Amerikanisches Tagebuch, 4. Tag

Diesen Sommer verbrachte ich im August 2 Wochen in den USA, diesem seltsamen Land der Widersprüche, Abgründe und dennoch immer wieder auch Hoffnung. Der Grund: Musik. Ich besuchte sowohl die Musikfestivals in Tanglewood als auch in Staunton, Virginia, nur eine halbe Stunde von Charlottesville entfernt. Diese Aufzeichnungen sind eine Fortsetzung meines Komponistentagebuchs, Tag für Tag aufgezeichnet, nun schon in der Vergangenheit, aber nicht sehr weit entfernt von der Gegenwart.

Tag 4
Abenteuer in New York

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Alles was ich im Folgenden beschreibe ist die Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Es hat sich genau so zugetragen und ist nicht im Geringsten übertrieben.

Morgens in Lenox, MA ist die Welt noch in Ordnung. Ich weiß, dass ich noch eine lange Reise nach Staunton, VA vor mir habe. 4 Stunden mit dem Bus nach New York. Dann eine halbe Stunde Umsteigezeit zu dem nur 10 Minuten zu Fuß entfernten Bahnhof „Penn Station“, dann von dort 3 Stunden mit dem Zug nach Washington, dann eine Stunde Wartezeit dort, dann weitere 3 Stunden Zug nach Charlottesville, von wo man mich Richtung Staunton abholen will. Das war zumindest der Plan. Doch schon Morgens bekomme ich eine panische SMS: „Whatever you do, don’t go to Charlottesville – there will be riots“. Zu diesem Moment ist noch wenig darüber in den Nachrichten zu sehen gewesen und ich halte die Angst meiner Gastgeber für übertrieben (sie sollten Recht behalten), aber was soll’s, ich kann ja auch schon vorher in Culpeper aussteigen, halb so schlimm.
Nur sollte es anders kommen.

Schon in Lenox kommt der Bus erst einmal 10 Minuten zu spät, was mich aber immer noch hoffen lässt, rechtzeitig anzukommen. Doch dann verlängern sich die Halte an den verschiedenen Stationen, immer mehr etwas bedröhnt wirkende Jugendliche steigen ein, mit riesigen Koffern beladen. Selbst die Busfahrerin ist darüber erstaunt.
An Bord des Busses funktionieren weder W-LAN noch Internet, also kann ich meinen Zug nicht umbuchen. Irgendwann wird mir klar: ich werde den Anschlusszug nie und nimmer erreichen, und es ist der letzte Zug an diesem Tag nach Charlottesville.
Deprimiert und genervt komme ich in NYC an. Ich steige als einer der letzten aus dem Bus und will meinen Koffer holen, als ich feststelle…dass dieser nicht mehr vorhanden ist.

Natürlich bin ich nicht amused. Der Busfahrerin ist mein Leid relativ egal: „There is nothing I can do about it, somebody must have taken it by accident“. Und tatsächlich: ein Koffer ist im Laderaum übriggeblieben, ein ärmliches winziges schwarzes kleines Köfferchen ohne die geringste Ähnlichkeit mit meinem Koffer, der zwar auch schwarz, aber 3x so groß ist.
Die unfreundliche Busfahrerin ruft nach meinem Drängen irgendwann genervt das Buslinienmanagement an, wo mir ein zwar etwas freundlicherer aber nach wie vor wenig hilfsbereiter Herr erklärt, dass man leider gar nichts machen könne, da man erst warten müsse, bis sich der Besitzer des vertauschten Koffers bei der Buslinie melde.
Ich schaue mir den kleinen schwarzen Koffer genau an – tatsächlich klebt da ein Flughafenanhänger dran, Air France, JFK-Airport. Und darauf ein Name: „Alexander Guaganic“ (Name von der Redaktion leicht geändert).
Ich sage dem Typen von der Bushotline, dass man doch diesen sehr seltenen Namen in ihren Unterlagen finden müsse, denn man muss ja die Tickets online buchen, mit Namen, Telefonnummer und Emailadresse. Aber nein, diese Information hätte er zwar, aber er „dürfe sie mir nicht geben“.
Frustriert beende ich das Gespräch, man verspricht, mich „zurückzurufen“, aber nur, wenn der Andere sich meldet. „Und wenn nicht?“ schreie ich verzweifelt, doch da hat der Herr von der Buslinie schon aufgelegt.

„Darf ich den Koffer behalten?“ frage ich die Busfahrerin, doch die sagt „Nein, den nehme ich wieder mit“, sprach’s, nimmt den Koffer, schließt den Bus ab und beendet ihre Schicht.
Noch nie irrte ich so verzweifelt und heulend durch eine Busstation – wenn ich ehrlich bin, war ich überhaupt noch nie hier, in Port Authority, einem riesigen, anonymen Terminal mitten in New York, voller Obdachloser, Penner, genervter und gestresster Menschen, Rucksacktouristen…
In dem Koffer ist alles was ich brauche – Kleider, Noten, Musikinstrumente, Waschzeug, meine besten Anzüge.
Ich renne durch das riesige Terminal, immer in der Hoffnung vielleicht doch noch den verirrten Koffer und seinen neuen Besitzer zu finden, doch vergebens. Was soll ich tun? Ich kann nun nicht aus New York weg, aber ich weiß auch nicht, was es sonst für Optionen gibt.

