Was ist Musikvermittlung? – Teil 3
Die Blitze und Donner hatten in dem Höhlenstamm die Vorstellung ausgelöst, eine höhere Macht habe ihrem Zorn Luft gemacht. Da sei etwas kulminiert. Etwas, was mit den Taten der Männer des Höhlenstammes zu tun hatte. Denn vor ein paar Wochen, zwei Tage vor dem Donner und den grellen Blitzen, hatten ein paar Männer des Stammes eine wilde Katze einfach so aus Freude an der barbarischen Gier, ein Lebewesen in Angst und Blut zu sehen, zu Tode gehetzt. Die Rache folgte auf den Fuß – in Form von lärmenden Schauern, Himmelsfeuerzacken und Schlägen, die aus den Wolken kamen. „So etwas machen wir nicht mehr!“ hatte einer der Katzenfolterer gesagt.
Und jetzt das. Uwe 1 spricht die Sprache der Vögel. Mittels eines Knochens, der so „neu“ für die anderen ja nicht ist. Fast jeden Tag sehen sie hier Knochen. Reste, frische Knochen – oder solche, die zu Werkzeugen umfunktioniert wurden. Aber nie hat jemand mittels eines Knochens Klänge erzeugt. Bis jetzt.
Uwe wartet ab. Es soll erst Abend werden. Er macht sich spät in der Nacht noch einmal auf in Richtung Flussufer. Die Flöte hatte er nicht aus den Augen gelassen, sondern immer mit sich geführt. Abseits der Höhle nimmt er das Knocheninstrument und bläst voller Angst – aber auch mit einem neuen Gefühl, das ihn umgibt – hinein. Der Klang ist noch einmal heller, lauter, voller geworden. Uwe möchte am liebsten gleich noch einmal pfeifen. Doch gleich der erste Klang war so gut, so rund, so perfekt. Er weiß selbst nicht so genau, warum: Aber er lässt es bleiben und schleicht sich zurück zur Höhle. Legt sich schlafen. Doch schlafen kann er nicht. Sein Herz puckert; aber voller Wohligkeit und Wärme. Er weiß: Er ist Gott.
Zwei Wochen später – Uwe hat nichts von der Art der Flöte, von der Spielweise erzählt; niemandem! – ist Uwe zum Stammeshäuptling aufgestiegen. Er hatte gemeint, dass er mittels eines „Teils von Gott“ mit der Natur reden könne. Und zwar mittels seiner bloßen (stark beharrten) Hände. Bald huldigt man ihm als jemand, der Zeichen deutet, das Wetter, die Wolken, die Winde. Alles wird gedeutet. Und kommentiert. Oft mit Klängen seiner Knochenflöte, die er als zweites Glied schützt wie das erste.
Zwei Jahre später: Uwe ist ein bedeutender Schamane geworden, der niemandem je von der Art der Vogelimitation mittels Knocheninstrument etwas sagte. Kein Sterbens-, kein Lebenswörtchen. Er wird religiös verehrt; deutet, bewertet, verurteilt; er preist das Auftauchen von Tieren (egal ob zum Fressen oder nur zur ästhetischen Anschauung) als Mahnung oder als sonniges „Zeichen von oben“; die Frauen seines Stammes interessieren sich immer noch nicht für ihn. Denn sie sind schlauer als alle Männer. Weiser. Schöner. Seine Flöte nimmt Uwe drei Jahre später mit ins Grab. Er ist 37 Jahre alt geworden. Steinalt. Steinzeitalt.
Doch schauen wir auf „Uwe 2“. Er pfeift als „Uwe“ durch die Knochenflöte. Doch aus ihm wird „Uwe 2“. Im entscheidenden Akt einer komplett anderen Menschheitsgeschichtsweggabelung …
[Fortsetzung folgt.]
Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.