Avanti Chianti – ein Ultra in der Toskana

Avanti Chianti – ein Ultra in der Toskana

Werbung

Die Toskana hat schon immer einen unwiderstehlichen Reiz auf Deutsche ausgeübt. Vor allem auf Frankfurter. Ich sage nur: Goethe (Tischbein)! Gernhardt (“Die Toskana-Therapie“)! Gianni (Badesalz)!

Doch ich kam wegen eines anderen Reizes – dem UTCC, dem „Ultra Trail Chianti Castles“ von UTMB. 103km durch toskanische Weinberge, Dörfer und kleine Schlösser, über 4000 Höhenmeter, eine Runde um das kleine Weindorf Radda. Das „dürfte mir liegen“, meinte mein lieber Coach Doug Stewart, und der muss es wissen, denn er ist Schotte. Und natürlich lieben auch die Schotten die sanften italienischen Hügellandschaften, die sich bis in die Unendlichkeit strecken.

Zuerst einmal musste ich allerdings nach Radda kommen. Flug nach Florenz, so viel war schon mal klar. Aber wie dann von Florenz nach Radda kommen, ohne Führerschein und Leihauto? Als Deutscher ist man einiges an Unzuverlässigkeit gewohnt, was öffentliche Verkehrsmittel angeht, aber wenn ich aus meinem Jahr in Italien eines weiß, dann ist es, dass auf italienische Busse vielleicht noch ein bisschen weniger Verlass ist als auf die Deutsche Bahn. Wagemutig nahm ich also die Tram vom Flughafen Florenz um einen mir von google maps vorgeschlagenen Bus (Linie 168A oder so ähnlich) Richtung Chianti zu nehmen. Die Strecke sah unendlich kompliziert aus und beinhaltete einen anscheinend nicht zu vermeidenden Umstieg in irgendeinem Dorf, wobei man dort den Bus verlassen, dann 2 ½ Kilometer zu Fuß über die Landstraße wandern sollte, um dann woanders wieder einen anderen Bus zu erwischen.

Auf das Schlimmste gefasst suchte ich den richtigen Bus an einem gigantischen Busbahnhof in Florenz. Dutzende Busse fuhren dort ein und aus, aber keiner mit der Nummer, die ich suchte. Irgendwann entdeckte ich einen Bus mit der Nummer 2765B (oder so ähnlich), auf dem immerhin als Richtung „Chianti“ stand. Das schien mir vertrauenerweckend, und ja, der Busfahrer versprach das von mir zum Umsteigen benötigte Dorf anzufahren.

Wie man es in fremden Ländern macht, verfolgte ich meine Route auf google maps, es schien auf jeden Fall in die richtige Richtung zu gehen. Schon bald verschönerte sich die Landschaft und wir waren mitten in der Toskana – Weinberg auf Weinberg, Osteria auf Osteria, strahlender Sonnenschein, was will man mehr!

Als wir den Halt erreichten, wuchtete ich meinen Koffer aus dem Bus, wohlwissend, jetzt ein Weilchen wandern zu müssen, doch halt, was sah ich, der Bus schien als nächstes in eine Landstraße Richtung „Radda“ abzubiegen, sollte er also…? Und ja, der Busfahrer bestätigte, dass der Bus nun nach Radda weiterfahren würde, und da wollte ich ja eh hin! Warum hatte mir sowohl google maps als auch die offizielle App der toskanischen Buslinien keinerlei Direktverbindung von Florenz angezeigt, wenn es doch augenscheinlich eine gab? Denn tatsächlich fuhr der Bus nun einfach weiter, direkt zu meinem Ziel!

Vielleicht ist dies der neue italienische Stil – zuerst Chaos und Ineffizienz vortäuschen, dann aber heimlich eine Direktverbindung anbieten, die viel einfacher war als alles, was ich vorher recherchiert hatte?

Wie auch immer, nun war ich in Radda, einem nur aus einer Straße bestehenden Dörfchen, das im Moment mit hunderten von Läuferinnen und Läufern aus aller Welt überfüllt war. Die gesamte UTMB (Ultra-Trail-Mont Blanc) – Franchise – Maschinerie war aufgefahren worden – in einer kleinen Zeltstadt wurden die üblichen Dinge angeboten, die Läufer so brauchen: Schuhe natürlich, aber auch allerlei Gels und Riegel, Kopfhörer, Bekleidung usw. War man einmal in einer solchen Lokalität, hat man alle gesehen, aber dennoch ist es immer wieder nett, alte Freunde zu treffen, so zum Beispiel Alecsa Stewart (die Frau meines Coaches, selbst Läuferin und für den Lauf am Sonntag angemeldet) und Tim, der wiederum Alecsa coacht. Mein wunderschönes Hotel in einem alten Palazzo lag direkt an der Start-und Ziellinie, besser hätte man es wohl gar nicht treffen können. Da mein Rennen sehr früh beginnen sollte (um vier Uhr morgens) gibt es von diesem Tag auch nicht viel mehr zu erzählen, denn so zeitig wie möglich zog ich mich aufs Zimmer zurück, um zu ruhen und mein Equipment bereitzulegen.

