Kultur gibt immer noch
Kultur gibt immer noch
Heute – am 4.11. – findet der zweite Aktionstag der „Initiative für die Kultur in Deutschland“ statt.
Muss man tatsächlich etwas für Kultur tun in Deutschland? Geht es uns nicht wahnsinnig gut im Vergleich zu anderen Ländern? Sind wir nicht eher satt und gelangweilt? Wen interessiert das eigentlich alles noch, z.B. in einer „Zwei-Klassik“-Gesellschaft? Oder – um einen Kommentar hier im Blog zu paraphrasieren: „was soll das“?
Zuerst einmal: dass Kultur nichts Besonderes „soll“ und ihr Wert nicht wie ein Geschäftsmodell evaluiert werden kann, ist genau das, was Kultur auszeichnet. Wenn man sich so anschaut, was die Menschheit so alles für „sinnvoll“ erachtet – zum Beispiel Kriege im Namen von Religionen oder Weltanschauungen zu führen oder Völkermord zu betreiben – dann kann man eigentlich ziemlich froh sein, dass wir in einer enormen zivilisatorischen Leistung einen wilden Raum der Kreativität geschaffen haben, in dem anders als in der Realität absolut alles möglich ist, ohne dass irgendjemand zu Schaden kommt. Und wo es nicht darum geht, was „sinnvoll“ ist oder nicht, sondern allein darum, unendliche Möglichkeiten der Fantasie zu eruieren.
Kultur entsteht aus dem elementaren menschlichen Bedürfnis nach Spiel und Betätigung. Kultur schafft ihre eigenen Regeln. Heute halten wir ein Konzert, einen Theaterabend oder einen Kinobesuch für etwas Selbstverständliches, der historische Weg zu diesen Kunstformen ist aber immens und basiert auf zahlreichen Vereinbarungen, die wir schon lange nicht mehr hinterfragen, weil sie das Resultat von tausenden von Jahren erlebter Kulturgeschichte sind. Und erst mit dieser Kulturgeschichte beginnt überhaupt unsere menschliche Erinnerung: Wir verstehen die Menschheitsgeschichte erst ab dem Moment, als unsere Vorfahren Höhlenbilder und Knochenflöten hinterließen. Alles davor können wir uns nicht vorstellen, es bleibt im Nebel der Evolution. Weil es noch keine Kultur gab.
Heute verstehen zum Beispiel alle, dass die Schauspieler:innen ihre Rollen nur „spielen“ (ein Detail, dass Kinder zum Beispiel erst erlernen müssen) und wir verstehen auch, dass der Mord im Film gar nicht wirklich passiert oder die Mondlandung in „2001“ nur ein Spezialeffekt ist. Dennoch lassen wir uns auf diese „künstlichen“ Geschichten ein und verstehen sie als Spiegelbild unserer Wirklichkeit, selbst wenn die Wirklichkeit auf der Bühne oder im Film eine ganz andere ist als die unsere. Mit diesen Geschichten versetzen wir uns in andere hinein, erlernen wichtige Fähigkeiten wie Empathie und Mitgefühl, lernen, mit unseren Ängsten umzugehen. Die Fähigkeit des „Schauspielens“ erlernten unsere Vorfahren über tausende von Jahren und dennoch ist es von Sophokles zu Thomas Bernhard ein unendlich weiter Weg, der schon unendlich viele Variationen dieser Idee erforscht hat.
Oder wir genießen ein Konzert mit Musik, einer Kunstform, in der nichts anderes passiert, als dass Schallwellen unser Trommelfell treffen und in unserem Gehirn Assoziationen und Gefühle auslösen, die uns eine Art von Geschichte erzählen, die nicht in Worte gefasst werden kann. Oder uns zum Tanzen bringt. Oder wir lesen ein Buch, das in unserem Kopf Bilder entstehen lässt, die allein durch die Aneinanderreihung von abstrakten Konzepten wie Grammatik und Wörter entstehen.
Das alles hat keinen konkreten „Sinn“, kann uns aber auf eine Weise berühren, bilden und verändern, wie nichts anderes. Kultur gibt uns Hoffnung, wo es keine Hoffnung mehr gibt, und sie tröstet uns, wenn uns nichts mehr trösten kann. Umgekehrt kann sie uns jederzeit aus unserer Komfort-Zone herausreißen, wenn wir es uns zu bequem gemacht haben. Sie kann uns aufwühlen, schockieren und provozieren, allein mit der Macht von Worten, Bildern und Tönen.
Es ist daher kein Wunder, dass Diktaturen, Populisten und orthodoxe Religionen Kultur fürchten. Da Kultur nicht nur gibt, sondern eben auch bildet, kann sie jederzeit die Macht derjenigen gefährden, die von der Unwissenheit oder der Verführung der Massen profitieren. Es ist daher nicht überraschend, dass diese Systeme alles tun, um Kultur streng zu kontrollieren oder zu limitieren. Man hüte sich vor allen, die eine „repräsentative“ Kunst fordern und jede andere Kunst verbieten wollen. Man hüte sich vor allen, die am liebsten Kultur durch eine einheitliche Weltsicht ersetzen wollen, sei es durch eine Religion oder den Glauben an die Überlegenheit des eigenen „Vaterlandes“. Ob sie Bücher verbrennen, Kunstwerke zerstören, Frauen den Zugang zu Bildung verschließen oder Jugendliche bei einem Musikfestival massakrieren macht dabei keinerlei Unterschied – die Absicht dahinter ist immer exakt gleich.
