Die Wahrheit über Cancel Culture

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Die Wahrheit über Cancel Culture

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Viel diskutiert war in den vergangenen Wochen der Fall der Musikerin Ronja Maltzahn, die aufgrund ihrer Dreadlocks und mit dem Vorwurf der „kulturellen Aneignung“ von einer Veranstaltung von Fridays for Future ausgeladen wurde.

Natürlich ist die Geschichte in ihrer Plakativität ein gefundenes Fressen für diejenigen, die ohnehin schon gegen die neue „Cancel Culture“ wettern. Diese nette junge Musikerin, die keiner Fliege etwas zuleide tut und sich für Minderheiten einsetzt, soll jetzt plötzlich dafür büßen, dass sie Dreadlocks schick findet? Unerhört! Und was ist überhaupt „kulturelle Aneignung“? Ist nicht quasi alles, was unsere Kultur ausmacht, irgendwann einmal „angeeignet“ worden? Dürfen jetzt weiße Musiker etwa keinen Blues mehr spielen, weil sie niemals auf einem Baumwollfeld als Sklave gearbeitet haben? Und was ist überhaupt mit Jazz? Darf Till Brönner nicht mehr spielen? Und haben die alten Römer sich nicht so gut wie alles kulturell „angeeignet“, haben sie nicht begierig Gottheiten, Bräuche und Eigenarten der eroberten Völker in ihre eigene Kultur integriert und damit dafür gesorgt, dass es heute so etwas wie eine „europäische“ Kultur gibt?

Ja, all diese Einwände sind berechtigt. Man kann leicht tausende Beispiele für kulturelle Aneignungen finden, bei denen sich nie jemand beschwert hat (oder nicht konnte, weil man nicht gefragt wurde). Tattoos, Nudeln, Kartoffelgerichte? Alles kulturelle Aneignungen mit komplexer Herkunftsgeschichte. Redet man bei jeder Pommes über das Blut der von spanischen Eroberern geknechteten indigenen Andenvölker? Eher nicht.

Denn diejenigen, die sich darüber hätten aufregen können, haben keine Stimme mehr. Oder die kulturelle Aneignung ist so lange her, dass sich niemand mehr darüber aufregt. Und so wird es auch irgendwann mit Dreadlocks sein – in nicht allzu ferner Zukunft werden sie vermutlich niemand mehr stören.

Aber es geht um das Jetzt, und um diejenigen, die jetzt das Tragen von Dreadlocks durch Weiße kritisieren. Diesen Kritikern ist die Existenz und Gebräuchlichkeit von kultureller Aneignung absolut bewusst, man muss es ihnen nicht erklären, denn ansonsten redet man in der Diskussion aneinander vorbei. Es geht ihnen um etwas ganz Anderes: um Achtsamkeit gegenüber lebenden Personen, die sich durch Ronja Maltzahns Haare beleidigt fühlen könnten.

Die Leute von „Fridays for Future” wissen ganz genau, dass sich die Mehrheit der Menschen nicht im Geringsten an Ronjas Haaren stört. Es geht ihnen um den Respekt   gegenüber denjenigen – egal wie vielen – die es stören könnte.

In den letzten Jahrzehnten haben wir eine bisher noch nie dagewesene Entwicklung erlebt, in der vormalig als Minderheiten ignorierte Teile der Bevölkerung erfolgreich die Stimme erheben. Das hat viele positive Effekte auf die Gesellschaft gehabt – es gibt inzwischen eine weithin anerkannte gesellschaftliche Ächtung, wenn zum Beispiel Homosexuelle oder Transmenschen diskriminiert werden. Gleichberechtigung ist ein viel größeres Thema als noch vor wenigen Jahrzehnten. In Sprache und Verhalten wird zunehmend darauf geachtet, alle Menschen zu respektieren, auch wenn sie keiner Durchschnittsnorm entsprechen. Menschen mit körperlichen Behinderungen stellen nicht die Mehrheit dar, dennoch bemüht man sich, ihnen das Leben zu erleichtern und ihre Bewegungsfreiheit zu vergrößern, all dies war früher nicht selbstverständlich. Die junge Generation hat viele dieser Prinzipien schon auf eine Weise verinnerlicht, die den älteren unheimlich ist, viele fühlen sich fremd und zurückgelassen in einer sich schnell ändernden Welt und tendieren zu reaktionären Positionen. Andere freuen sich wiederum daran, dass sie z.B. ihre Homosexualität auf eine Weise ausleben dürfen, die in den 50er Jahren unvorstellbar gewesen wäre.