Equipment ist immer ein Riesenthema bei Trailläufen. Man kann Stunden damit verbringen, über Details nachzudenken, und aus lauter Nervosität mache ich mir endlose Listen, damit auf keinen Fall etwas fehlt. Diesmal wollte ich etwas Neues versuchen, nämlich während des Rennens viel mehr zu essen und zu trinken, als ich es gewöhnlich tue. Um 1900 herum empfahl man Marathonläufern, auf keinen Fall Wasser zu trinken, nichts zu essen und kurz vor dem Ziel ein Glas Champagner zu sich zu nehmen. Inzwischen weiß man, dass dies Quatsch ist, und der Trend geht zu immer größeren Mengen von Nahrungsaufnahme während eines Rennens. Manche Triathleten bringen es schon auf 120g Kohlehydrate per Stunde, was wirklich eine Menge ist.

Ich hatte mir extra neue Gels und Riegel der Firma 226ers besorgt, die Nahrung speziell für Ultraläufer herstellt. Deren Gels sind die größten Kalorienbomben auf dem Markt – 76 Gramm leicht, aber mit 200 Kalorien! Ich plante jeweils ein Gel und einen Riegel pro Stunde zu mir zu nehmen, zusammen mit weiteren Schlucken aus einem Maurten-Nahrungsdrink in der einen 0,5 Liter-Flasche und einem isotonischen Getränk in der anderen. Zusätzlich war ich noch mit einer Wasserblase von 1,5 Litern ausgerüstet. Das alles sollte auch ohne Aid Station 4 Stunden reichen zusammen mit 4 Gels und 4 Riegeln, denn diesmal hatte ich den zusätzlichen Luxus, dass Alecsa mir an drei der 9 Aid Stations assistieren würde, d.h. sie würde mich mit neuen eigenen Riegeln und Gels und versorgen sowie Wechselshirts und neue Schuhe bereithalten. Außerdem würde sie meine Wasserblase neu befüllen, was in erschöpftem Zustand oft gar nicht so einfach ist.

Ich hatte mir ausgerechnet, dass ich dann im Verlauf des Rennens ca. 7000 Kalorien zu mir nehmen würde, was die 8-9000 verlorenen Kalorien durch die Anstrengung einigermaßen wieder wettmachen könnte. Der Nachteil: ich hatte ca. 3 Kilo mehr zu schleppen!

Vier Uhr morgens ist jetzt nicht normalerweise die Zeit, zu der man sich körperlich anstrengen will, aber bei einem Ultralauf über 103 Kilometer geht es leider nicht anders, wenn man nicht irgendwann nach Mitternacht ankommen will. Und das heißt natürlich um zwei Uhr aufzustehen, denn nach dem Frühstück sollten schon eher zwei Stunden vergangen sein, bevor man läuft.

Meine größte Panik an dem Morgen war, ob es mir gelingen würde, im halben Komazustand Kontaktlinsen einzusetzen, denn dieser Lauf sollte der Test sein, ob das in einem Rennen funktioniert. Und ja, es gelang.

Um kurz vor Vier Uhr gesellte ich mich also zu den hunderten von aufgekratzten Läufern, die von einem italienischen Animator von imposanter Statur eingeheizt wurden, der jede Müdigkeit spätestens dann vertrieb, als er sich das Hemd auszog und sich eine riesige Trommel umschnallte. Doch halt: in diesem Moment fiel mir ein, dass ich das Kabel zu meiner Ladebatterie im Hotelzimmer vergessen hatte! Leider war dies Pflichtausrüstung, bei einer Kontrolle konnte ich also allein deswegen disqualifiziert werden. Ich rannte also zurück ins Hotel und suchte irgendjemanden, der in Besitz eines Schlüssels war, denn leider hatte ich meinen Hotelschlüssel in meiner Drop Bag deponiert, und die war schon längst auf dem Weg zu irgendeiner Bergstation, um dort auf mich zu warten.