Da Kultur keine Grenzen kennt ist alles, was künstliche Grenzen errichtet, ihr Feind. Rassismus zerstört Kultur. Vorurteile zerstören Kultur. Ausgrenzung und Unterdrückung zerstören Kultur. Aber gleichzeitig ist Kultur die beste Waffe gegen das, was sie bedroht. Denn überall dort, wo alle Möglichkeiten der Entfaltung reduziert wurden, ist Kultur das Einzige, was noch Möglichkeiten aufzeigen kann.
Ja, wir leben im Vergleich noch in einem glücklichen Land, in einer glücklichen Region. Aber auch in Europa muss immer wieder an den Wert von Kultur erinnert werden, daran, dass sie frei und unabhängig sein muss, frei von staatlicher Kontrolle, dennoch auch staatlich gefördert (denn wenn eine Demokratie sich ihren Namen verdienen will, muss sie Kultur und Bildung für alle Bürger:innen ermöglichen). Kultur ist ein Menschenrecht. Kultur muss für alle Menschen zugänglich sein, egal welche Herkunft, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung sie haben.
All dies zu erhalten ist eine Aufgabe, die wir uns immer wieder bewusst machen müssen.
Daher unterstütze auch ich diesen Aktionstag, der uns genau daran erinnert.
Moritz Eggert
Trotzdem und gerade: Zeichen setzen für Kultur
Der bundesweite #kulturgibt – Aktionstag2023 findet am 4. November
2023 statt.
Was haben Museumsmitarbeiter:innen, Tänzer:innen, Box-Clubs, Staatstheater,
Programmkinos und Sportstätten deutschlandweit gemeinsam? Sie alle werden am 4.
November 2023 ein Zeichen für Kultur setzen.
Gegründet unter dem Eindruck drohender Kürzungen von Kulturetats, setzt sich die „Initiative
für die Kultur in Deutschland e. V.“ jenseits der Unterscheidung von U und E, Laien und
Professionellen, für die Kultur als zivilgesellschaftlichen Verständigungsraum für alle ein und
initiiert den zweiten #kulturgibt – Aktionstag2023.
„Gerade in Zeiten erheblicher Gefährdungen ist Kultur von größter Bedeutung, denn ohne sie
gibt es nicht nur keine unabhängige Kunst, sondern auch keine Diversität und letztlich kein
demokratisches Gemeinwesen.“ sagt Dr. Christian Esch, Vorsitzender des Vereins und
Direktor des NRW KULTURsekretariats über das Anliegen der Initiative für die Kultur.
Der #kulturgibt – Aktionstag 2023“ am 4.11.2023 (bundesweit) ist eine dezentrale Aktion auf
der Grundlage einer Kampagne. Getreu dem Motto „kultur gibt“ stellt die Initiative den
Partnerstädten und lokalen Kulturakteur:innen Aktions-T-Shirts, Logos und digitale
Materialien kostenfrei zur Verfügung.
Über 7,5 Millionen Menschen wurden mit dem ersten #kulturgibt – Aktionstag2022 erreicht.
In diesem Jahr sollen noch mehr Menschen zeigen, was Kultur ihnen ganz persönlich gibt.
Noch bis zum 25. Oktober 2023 können kostenfrei T-Shirts mit den Motiven „Gemeinschaft“,
„Games und Goethe“ oder „Identität und Irritation“ bestellt werden.
Alle Informationen sind auf der Homepage der Initiative für Kultur zu finden.
www.kulturgibt.de
Komponist
Sehr schöner und unterschreibenswerter Text, lieber Moritz. Ich bin etwas kulturpessimistischer geworden.
„Heute verstehen zum Beispiel alle, dass die Schauspieler:innen ihre Rollen nur „spielen““
Es gibt ja durchaus eine Geschichte, auch schon in den 70ern, da wurden Schauspieler, die Bösewichter spielten, im Alltag angefeindet. Ich meine mich zu erinnern, das Peter Lorre z.B. nach seiner Rolle in M dahin gehend Probleme hatte. Und auch fiesen „Mördern“ im Tatort passierte das schon mal. So selbstverständlic ist das nicht.
Und in Hollywood gibt es ja große Diskussionen, welcher Schauspieler eigentlich welche Rolle noch spielen darf, ohne, das es als Diskriminierung bezeichnet wird. Was ja der Idee des Schauspiels ja eigentlich widerspricht.
Und auch die Diskussionen zur „kulturellen Aneignung“ schlägt ja in die gleiche Kerbe. Welcher Künstler „darf“ denn was eigentlich? Kultur darf eben nicht mehr wild sein, provokativ, fragend, spiegelnd, Kontextgetrieben. Sie hat Staatsräson zu folgen, soll sich einer art vorauseilender Selbstzensur unterwerfen, um nur ja niemandem Gefühle auch nur ansatzweise zu verletzen …
Die Umstände um die letzte Dokumenta und diverser CancelCulture-Vorgänge in den letzten Jahren haben mich pessimistisch werden lassen, wie es um die Kunstfreiheit hierzulande steht. Denn ohne Freiheit, ohne Freiräume, ohne Wildheit und Stille, ohne Absonderlichkeit, Irritation … keine Kunst.
Ich sehe die Kultur in ihrer Freiheit stark bedroht – bizarrerweise in einer Zeit, in der die Freiheit der Kunst wie eine Monstranz der eigenen kulturellen Überlegenheit überall gerne ins Schaufenster gestellt wird.
Naja, da könnte man lange drüber schreiben und reden.
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