Auch wenn einen einige dieser Entwicklungen überfordern, die Uhr will man ganz gewiss nicht zurückdrehen. Denn inzwischen haben viele Menschen erkannt, dass man auch als durchschnittlicher   „Norm“-Mensch in irgendeinem Lebensaspekt eine Minderheit sein kann, zum Beispiel wenn es um Gluten-Unverträglichkeit oder Nussallergien geht. Früher war ein Kantinenessen eine einfache Sache – Würstchen und Kartoffelbrei, fertig war das Menü. Heute muss man auf verschiedenste Lebensmittelunverträglichkeiten und Sonderwünsche wie vegan oder vegetarisch eingehen, um die sich früher niemand kümmerte.

Rücksichtnahme an sich kann nichts Negatives sein. Rücksichtnahme ist höflich, erleichtert uns das Leben und glättet gesellschaftliche Gräben, die zu Konflikten führen könnten. Wie weit diese Rücksichtnahme geht, ist aber ein demokratischer Prozess, der gesellschaftlich verhandelt werden muss. Und dies geschieht immer wieder an beispielhaften Fällen wie den von Ronja Maltzahn. So anstrengend es vielleicht ist – es ist im Grunde richtig, dass man darüber diskutiert, ob Ronja Maltzahns Dreadlocks stören oder nicht. Denn diese Diskussion ist in Wirklichkeit ein „Auschecken“ wie weit Rücksichtnahme gehen soll, ob sie vielleicht über das Ziel hinausschießt. Am Ende wird eine demokratische Entscheidung stehen – wenn mehr Menschen dem Canceln von Dreadlocks ratlos gegenüberstehen als andersrum, wird sich das Canceln von Dreadlocks nicht durchsetzen. Diejenigen, die ständig die Gefahr einer furchtbaren „cancel culture“ heraufbeschwören vergessen, dass es auch an ihrer Stimme liegt, diese zu verhindern. Es ist kein Prozess, dem man ohnmächtig ausgeliefert ist, man kann daran teilnehmen mit guten Argumenten.

Eine wichtige Rolle in dieser Diskussion spielen die tatsächlich Betroffenen, nämlich diejenigen, die sich durch Ronja Maltzahn potenziell provoziert finden könnten. Sehr oft wird diesen nämlich ein Unbehagen aufgezwungen, dass diese gar nicht empfinden (wie viele eher gelassene Posts von authentischen Dreadlockträgern anlässlich des Falls beweisen). Denn auch eine von einer Nicht-Minderheit behauptete Aufregung über die „kulturelle Vereinnahmung“ einer Minderheit ist ebenfalls eine kulturelle Vereinnahmung, denn man unterstellt den angeblich Vereinnahmten dann, dass sie selbst nicht in der Lage sind, ihre Stimme zu erheben und macht sie schwächer, als sie eigentlich sind.

Wie auch immer, die Diskussion ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Die rassistische Darstellung eines Japaners durch Mickey Rooney in „Breakfast at Tiffany’s“ kann man heute kaum noch ertragen und sie wäre heute – gottseidank – unvorstellbar. Umgekehrt rühren aber manche Aktionen gegen vermeintliches „Blackfacing“ im heutigen Theater an die Grundfesten von dem, was Theater eigentlich ausmacht: nämlich, dass in einem wilden Raum der Fantasie im Grunde Alle alles sein können – Schwarze können Weiße sein (und umgekehrt), Männer können Frauen sein (und umgekehrt) und um einen Mörder spielen zu können, muss man nicht notwendigerweise in der Wirklichkeit einen Mord begangen haben.