Es gab also noch einmal Spannung, ob der übermüdete Nachtportier in der Lage sein würde, mein Zimmer aufzuschließen, es gelang ihm buchstäblich im letzten Moment und ich spurtete zurück zur Startlinie.

Und schon ging es los: erst einmal – Alecsa hatte mich schon vorgewarnt – nur bergab. Das verleitet viele dazu, zu schnell zu laufen, und das wollte ich bei diesem Ultra dringend vermeiden. Ich hatte mir nämlich diesmal ein strenges System ausgedacht, mit dem ich möglichst lange fit und genügend ernährt sein wollte. Dieses System sah so aus: 13 Minuten Laufen mit geringer Intensität, ca. 134 Herzschläge in der Minute, dann 2 Minute Gehpause mit dem Verzehr eines halben Riegels beziehungsweise Gels, 3-4 Schlucken aus der Wasserblase und exakt je einem Schluck aus beiden 0,5-Liter-Flaschen. Dann 7 Minuten schnelleres Laufen bei 143 Schlägen pro Minute, dann 5 Minuten Speedwalking (= schnelles Gehen), gefolgt von einer weiteren Gehpause, diesmal 3 Minuten, mit Verzehr wie oben. Dann dieses System jede halbe Stunde wiederholen, egal was kommt.

Die steinigen Weinberge hat Tischbein nie gemalt

Natürlich waren meine Pulsraten am Anfang etwas höher, das ist aber normal. Es gelang mir aber tatsächlich, mein System gleich von Anfang zu etablieren. Das erfordert viel Geduld und den Willen, viele Läufer an sich vorbeiziehen zu lassen in der Hoffnung, sie später zu überholen. Und diese Hoffnung sollte sich bewahrheiten, so viel nehme ich schon einmal vorweg!

Recht entspannt erreichte ich also recht spät die erste Aid Station (von 9), konnte diese aber auch gleich ignorieren, da ich ja ohnehin schon gegessen und getrunken hatte. Gleich ging es also weiter in die toskanische Landschaft, von der man bisher wegen der Dunkelheit nur wenig gesehen hatte. Doch langsam wagte sich die Sonne heraus und man merkte schnell, dass es ein sehr schöner Tag werden würde – nicht zu heiß, nicht zu warm und das Wichtigste: kein Regen oder Sturm! Geregnet hatte es am Tag vorher, daher musste man schon sehr bald Pfützen navigieren, aber das ist man beim Geländelauf gewohnt.

An einen Moment kann ich mich besonders erinnern – die Sonne schien nun strahlend und wir liefen einen Weinberg herunter in ein kleines pittoreskes Tal. Ich war einfach nur glücklich und bewunderte die Schönheit meiner Umgebung. Das sind so die kleinen Belohnungen an einem Tag, der hart zu werden versprach und einer der Gründe, warum man sich das antut, denn vor einem PC sitzend und Emails beantwortend erlebt man so etwas nicht.

Wie bei einem Ultra üblich vergehen die ersten paar dutzend Kilometer wie im Flug. Man fühlt sich noch frisch, geht die Downhills noch locker an und hat sogar noch Muße, die Umgebung wahrzunehmen. Die Unterstützung von Alecsa funktionierte hervorragend und machte meine „Boxenstopps“ an Checkpoint 3, 5 und 7 zum Genuss, denn sie half mir mit absolut allem, auch mein Wechselshirt richtig herum anzuziehen (wozu man irgendwann nicht mehr in der Lage ist). Ich hatte ihr auch zwei Packungen meiner Lieblingsgummibären mitgegeben, auch diesen Vorrat half sie mir stets aufzufüllen.

In jedem Italiener steckt auch ein bisschen Frankreich

Das Problem mit der Ernährung bei Ultras ist das folgende: Einerseits verbraucht der Körper deutlich mehr Kalorien, wenn man läuft (im Schnitt so um die 600 Kalorien pro Stunde bei mäßigem Tempo), gleichzeitig bedeutet aber jede Form von körperlicher Anstrengung auch, dass der Körper in eine Art Adrenalin-Stressmodus kommt, und dieser sagte schon unseren Vorfahren, dass es vielleicht wichtigeres gibt als Essen, zum Beispiel, wenn man vor einem Säbelzahntiger um sein Leben davonrennt. Da denkt man jetzt nicht als Allererstes an Schokolade oder eine Portion Nudeln.

