die vergeudete Energie „gelohnt“ haben: meine „Karriere“ hat wurde dadurch jedenfalls in keinerlei Hinsicht befördert, im Gegenteil. Die Zeit über, die ich in Korea verbracht habe, war ich für Deutschland gestorben. Ich war dann mal weg. Und als ich wieder kam, gehörte ich noch weniger dazu als je zuvor.
Ob sich meine Persönlichkeit in dieser koreanischen Zeit und in der darauf folgenden gebildet, gefestigt hat, ob sie gereift ist, ob sie sich eher deformiert hat, oder ob sie etwa gar zerbrochen ist? Ich weiß es nicht. Einfach und ein reines Vergnügen war Korea für mich bestimmt nicht. Und geradlinig verlaufen ist da schon mal gar nichts. Es ging auch nicht immer nur den Berg rauf, sondern oft genug gewaltig den Bach runter.
Und was die Musik betrifft, so sind mir in erster Linie Erinnerungen geblieben, die Gewissheit, Momente, Augenblicke überragender Schönheit erlebt zu haben, teilgehabt zu haben an etwas, was es heute nicht mehr gibt. Gelebte Kultur hat sich in Korea, wie an so vielen Orten der Welt in reine Folklore verwandelt und ist damit unwiederbringlich dahin. Sie hatte ihre Zeit und diese Zeit ist vorbei. Manches ist gestorben und vieles in mir mit ihm. Vor allem aber ist die Hoffnung dahin, die Hoffnung, dass Korea seine Schätze doch noch bewahren und heben oder neue hervorbringen könnte.
Vielmehr erscheint Korea (auch, aber nicht nur in der Musik) als Paradebeispiel einer an der fatalen Verbindung von Kapitalismus und Konfuzianismus gescheiterten Gesellschaft, die sich selbst dem überstürzten wirtschaftlichen Aufschwung verkauft und dabei ihre Seele verloren hat.

(Ende des ersten Teils, Teil 2 folgt in Kürze)

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