Es geht auch um die Absicht, die hinter einer kulturellen Aneignung steht. Karl May bediente sich als Autor vollkommen frei und eher unbeholfen aus angelesenem Halbwissen über indigene nordamerikanische Kulturen. Anthropologisch gesehen sind die geschilderten Bräuche von „Winnetou“ und seinem Stamm absurder Blödsinn und könnten sehr wohl als respektlos empfunden werden aus heutiger Sicht. Was aber neu war: May war einer der ersten Autoren, der sich die Perspektive der Verfolgten und der Unterdrückten zu eigen machte. Dieser Perspektivwechsel in der Populärkultur hatte sicher einen Anteil an einem wachsenden Respekt gegenüber der Bewahrung von indigenen Kulturen im 20. Jahrhundert. Oder anders gesagt: eine gewisse Peinlichkeit der Darstellung Mays (die, wie man weiß, nicht aus bösem Willen, sondern aus schlichter Unkenntnis so ist wie sie ist) wird aufgewogen durch eine grundsätzlich eher humanistische und positive Haltung, die sich der vorherrschenden und eher bösartigen Darstellung von „primitiven Wilden“ in seiner Zeit erfolgreich widersetzte und diese unterminierte.

Ebenso der jüngst diskutierte Fall der Verwendung des Wortes „Negerkönig“ bei Pippi Langstrumpf: Wer Astrid Lindgren wirklich genau liest und ihre pädagogische Absicht versteht, kann in keinem ihrer Bücher auch nur ansatzweise Hass und Rassismus finden – zu modern, zutiefst antiautoritär und frech ist Pippi als Kinderbuchfigur.

Wir werden noch viele solcher Diskussionen erleben. Und anstatt aneinander vorbeizureden, sollten wir dezidierter danach fragen, was die Absicht hinter einer „kulturellen Aneignung“ ist. Und ich denke man kann ziemlich sicher davon ausgehen, dass Ronja Maltzahn ihre Dreadlocks mit Liebe und Respekt vor der Kultur trägt, aus der sie kommen. Und das sollte viel mehr Thema sein in diesen Diskussionen als der Akt an sich. Denn Liebe ist wesentlich stärker als manche zu gut gemeinte Argumentation.

 

Moritz Eggert

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2 Antworten

  1. Jan Eustergerling sagt:

    Nur ist „Cancel Culture“ ja nicht neu, das ist ein Trend, der hier seit ein paar Jahren einsetzt und in den USA schon länger dazu führt, das Kultur verschwindet oder nicht mehr gezeigt wird, das Werke umgeschrieben werden, Bilder aus Museen verschwinden, Geschichten nicht mehr erzählt werden.
    Das Ganze ist bitter. Genau so wie die Idee, das man alles lassen solle, was vielleicht jemanden stören könnte. Künstlerische Entwicklung an sich basiert auf Störung und Verstörung.
    In der Doktrin hätte ein Christoph Schlingensief kein einziges Projekt machen können, wäre die Musik nicht über den Barock hinaus gekommen, denn die Verwendung des „Teufelsintervalls“ hat ja nachhaltig viele verstört.
    Die letzten, die in Deutschland übrigens aktiv Cancel Culture betrieben haben, waren die Nazis. Die Sprache sollte „arisiert“ werden, alles „unreinen“ jüdischen Begriffe mussten weichen. Und Kunst hatte germanisch zu sein und alles andere wurde als „entartet“ deklariert. Man wollte ja den teutonischen Geist schützen und stärken.
    Wir leben in engen Zeiten, nicht in sonderlich aufgeklärten.

  2. k. sagt:

    Hochachtung und Danke für den differenzierten Artikel!