Das heißt: eigentlich muss man ständig Essen, aber man hat gar nicht so große Lust darauf. Hier helfen die Gels, die man normalerweise bei gesundem Menschenverstand nicht mit der Kneifzange anfassen würde, denn das sind einfach nur konzentrierte Kalorien ohne großen geschmacklichen Lustgewinn.  Aber man kann sich das schreckliche Zeug relativ schnell reinwürgen, ohne groß nachzudenken, und schwer im Magen liegen sie auch nicht. Eine weitere Möglichkeit sind kaloriengesättigte Drink-Mixturen, aber die sind fast dasselbe wie Gels und sehr dickflüssig. Wenn man aber nicht ständig Durchfall haben will von dem ganzen flüssigen Zeug muss man ab und zu auch Mal was Festes zu sich nehmen, hierfür gibt es dann wieder die typischen Energieriegel in speziellen Läuferversionen. Und natürlich das, was es an den Aid Stations so zum Essen gibt, und einen anlacht: Saure Gurken, Chips, Cola, Brote mit Käse oder Wurst und so weiter. Ein Nudelsüppchen bei kalten Temperaturen und zu später Stunde kann dann auch mal sehr willkommen sein, Hauptsache Kalorien, Kalorien, Kalorien.

Wenn man Videos der Topläufer bei kompetitiven Läufen anschaut, so sieht man sie an den Aid Stations mit leerem Gesichtsausdruck dutzende Flaschen leeren oder doppelte Burritos herunterwürgen, die ihnen ihre Assistenten darreichen. Es geht nur darum, dem Körper so viel Energie in so kurzer Zeit wie möglich zuzufügen, die absolute Antithese von Genuss, der Körper als reine Maschine gedacht, die irgendwie gefüttert werden muss. Da ich lange Sport als eine Hilfe zum Abnehmen betrieb, brauchte ich recht lange, das Paradox zu verstehen: Je mehr Sport ich mache, desto mehr muss ich richtig viel Essen, vor allem, während ich laufe. Und genau das widerstrebt einem, wenn man gerade erst viel abgenommen hat, denn zuerst ist man ja begeistert, dass man nach einem so langen Lauf durchaus viele, viele Kilo weniger wiegen kann, das meiste davon durch Schweißverlust, also Flüssigkeit.

Meine Ess-Trinkstrategie mit Gehpausen schien sehr gut zu funktionieren. Ich fiel zwar immer wieder zurück, überholte dann aber in meinen Aktivitätswellen genau die Läufer, die mich vorher überholt hatten. Man sieht bei einem Ultra irgendwann immer dieselben Leute auf demselben Leistungsniveau um sich herum, aber ich merkte, dass nach jeder Welle einige nicht mehr auftauchten. Ich machte an den verrücktesten Orten Gehpausen – mitten in einer Extremsteigung zum Beispiel, wo man ohnehin nur (mit Stöcken wie beim Bergwandern) geht. Ich ging dann einfach nur ein bisschen langsamer als vorher und führte mir wieder Nahrung und Flüssigkeit zu. Umgekehrt lief ich auch manchmal plötzlich am Berg los, zur Überraschung meiner Mitläufer, denn ab und zu war ja auch „Zone 2“ – Anstrengung und Herzrate von 143+ gefragt.

Noch scheint die Sonne

Ich musste das System immer mal wieder leicht adaptieren (Gehen bei einem Downhill macht wenig Sinn und bringt auch wenig Erholungsgewinn), aber im Großen und Ganzen funktionierte es prima, denn es gab mir immer kleine zu erfüllende Mikroziele und eine gewisse Struktur in die Monotonie des Laufens. Denn man kann machen, was man will, irgendwann werden die Kilometer immer länger. Das sind dann die Momente, an denen man auf die Uhr schaut, um zu sehen, wo man gerade ungefähr ist, dann nach gefühlt einer halben Stunde wieder drauf schaut und feststellen muss, dass man sich gerade einmal 400 Meter fortbewegt hat.

Ein Problem meiner Ernährungsstrategie zeigte sich recht bald: ich musste ständig aufs Klo, und zwar natürlich auch das, was der Engländer „Number Two“ nennt. Das geht meistens an den Aid Stations (wenn die Klos nicht gerade alle besetzt sind), manchmal muss aber auch Mutter Natur herhalten, was dann oft ein logistisches Problem darstellt. Ein schnelles Pinkeln am Wegrand sieht man ständig (von Männlein und Weiblein übrigens), für ein größeres Geschäft will man dann aber doch etwas mehr Ruhe. Aber eines ist klar: Toilettenpapier bei einem Ultra im Rucksack dabei zu haben ist ein absolutes Muss! Gerüchte, dass die toskanischen Winzer diese Läufe dazu benutzen, um ihre Weinberge zu düngen, sind bisher unbestätigt.

