Nachruf auf den Philosophen Günter Figal

Am 17. Januar 2024 ist der Philosoph Günter Figal im Alter von 74 Jahren verstorben.

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Ich hatte noch vor drei Tagen an ihn gedacht. Nein, ehrlich: Ich habe häufig an ihn gedacht. Denn er war ein beeindruckender Mann, ein beeindruckender Philosoph. Von 2001 bis 2003 habe ich bei ihm Philosophie studiert. An der Universität Freiburg. Und häufig habe ich ihn zitiert; meist sinngemäß, denn trotz aller Kühle und Strenge, die er mitunter ausstrahlen konnte, war er ein ganz praktischer Philosoph – im wahrsten Sinne des Wortes. Ein lebenspraktischer Philosoph. Ein Philosoph mit großer Disziplin, dessen Sätze einem im – auch mal ganz undisziplinierten – Alltag wirklich helfen konnten. Ihm habe ich zu verdanken, verstanden zu haben, was Philosophieren bedeuten kann: Ein guter Philosoph kann über alles sprechen. Denn ein guter Philosoph versucht, Genauigkeit walten zu lassen, versucht, dort nicht zu pfuschen, wo er keine Ahnung hat; aber er versucht, seinen Eindruck zu umreißen; und zwar aufrichtig, knapp, aber ausführlich genug, um verstanden zu werden.

In einem Seminar sprach er mal über Tennis. Und beschrieb, wie der Tennissport der Männer bis dato (es war 2002) doch sehr von den „Aufschlagsriesen“ – Goran Ivanisevic und Co. – dominiert wurde. Dominiert in einem Sinne, der dem Sport den Fluß nahm. Damit wollte Figal sich nicht plump ranschmeißerisch als Sport-Fan outen, sondern wohl nur zeigen, wie ernst man die Dinge erst einmal nehmen muss im Zuge des Beschreibens, des genauen Hinschauens. Er schilderte en détail, was den Sport ausmachen konnte – und wie durch das Serve-and-Volley-Spiel in der Nachfolge von Boris Becker, Stefan Edberg und anderen die Attraktivität von Tennis leidlich gemindert worden war.

Seitdem versuche ich, beim Beschreiben, beim „Philosophieren“ über Alltagsphänomene genauer zu sein, um den Kern von Eindrücken wirklich meinem Gegenüber vermitteln zu können.

Erst vor ein paar Wochen habe ich ein Projekt abgeschlossen: Ich habe alle meine Notizen und Unterlagen aller Seminare und Vorlesungen, die ich je besucht habe (es waren dann doch einige …), eingescannt und verschlagwortet. Und deshalb konnte ich eben, beim Entdecken der Todesnachricht bezüglich des betrüblichen Ablebens von Günter Figal, meine Unterlagen zu seinen Seminaren sofort wiederfinden.

Mich umfangen in diesem Moment sehr eigenartige Gedanken und Gefühle. Denn neulich sagte ich zu mir fast laut: Schreibe dem Günter Figal doch mal einen Brief und bedanke dich. (Ich habe mich immer mal wieder viele Jahre später bei wichtigen Lehrerinnen und Lehrern bedankt. Hatte ich es nicht rechtzeitig getan, waren diese gestorben.) Und jetzt ist er tot – und mir steht keinerlei Selbstmitleid diesbezüglich zu. Das Seminar „Wahrheit und Methode“ (siehe den Notizausschnitt) fand genau im Nebengebäude des Hauses statt, in dem ich damals lebte. Okay, vielleicht war ein Gebäude dazwischen, aber es waren wirklich wenige Meter, um von meiner Wohngemeinschaft zum Seminarraum in der Freiburger Sedanstraße zum Figal-Seminar zu kommen.

Und auch dorte lernte ich viel. Über Gadamer. Als Hans-Georg Gadamer 2002 im Alter von 102 Jahren starb, war Günter Figal bei wichtigen Sendern anlässlich des Todes von Gadamer zugeschaltet (und hörbar bewegt). Bis heute bewegen mich die Gedanken Gadamers zum Spielen, zur spielerischen Tätigkeit des Menschen.

Und begeistert habe ich später das hervorragende Nietzsche-Buch von Günter Figal (bei Reclam erschienen; also wirklich in dieser für uns damals jungen Leute immer bezahlbaren Reihe mit diesen charakteristisch schmutzig-gelben Einbänden) gelesen. Und dessen Dissertation über das Naturschöne bei Adorno auch. Auch davon habe ich Notizen eingescannt. Erst neulich. Wie gesagt.

Meine Philosophie-Zwischenprüfung habe ich bei Figal gemacht. Ich hatte „Die Bestimmung der Kunst bei Adorno“ als Thema gewählt. Und ich war sehr überrascht, als Figal in den Prüfungsraum im Hauptgebäude der Universität Freiburg hereinkam und sagte, ich könne jetzt beginnen. Dabei hatte ich überhaupt keine Art von Aufgabenstellung oder Ähnlichem erhalten. Ich weiß nicht mehr, ob ich mich getraut habe, bei ihm nachzufragen. Ich glaube, er war ein sehr fleißiger Mensch, mit vielen Gedanken im Kopf. Ich glaube, ich hatte vor niemanden in meinem Leben so viel Respekt wie vor ihm. Das meine ich ernst.

Also schrieb ich (mag aber auch sein, dass ich dann doch doch nachgefragt hatte …) einfach drauf los. Meine freien Gedanken zu „Adorno und die Kunst“. Nun ja.

Vielleicht hatte ich auch ein wenig Angst vor Günter Figal. Einmal kam jemand zu spät zu einer seiner Vorlesungen. Er unterbrach seinen Vortrag und sezierte den Zu-spät-Gekommenen, tötete ihn mit einem Betäubungsmittel vorher ab und entfernte dann Hautschicht für Hautschicht mit Spezialistengerät von der Leiche; bis er schließlich zu den inneren Organen vorstieß.

Das passierte freilich nicht. Aber Figal sezierte den Zu-spät-Kommer rhetorisch. Er machte einfach deutlich, inwiefern es andere und ihn selbst stört, wenn mitten im Satz die rechts von ihm positionierte Saaltür aufgeht. Mit einer erschreckenden Kaltheit. Diese Kühle … sie hat mich einfach beeindruckt. Und, wie gesagt, auch ein wenig verängstigt.

Ich hoffe, Günter Figal hatte keine Angst vor seinem eigenen Tod. Ich hoffe, er ist mit einem Lächeln gegangen. Danke, Günter Figal.

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Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.

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