Wie Dietrich Fischer-Dieskau mal auf meinen Anrufbeantworter sprach

Ohne ihn wäre das deutschsprachige Kunstlied nur ein Randphänomen des Konzertlebens: Dietrich Fischer-Dieskau. Geboren wurde der spätere Bariton am 28. Mai 1925 in Berlin. Heute, am 28. Mai 2025, befindet sich der Autor dieser Zeilen ebenfalls in Berlin. Damit bin ich nicht alleine, freilich. Und ich bin auch nur einer von hunderten Menschen, die Fischer-Dieskau noch erlebt haben. Beziehungsweise: Nein, ich habe ihn noch nicht einmal mehr persönlich erlebt! Jedenfalls nicht von Angesicht zu Angesicht. Als ich nach Berlin kam, da war die Gesangslaufbahn von Fischer-Dieskau schon längst beendet. Und anderswo im Musikleben der Hauptstadt bin ich ihm auch nie begegnet. Ihm, der gefühlt allein Franz Schuberts Winterreise 30 Mal auf Schallplatte herausbrachte. Dazu alle Lieder von Brahms, Schumann, Wolf und das Beste der 1810er und 1820er Jahre. Meist mit Gerald »Bin ich zu laut?« Moore am Klavier. Aber auch andere Tastenlöwen durften ihn begleiten, Richter, Horowitz, Brendel und viele andere mehr.
Aber 2006, da gab es einen verrückten Verleger, der meine Magister-Arbeit über Gustav Mahlers Lied Wo die schönen Trompeten herausgeben blasen wollte. Entschuldigung: […] der meine Magister-Arbeit über Gustav Mahlers Lied Wo die schönen Trompeten blasen herausgeben wollte. Er fragte mich, wer der einflussreichste Vorwort-Verfasser wäre, würde die Arbeit als Buch erscheinen (ist sie dann nicht; aber von der Arbeit inspiriert schrieb ich beispielsweise zwei Jahre nach Abgabe einen Aufsatz für Musik und Ästhetik). Ich sagte spontan: »Dietrich Fischer-Dieskau«. Und ernsthaft schaffte der Verleger es (ich selbst war noch sehr jung), Kontakt zu Fischer-Dieskau zu bekommen.
Und so begab es sich, dass ich, es war vielleicht Januar 2007, in meine damalige WG in Berlin-Tiergarten kam und sah, dass der Anrufbeantworter leuchtete. Darauf: eine Nachricht von Dietrich Fischer-Dieskau. Irgendwo habe ich diese Nachricht vielleicht auch noch überspielt abgespeichert, aber ich wüsste momentan nicht, wo. Der Inhalt jedenfalls: eine sehr höfliche Absage. Das »Fischer-Dieskau« in dem hier frei erinnerten »Ja, guten Tag, lieber Herr Lücker, Fischer-Dieskau hier« vernuschelte er ein wenig, glaube ich. Er könne das Vorwort leider nicht schreiben, da er sich noch im Zustand der Rekonvaleszenz befände. Er wünschte mir aber alles Gute und wirkte sehr freundlich.
Und natürlich habe ich ab und zu darüber nachgedacht, was gewesen wäre, wäre ich zum Zeitpunkt des Anrufs von Fischer-Dieskau am Apparat gewesen. Ich hätte es vielleicht nicht geglaubt, dass mich der größte Liedsänger aller Zeiten tatsächlich persönlich anruft. Mit Gänsehaut male ich mir gelegentlich aus, dass ich ungläubig reagiert und so etwas gesagt hätte wie: »Ja, klaaaaaar, Dietrich Fischer-Dieskau. Geeeenauuuu! Netter Versuch. Wer hat’s versucht von euch? Mmh? Stefan? Christian? Johannes?«
Das ist Gott sei Dank nicht passiert. Und so war es viel besser, dass Fischer-Dieskau mir schlichtweg seine Absage auf den Anrufbeantworter (der längst nicht mehr existiert) sprach.
Heute wäre Dietrich Fischer-Dieskau 100 Jahre alt geworden. Und es wäre schön gewesen, hätte er das tatsächlich erlebt. Aber leider hat Fischer-Dieskau am 18. Mai 2012 im Alter von 86 Jahren unseren Planeten verlassen.
Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.