Die Landschaft erwies sich als härter als ursprünglich angenommen. Bei der Toskana denkt man an weiche Hügellandschaften, in der Realität dagegen erweisen sie sich als recht steinige und oft auch unwirtliche Landschaften, voller Dornen und widerspenstigem Gestrüpp. Manche Aufstiege waren geradezu trostlos, an verdorrtem Gesträuch und knorrigen Bäumen vorbei, dann gleich wieder in einen Downhill mündend. Überhaupt: das ständige Auf und Ab zehrte irgendwann an meinen strapazierten Muskeln – nie gab es Entspannung, entweder ging es steil aufwärts oder steil abwärts, die wenigen „geraden“ Meter konnte ich an einer Hand abzählen. Man merkte es allen an, dass sie sich zunehmend schwerer taten, und die Tritte wurden deutlich langsamer, manche begannen Downhill auch zu gehen, was kein gutes Zeichen ist. Inzwischen wurde es auch wieder dunkler, und meine ohnehin nie abgenommene Stirnlampe, die mir in der Zwischenzeit als Halterung für halb ausgelutschte Gels gedient hatte, kam wieder zum Einsatz.

Wieder einen Hügel hinauf, kurz durch ein kleines Dorf gelaufen, dann wieder abwärts einen Weinberg (was sonst) entlang. Plötzlich kam mir in der Dunkelheit ein Läufer entgegen, der mir rechthaberisch den Finger entgegenstreckte: „You are running in the wrong direction!“. Kurzer Schock und Blick auf meine Uhr mit Karte – war ich wirklich falsch unterwegs? Ich war doch gerade erst den Hügel hinaufgelaufen und lief ihn nun wieder herunter, hatte auch auf dem Weg lauter Wegmarkierungen gesehen, die mich zuverlässig leiteten. Ich checkte es drei- und vierfach – nein, ich war sicher, dass nicht ich, sondern er in die falsche Richtung unterwegs war. Leider glaubte er mir nicht. Mühsam schnaufend kämpfte er sich hinter mir den Berg hoch. Ich habe ihn in diesem Rennen nicht mehr gesehen, denn wie sich herausstellte, hatte ich tatsächlich Recht gehabt, schon nach wenigen Metern bestätigte mich eine weitere Wegmarkierung.

Ich befand mich nun in den letzten 10-15 Kilometern des Rennens, fühlte mich noch einigermaßen frisch und fähig, aber auch ein bisschen müde, ständig alle paar Minuten meine Uhr zu checken, in welche Phase meines Systems ich mich befinde. Da ich wusste, dass es nun ca. 2 ½ Stunden bei dem schwierigen Gelände dauern würde, bis ich zum Ziel kam, dachte ich mir einfach, dass ich es nun lassen könnte. Ich wollte einfach nur noch Laufen, keine Pause mehr einlegen und „nach Gefühl“ Essen und Trinken.

Das sollte sich als Fehler erweisen, denn natürlich trinkt und isst man „nach Gefühl“ an diesem Punkt eines Ultras so gut wie nichts mehr, da man voll und ganz damit beschäftigt ist, irgendwie noch in irgendeiner Art von Tempo voranzukommen, für das man sich bei einem Trainingslauf in Grund und Boden schämen würde. Eine 8:00 Pace (8 Minuten pro Kilometer) kriege ich frisch auch mit schnellem Gehen hin, nun fühlte es sich an wie ein schneller Sprint.

Dennoch, ich hatte definitiv noch Energiereserven, die geschätzt 8 ½ getrunkenen Liter und ca. 8000 Kalorien, die ich bis dahin zu mir genommen hatte, waren eine Basis, die noch ein wenig hielt. Schon von weitem sah ich Radda, und dennoch gelang es mir, mich noch einmal kurz vor dem Ziel zu verlaufen und die Route auf etwas unorthodoxem Weg zu variieren. Aber das machte nichts, nach 17 Stunden und 22 Minuten und 103 Kilometern wurde ich tatsächlich von dem irren barbäuchigen Italiener mit der Trommel im Ziel empfangen, dessen Leistung an diesem Tag mit der Leistung der Läufer absolut gleichzusetzen ist, denn er begrüßte jeden von uns mit einer eigenen Show.