    M.E. werden Phrasen wie „Cancel Culture“ und „kulturelle Aneignung“ nur in bestimmten Situationen verwendet und somit schon von vornerein mit einer Wertung verbunden. Z.B. wird nicht etwa von „Cancel Culture“ geredet, wenn ein Filmproduzent eine Schauspielerin feuert, weil sie nicht mit ihm ins Bett wollte – wohl aber, wenn ein Kino diesen Film dann nicht zeigen will.
    California Rolls werden nicht als „kulturelle Aneignung“ bezeichnet, auch wenn Japaner die Pseudo Sushi Variante merkwürdig finden, und chinesische Zeichen als Tattoo werden nicht als „kulturelle Aneignung“ gesehen, auch wenn Chinesen sich wundern, ob der Träger die Bedeutung des jeweiligen Zeichens wirklich kennt. Wiederum wird man es nicht „kulturelle Aneignung“ nennen, wenn Asiaten 9. Beethoven singen – auch wenn man früher tatsächlich sagte, dass nur Europäer richtig Beethoven spielen können würden.

    Die Schwierigkeiten liegen woanders.

    Z.B. ist Blackfacing auf einer Demo in Berlin für mehr Frauenrechte und Frauenemanzipation ein Problem, wenn weiße Demonstrantinnen sich schwarz schminken oder sich verschleiern – das mag gut meint sein, wirkt oder ist aber überheblich und entwürdigt die Betroffenen, in diesem Fall Schwarzafrikanerinnen und Kopftuch tragende muslimischen Frauen. Da ist die berechtigte Kritik, warum man nicht die Afrikanerinnen, muslimische Frauen usw. nicht den Raum gibt, selber für sich zu sprechen, anstatt so zu tun, als würde man für sie sprechen. Bei der Musikerin mit dem Dreadlock auf der Friday for Future Demo ist die Situation eine andere.

    Auch im Theater ist die Situation anders. Hier geht es eigentlich um ein anderes Problemfeld, nämlich dass es z.B. für körperlich behinderte, farbige, blinde oder gehörlose Schauspieler tatsächlich noch zu wenige Betätigungsmöglichkeiten gibt. Grundsätzlich ist es ja zu begrüßen, wenn z.B. eine sehende Schauspielerin eine blinde Frau verkörpert und sich mit dem Thema beschäftigt, um die Rolle authentisch darstellen zu können. Dadurch wächst diese Schauspielerin selbst, auch kann sie die Rolle möglicherweise für das Publikum sogar überzeugender darstellen, eben weil sie diesen Lernprozess als Nicht-Blinde selber durchgelaufen ist. Nur ist es auf der anderen Seite so, dass wenn es schon wenige Rollen für eine blinde Schauspielerin gibt, ob sie auch noch diese Rolle, die sie spielen könnte, abgeben muss. Das Gleiche gilt auch z.B. für schwarze Schauspieler. Wenn sie zu selten für weiße Rollen eingesetzt werden, sollen sie auch noch schwarze Rollen abgeben? Daher kommt eigentlich der Vorwurf der „kulturellen Aneignung“. Früher hatte man dieses Problem nicht, weil farbige, blinde usw. Schauspieler erst gar nicht auf der Bühne standen, bis auf paar Ausnahmen, und weil auch das Repertoire enger war. Momentan haben wir eine Übergangsphase.

    In Grundschulen ist es Usus, dass auch Mädchenrollen von Jungen, auch Jungsrollen von Mädchen gespielt werden. Auf professionellen Bühnen macht man das natürlich nicht (es sei denn, das ist ein aktivistisches Theater), und da geht es drum, künstlerische Ansprüche und Existenzfragen unter einen Hut zu bringen.

    Persönlich finde ich es grundsätzlich schwierig, wenn eine Debatte in die Richtung geht „das macht man nicht, weil … (kulturelle Aneignung, Cancel Culture o.ä.)“, das wird schnell zu ideologisch, weil man nur Wörter in den Raum wirft und man nur um Wörter streitet.