Irgendwann raffe ich mich dazu auf, noch einen letzten verzweifelten Versuch zu starten. Ich stelle mich in die Schlange eines Schalters der Buslinie, um vielleicht doch noch irgendwas über den Besitzer des anderen Koffers zu erfahren. Nach langem Warten in der Schlange stehe ich vor einer sehr dicken afroamerikanischen Frau am Schalter. Ich erzähle ihr von meinem Leid, zeige ihr das Foto, das ich gottseidank von dem Flugzeuganhänger gemacht habe…doch auch sie ist wenig optimistisch, da sie trotz des seltenen Namens diesen nur finden kann, wenn sie weiß, wo genau der Herr Guaganic eingestiegen ist. Doch ich gebe nicht auf und überrede sie, jede einzelne Station und deren zugestiegenen Passagiere auf dieser Route durchzugehen, während hinter mir die Leute schon langsam ungeduldig werden. Doch dieser bildschöne schwarze Engel, diese wunderbare und unübertrefflich großartige Frau, die auf ewig gesegnet sein soll, sie…hat tatsächlich Erfolg! „I have a number here“ sagt sie. Potzblitz, eine Telefonnummer! Genau das, was ich gesucht habe!

Mit Schweiß im Gesicht rufe ich die Nummer an. „You have my bag!“ sage ich. Am anderen Ende ist erst Unverständnis, dann laute Flüche. „Fuck, I told you to take care of the bag!“ schimpft einer meinen Gesprächspartner aus dem Hintergrund an. Es scheint große Aufregung am anderen Ende zu herrschen. Ich sage „Are you still in New York? Please come back to the bus terminal“. Und – nach kurzem Zögern – füge ich hinzu „I have your bag!“, was natürlich gelogen ist.
Wir machen einen Treffpunkt aus, doch auch nach einer halben Stunde ist er noch nicht da. Nach mehreren erfolglosen Rendezvous verabreden wir uns schließlich am Taxistand. Und da ist er tatsächlich! „Alexander Guaganic“ mit dem scheinbar slawischen Namen, derselbe „Alexander Guaganic“ der es sich anscheinend leisten kann, mit Air France zu fliegen, entpuppt sich als schwarzer Hüne aus der Hood, der von einem weiteren nervösen und wesentlich kleineren Schwarzen begleitet wird, der in einer Tour flucht und schimpft. Ich erinnere mich an die beiden: sie lagen zugedröhnt und schlafend im Bus als ich einstieg. Beide sind weder slawisch noch typische Air France-Kunden. Aber – und ich danke den Göttern als ich es sehe – sie haben tatsächlich meinen Koffer!

Nach der Übergabe werden sie unfreundlich und vor allem extrem ungeduldig: „where is our bag“?. Ich sage: „The bus line must have them“. Ich biete dem bedröhnten Hünen an, ihn zum Schalter mit dem freundlichen Engel zu bringen, diese würde ihm sicherlich helfen. Noch nie habe ich einen Menschen so rennen sehen, anscheinend voller Panik. Irgendwann verlieren wir uns im Getümmel von Port Authority Bus Terminal. Ich bin nicht unfroh, denn Hauptsache ich habe meinen Koffer wieder! Tatsächlich ist alles noch drin, obwohl er sicherlich geöffnet wurde.

In diesem Moment fällt mir ein, dass mir mein Student Jake Bellissimo am Vortag von Drogendealern aus den Wäldern von Massachusetts erzählt hatte. Sollten diese beiden etwa solche Dealer sein? Hieß der eine vielleicht gar nicht „Alexander Guaganic“? War der Koffer vielleicht für jemand ganz anderen bestimmt? Ich werde es nie erfahren. Und ganz ehrlich – ich bin nicht ganz unfroh drum. Aber bis zum Ende meines Lebens werde ich mich fragen, was in dem Koffer von „Alexander Guaganic“ wohl wirklich drin war.

Dass ich dann noch einen Zug nach Washington nahm, in dem der Blitz einschlug und die gesamte Elektronik lahmlegte ist dagegen fast prosaisch und langweilig. Und dass ich – gottseidank – es nicht mehr nach Charlottesville schaffte, wo direkt neben der Bahnstation ein rassistisches Arschloch in eine Menschenmenge fuhr, wohl auch.
Ich kann nur sagen, dass ich Abends an der Hotelbar des „Hyatt Washington“ einen SEHR großen Drink brauchte.

Moritz Eggert

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Eine Antwort

  1. Wow, was für eine spannende Geschichte. Ich hätte glaubs zwei grosse Drinks gebraucht am Abend. Danke fürs Teilen!