Eine kleine Horrorschau
Eine kleine Horrorschau
G. wachte auf. Was war geschehen? Woher kamen diese Geräusche? Ach ja, die Müllmänner hatten sich entschlossen, die Mülltonnen zu unchristlicher Zeit frühmorgens zu leeren, dabei wie üblich einen Höllenlärm veranstaltend. Warum mussten diese Idioten dabei so laut sein? Konnten sie ihn nicht in Ruhe schlafen lassen? Musste er nicht ausgeruht sein für das Konzert heute Abend? Was dachten die sich?
Quasi im Halbschlaf, dennoch schon mit einem Puls von 170, schlurfte G. zum Fenster und riss es auf, dabei griff er mit der anderen Hand die kleine Büste vom guten alten Bach auf seinem Schreibtisch. Schnell identifizierte er den Übeltäter, der am meisten Lärm machte. Es war dieser primitive Typ, dem immer die Hose halb herunterhing – ein widerlicher, fetter Molch, der ihn schon lange ankotzte. Vermutlich ein Ausländer. Wozu hatte man den Brexit, wenn diese primitiven Kerle hier noch herumlaufen durften?
Er schätzte sich glücklich, dass sein Wurfarm durch jahrelanges Cricket in seiner Studentenzeit trainiert genug war, um auch aus 12 Metern Entfernung noch eine große Zielgenauigkeit zu ermöglichen. Der Hinterkopf des Typen war nicht sehr schwer anzuvisieren. G. warf die erstaunlich kantige Büste des großen Barock-Komponisten und traf mitten in die sich abzeichnende Halbglatze des Müllmanns. Dieser fiel wie vom Schlag getroffen um. Ha, das hatte gesessen! Die würden sich hier so schnell nicht mehr blicken lassen! G. schloss befriedigt das Fenster.
In diesem Moment ging der Anrufbeantworter an, anscheinend hatte er vergessen, die Klingel zu aktivieren. „Hallo? Hallo? Sind Sie zuhause? Wir versuchen schon seit Tagen, Sie zu erreichen, wegen ihres Termins bei der psychologischen Evalu…“. Aber da hatte G. das Kabel schon herausgerissen, zusammen mit einem Teil des Wandputzes. Er hatte besseres zu tun, in einer Stunde begann schon die Probe.
Auch der Taxifahrer – ein zwielichtiger Typ ungewisser Provenienz – nervte G. tierisch. Der konnte von Glück reden, dass eine Glasscheibe zwischen ihm und G. war, sonst hätte G. ihm gleich eine geklatscht. „Ich habe keine Ahnung, wo Sie hier lang fahren. R-O-Y-A-L A-L-B-E-R-T H-A-L-L! Soll ich es Ihnen nochmal buchstabieren, oder haben Sie es endlich kapiert? Ich habe es nämlich eilig, Sie Volldepp!“.
„Ich nix…verstehen…“ sagte der Taxifahrer, der eindeutig nicht – wie natürlich G. – in Cambridge studiert hatte.
„Ok, jetzt langt es mir – so einen Trottel wie Sie habe ich noch nie erlebt. Ich suche mir sofort ein anderes Taxi, lassen Sie mich raus.“ Das Taxi hielt an und G. stieg aus.
„Moment, Sie schulden mir noch…“
G., langte beherzt durch das Fenster, dessen Scheibe der Taxifahrer leichtsinnig heruntergekurbelt hatte. Mit einer schnellen Bewegung griff er sich den Kragen des Typen und zog ihn an sich heran.
„Was hast Du eben gesagt, Du Wurst?“
„5 Pfund, bitte, Sie müssen noch…“
Der Taxifahrer beendete den Satz nicht. G. hatte seinen Kopf gepackt und auf das Lenkrad geschleudert, was den Mann sofort zwei Zähne und das Bewusstsein kostete. Dann riss G. ihn an den Haaren wieder empor und wiederholte die Bewegung ein paar Mal, um sicher zu gehen, dass der Cabbie ihn nicht mehr nerven würde. Wie eine blutende, lächerliche Handpuppe sackte der Taxifahrer zur Seite.
G. störte sich nicht an dem Autohupen der Fahrzeuge hinter ihm. Seelenruhig nahm er seinen Aktenkoffer vom Hintersitz und schloss die Tür. Fröhlich die ersten Takte der „Pastorale“ pfeifend machte er sich auf den Fußweg zum Konzertsaal. Ein bisschen Spazierengehen würde ihm gut tun.
Wie immer passierte er die Pforte grußlos. Die primitiven und ungebildeten Wesen, die hinter diesen Scheiben dahinvegetierten, interessierten ihn nicht die Bohne. Warum sollte er ihre erbärmliche Existenz mit einem freundlichen Wort aufwerten? Das hätten sie nicht verdient.
Vor seiner Garderobe wartete schon seine Assistentin. Er liebte ihren untertänigen, leicht eingeschüchterten Blick. Sie hatte Angst, das spürte, das roch er. Es machte ihn geil.
„Was ist?“ sagte er, schroff und ohne sie zu grüßen.
„Wir haben ihn wie gewünscht ausgetauscht.“
„Wen ausgetauscht?“
„Na, den Sänger, der Ihnen gestern nicht passte.“
Die Episode am vorigen Tag hatte G. schon fast vergessen, aber jetzt erinnerte er sich wieder an diesen vollkommen talentlosen Menschen, der es gewagt hatte, seine wertvolle Zeit zu vergeuden.
„Lassen Sie es mich so ausdrücken: Wenn Sie es noch einmal wagen, mir so einen Trottel vorzusetzen, kündige ich Sie nicht nur, nein, ich prügle Sie so windelweich, dass noch nicht einmal Ihre eigene Mutter Sie wiedererkennen würde, Sie dämliche Schlampe!“
Die Assistentin senkte demütig den Kopf. Sie wusste, was passierte, wenn sie es nicht tat. In dieser Stimmung war es am besten, G. nicht noch weiter zu reizen.
„Haben Sie verstanden?“ brüllte G. so laut, dass sich der gerade vorbeigehende junge Solist des Knabenchors instinktiv duckte. Doch leider zu spät, denn G. hatte ihm schon längst spontan eine gescheuert.
„Guck nicht so blöd, dummes Blag! Wie soll man in diesem Irrenhaus denn arbeiten, verdammt noch mal?“
Schnaubend öffnete er die Tür seiner Garderobe und knallte sie zu.
Endlich allein. Allein mit den Partituren der großen Meister, die er so liebte und deren großartige Musik er so gerne im Kopf hörte. Berlioz, Händel, Mozart und ganz besonders Ludwig Van…sie alle lieferten den Soundtrack für seine ganz private Kopf-Horrorschau, Visionen von monströser Schönheit, die die Fantasie der meisten Menschen komplett überfordern würde, da sie vor Bildern aus Blut und Folter sicherlich zurückschrecken würden. Aber genau das war doch die höchste Kunst, und G. war ihr unerbittlicher Meister!
Fröhlich summte er vor sich hin, doch da klopfte es schon wieder an der Tür. G. riss sie auf, doch es war niemand zu sehen. Auf der Erde lag ein Brief, den jemand durch die Tür geschoben hatte. G. riss ihn auf und las, dabei erst einmal nichts verstehend. „Präventionsgespräch?“ „Behandlung?“. Was erlaubten diese Menschen sich? Wie konnten Sie es wagen, ihn, den MEISTER, in irgendeiner Form anzuzweifeln, zu irgendwelchen Behandlungen zu zwingen, die seine geliebte ewige schlechte Laune verbessern könnte? Eine schreckliche Vorstellung! G. zerriss den Brief und schleuderte die Fetzen einer verdutzten Putzfrau ins Gesicht. Er schloss die Tür wieder. Sollten sie ihn doch alle am Arsch lecken, diese Versager!
Die Probe war gut gewesen. Er liebte die ängstlichen Blicke seiner Musiker, jedes Mal, wenn er ihnen einen Einsatz gab. Er wusste, dass sie in der Pause tuschelten, wenn der Hornist sich wieder Mal aus Angst vor einem falschen Ton in die Hose gemacht hatte. G. liebte es, sein Ensemble bei jeder Möglichkeit zu erniedrigen, bloßzustellen und anzubrüllen. Dummes Orchesterpack, debile Sängerinnen und Sänger…sie alle hatten nur einen Job: seinem harten Stab zu folgen, ansonsten könnten sie sich wegscheißen! Dass sie sich das trotz seiner Erniedrigungen immer wieder antaten, senkte seinen Respekt vor ihnen noch mehr.
Am schlimmsten aber war das Publikum – diese sabbernden Idioten ohne jegliche Raffinesse oder Bildung, diese nach Autogrammen heischenden Schleimbeutel, die am Bühneneingang warteten und denen er am liebsten immer wieder die Fresse polieren würde. Alles nur Ablenkungen vor den zwei wichtigen Dingen im Leben G.s – er selbst und die Musik.
Die Zeit bis zum Auftritt verbrachte er mit dem Schauen von Kickboxen-Videos auf youtube. Das waren für ihn noch richtige Männer (und manchmal auch Frauen)! Die fackelten nicht lange rum, bis sie jemandem fertigmachten, mit dem Ellenbogen, mit der Faust, oder mit dem Fuß. Er genoss es, wenn Blut floss. Er genoss die Schnelligkeit, die Wucht der Bewegungen. Er genoss es, wenn die Gegner grimassierend vor Schmerz zusammenbrachen. Das war seine Welt! G. mochte ein alter Sack sein, aber kaum jemand von diesen Typen könnte ihm was vormachen, wenn es hart auf hart ging. Nicht umsonst trainierte er jeden Tag mit einem Boxsack, auf den er einen Schnappschuss seines am meisten gehassten Musikkritikers aufgeklebt hatte. „Zur Motivation“, hatte er seiner Frau gesagt, bevor sie ihn aus unerklärlichen Gründen verlassen hatte. Vielleicht hatte er manchmal zu fest zugelangt, aber das hatte sie natürlich auch verdient. Warum hatte sie ihm auch immer widersprochen?
Als G. sich nach dem letzten Ton verbeugte, brandete tosender Applaus auf. Er genoss die Bewunderung des Publikums, das ihm nach wie vor sklavisch ergeben war. Auch der Ersatzsänger schien erleichtert zu sein. Doch G. hatte genau gehört, wo der Idiot falsch gesungen hatte. Nach dem dritten Verbeugen hatte G. keine Lust mehr und blieb sinnend am Inspizienten-Pult stehen. Doch der Sänger schien noch nicht genug zu haben und näherte sich ihm. „Waren Sie zufrieden, Maestro?“ fragte er. Vorsichtig. Untertänig.
Darauf konnte es nur eine Antwort geben.
Ohne lange zu fackeln, versetzte ihm G. zwei schnelle Schläge – erst einen in den Bauch, dann einen mitten auf die Nase (die mit einem befriedigenden und deutlich hörbaren Knacken sofort brach und Blut verspritzte). Der Tenor sackte zusammen, doch G. versetzte ihm noch ein paar Tritte, nur um sicher zu gehen, dass er erst einmal nicht mehr aufstehen würde. Jetzt wimmerte der Kerl sogar noch, sich auf dem Boden windend und krümmend. So ein Versager!
John Eliot Gardiner wischte sich das Blut von seiner Faust und kicherte fröhlich in sich hinein.
So könnte es die ganze Woche weitergehen, wenn es nach ihm ginge.
Komponist