Zuerst die Erlösung…

Ich war tatsächlich im Ziel, und es war gar nicht so kathartisch wie sonst. Tatsächlich hätte ich auch weiterlaufen können, aber das bildet man sich in solchen Momenten auch ein bisschen ein. Alecsa empfing mich fröhlich, wir machten ein Foto und begaben uns zu den Zelten mit Essen und Getränken. Inzwischen war es schon recht abendlich kühl geworden. Ich setzte mich in ein ungeheiztes Zelt mit einem Teller Nudeln, während Alecsa meinen aufgegebenen Beutel holte. Ich versuchte die Nudeln zu essen, aber es gelang nicht. Ich zitterte am ganzen Körper und mir wurde schwindelig, kurz dachte ich, dass ich ohnmächtig werden könnte. Ein paar benachbarte Läufer erkundigten sich, ob alles ok sei, und ich sagte „nein“, was leider der Wahrheit entsprach.

Um es kurz zu machen: ein Arzt wurde gerufen, mehrere Sanitäter tauchten auf, mit einem riesigen Tross wurde ich in einen Krankenwagen gebracht, wo ein gutaussehender junger italienischer Arzt mich auf Herz und Nieren prüfte und mir eine Nährlösung verabreichte, während eine weitere ebenso hübsche Assistenzärztin mir von ihrem Besuch in München erzählte. Eine ganze halbe Stunde dauerte die Prozedur. Mir ging es zwar schnell wieder besser, da es im Krankenwagen warm war und ich eine Decke bekam, aber die Organisatoren des Rennens tun natürlich gut daran, hier sehr genau hinzuschauen, denn so gesund ist Ultralaufen nicht immer.

…dann das unschöne Nachspiel

Die Lektion hieraus: Never give up the system. Noch Minuten vorm Ziel muss man an einem Riegel kauen, Trinken wie ein Elefant und direkt danach am besten auch, da der Körper sonst in eine Art Schock gerät, wenn die Maschinerie zum Stehen kommt. Man lernt nie aus, und diese Lektion werde ich auf jeden Fall das nächste Mal umsetzen.

Dennoch: ich war zufrieden. Ich war fast anderthalb Stunden schneller gewesen, als mir per Berechnung durch meine bisherigen Ultras prophezeit worden war, mit dem 19. Platz meiner Altersklasse (die voll von gestandenen und wesentlich erfahreneren Läufern war) konnte ich mehr als glücklich sein. Und es war zumindest während des Rennens besser gelaufen als bei jedem meiner vorherigen Rennen, ohne größere Einbrüche, auch das ein Riesenfortschritt.

Bleibt mir nur noch von der Rückreise zu erzählen. Google Maps und die italienische Bus-App verhießen wenig Gutes. Anscheinend fielen alle Busse in der ersten Tageshälfte aus wegen „Problemen auf der Strecke“. Ich heizte also mit Alecsa am Steuer über vollkommen problemlose und leere italienische Landstraßen, auf dem Weg nach Pisa, wo sie ihren Coach Tim absetzen wollte, Auf halber Strecke zu Florenz setzten sie mich in einem kleinen Kaff ab, denn von dort sah es so aus, dass man mit angeblich viermal Umsteigen irgendwie nach Florenz kommen könnte.

Mit google maps suchte ich nach der richtigen Bushaltestelle. Ich wurde den verrücktesten Weg entlanggeführt, kein Kartendetail stimmte mit der Realität auch nur im Entferntesten überein. Irgendwann befand ich mich auf einer nicht unbeträchtlichen Anhöhe, wo sich die Busstation angeblich befinden sollte, aber stattdessen starrte ich nur auf das Dach eines Parkhauses. Verzweifelt entschied ich, mich einfach zur Landstraße zu begeben und an das erstbeste Häusel zu stellen, das auch nur ein ganz klein bisschen nach Bushaltestelle aussah.

Was soll ich sagen: innerhalb von Minuten kam ein Bus mit einer weder in der App noch in google maps gelisteten Nummer, der mich in kürzester Zeit und ohne ein einziges Mal Umsteigen direkt ins Zentrum von Florenz brachte.

Was lernen wir daraus?

In Italien reist man am besten mit dem Herzen.

 

Moritz Eggert

Liste(n) auswählen:
Unsere Newsletter informieren Sie über Neuigkeiten im Badblog Of Musick. Informationen zum Anmeldeverfahren, Versanddienstleister, statistischer Auswertung und Widerruf finden Sie in unserer Datenschutzbestimmungen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert