„Du spielst wie Müll“ Gastbeitrag des „Harfenduos“ zum Thema Machtmissbrauch in der musikalischen Ausbildung

Wenn die Presse über das Thema Machtmissbrauch an deutschen Musikhochschulen schreibt, so stehen meistens die „spektakulären“ Fälle im Vordergrung. Man liest von Vergewaltigungen, schweren sexuellen Übergriffen, Sexorgien und Drogenexzessen, seltener aber von der grundsätzlichen Atmosphäre, die erst den Boden für diese Taten bereitet. Machtmissbrauch kann auch schon mit kleinen Situationen anfangen, die „nicht ok“ sind, manchmal spielen dabei auch Unerfahrenheit in der Pädagogik oder schlichtweg Defizite im menschlichen Umgang eine Rolle. Auch so werden Karrieren beeinträchtigt und hoffnungsvolle Talente ohne Not gebrochen.

Von dieser grundsätzlichen Problematik handelt folgender Beitrag, den das „Harfenduo“ Laura Oetzel und Daniel Mattelé dankenswerterweise speziell für den Bad Blog geschrieben hat und der die Problematik anhand von echten Fallbeispielen verdeutlicht.

„Du spielst wie Müll“

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Irgendwann hielt Anastasia* es nicht mehr aus. Zu groß war der Druck geworden, zu stressig der
Alltag, das Leben – und vor allem das Musikstudium. Anastasia rief eine Freundin an und bat sie
darum, sie in die Klinik zu bringen. Erst mal Abstand bekommen, erst mal zu sich finden, erst mal
keine stundenlangen Übe-Sessions. Es war sozusagen die Notbremse, bevor etwas noch
Schlimmeres passierte. Es hätte ein allerletztes Warnsignal an die Verantwortlichen in der
Hochschule sein können – und auch an ihre Professorin. Doch es passierte wie so oft – nichts.
Anastasia musste mit ihren Sorgen selbst klarkommen. Immerhin: Nach einer Weile war sie wieder
halbwegs fit; sie konnte ihr Studium wieder aufnehmen und schaffte auch ihren Abschluss. Jedoch
nach wie vor bei Professorin B., nach wie vor mit denselben Problemen. Und bis zu ihrer
Abschlussprüfung ging der Psychoterror weiter. „Du fühlst dich wie Müll, deshalb spielst Du wie
Müll.“ Solche Sätze fielen häufiger im Unterricht, oder auch: „Ist dein Vater eigentlich
Alkoholiker? Das würde erklären, wie Du spielst.“ Ein Lehrerwechsel schien unmöglich, wer würde
schon jemanden nehmen, der „wie Müll“ spielte? Also zog Anastasia ihr Studium durch. Sie
verteidigte Frau B. sogar noch gegen Kritik, wenn denn mal welche aufkam, und fütterte im Urlaub
wochenlang ihre Katzen. In einer Psychotherapie erkannte sie später, dass dies das Ergebnis
fortgeschrittener Gehirnwäsche war. Damit steht sie nicht allein da: Wir kennen allein drei ihrer
KommilitonInnen, die ihre Traumata nur mit therapeutischer Hilfe überwinden konnten. Die ganz
große Musikkarriere sprang durch diese Unterrichtsmethoden übrigens für die wenigsten heraus:
Klar, es gibt immer die, die sich trotz widrigster Umstände „durchbeißen“ und von ihrer Kunst
leben können. Doch viele ehemalige StudentInnen von Frau B. verdienen sich heute höchstens noch
etwas mit einer Handvoll SchülerInnen dazu, nicht wenige haben den Beruf als MusikerIn komplett
aufgegeben. Sie haben ein schwer gestörtes Verhältnis zu sich und ihrer Kunst; nahezu alle kämpfen
noch heute mit ihren Erlebnissen. Anastasia berichtete uns, dass Frau B. öfter zufällig mit dem Auto
an ihrem Haus vorbeifährt. Jedes Mal, sagt sie, fühlt sie wieder die Panik in sich hochsteigen. Der
Hochschulleitung sind die Probleme mit Frau B. vollumfänglich bekannt. Sogar die oben genannten
Sätze lagen ihr im Wortlaut vor. Die Quote derer, die ihr Studium ganz abbrechen, ist ebenfalls
hoch. Konsequenzen für B. gab es keine; sie unterrichtet noch heute – auch JungstudentInnen ab
zwölf Jahren.

Vom Fahrrad gestoßen

Auch Chen brach sein Studium ab – allerdings an einer anderen Musikhochschule. Die Faszination
Musikstudium erschloss sich ihm wohl nicht mehr, nachdem seine Nebenfachlehrerin ihn vor der
Hochschule vom Fahrrad gestoßen hatte – mit voller Absicht und samt Geigenkasten auf dem
Rücken. Auch dass er die Nebenfachlehrerin wechseln „durfte“, änderte nichts an seinem
Entschluss. Was er heute macht, wissen wir nicht. Seine Nebenfachlehrerin dagegen konnte
ungehindert weiter unterrichten.

Streit verhindert bessere Note

Dominik hätte sich eine bessere Note in seinem Abschluss gewünscht, doch das verhinderte das
Prüfungsmitglied Professor E.: Wegen eines mehrere Semester zurückliegenden Streits forderte er
einen Punktabzug in der Hauptfachprüfung. Eigentlich ein klarer Verstoß gegen die
Prüfungsordnung – doch seinem Willen wurde stattgegeben. Und so verhinderte die Note der
Prüfung weitere Studien für Dominik. Professor E. hatte eine gewisse Reputation in solchen
Dingen: In seiner Funktion als offizieller Ansprechpartner für StudentInnen hatte er schon sensible
Daten seiner Schützlinge an deren HauptfachlehrerInnen weitergegeben. Ob dies mit böser Absicht
geschah oder er sich einfach nichts dabei dachte, weiß nur er selbst. Die einzige Empörung, die er
damit auslöste, lag darin, dass die ProfessorInnen nicht begeistert darüber waren, was ihre
StudentInnen über sie gesagt hatten. Ob diese Vorgänge bei der Hochschulleitung aktenkundig sind,
wissen wir nicht. Folgen für E. hatte das Ganze zumindest keine. Wir können nur spekulieren, wie
viele StudentInnen als Konsequenz ihr Studium nicht oder nicht mehr regulär zu Ende bringen
konnten.

Wer ist das schwarze Schaf?

Auch Herr F. hatte eine merkwürdige Auffassung von seinen Pflichten gegenüber der Hochschule.
Als eine anonyme Beschwerde über seine Unterrichtsweise bei der Hochschulleitung einging, legte
er kurzerhand seine Arbeit nieder. Er weigere sich, weiter zu unterrichten, bis sich das „schwarze
Schaf“ zu erkennen gebe, teilte er der Hochschule mit. Dass er in dieser Zeit seine vollen Bezüge
erhielt, verstand sich von alleine. Die Hochschulleitung spielte das Spiel mit: Um wenigstens den
StudentInnen, die kurz vor wichtigen Prüfungen standen, weiter Unterricht anbieten zu können,
wurde überlegt, übergangsweise eine weitere Lehrkraft einzustellen. Dazu kam es letztendlich
nicht: In Einzelgesprächen zwischen F. und den StudentInnen konnte die Kritik schließlich restlos
„ausgeräumt“ werden und F. nahm – von allen Vorwürfen reingewaschen – seine Lehrtätigkeit
wieder auf. Man kann sich vorstellen, dass das restliche Studium für keine(n) der StudentInnen
besonders angenehm verlief.

Regelungen unter der Hand

F. ist nicht der einzige, dem Hochschulrichtlinien und Gesetze herzlich egal sind. Uns wurde
berichtet, dass an einer bestimmten Hochschule die Bologna-Reform auf wenig Gegenliebe stieß.
Also unterrichteten und prüften die Lehrkräfte lieber nach dem Lehrplan, den sie schon kannten. Als
die erste Generation StudentInnen ihr Abschlussjahr erreichte, stellte man fest, dass vielen nun
Credit Points fehlten, die sie für ihren Bachelor eigentlich benötigten. Um das Problem zu lösen,
schlug die Hochschule ernsthaft vor, alle betroffenen StudentInnen mögen einfach ein Semester
länger studieren, um die Kurse, die bis dahin gar nicht angeboten worden waren, nachzuholen.
Doch wie so oft an Musikhochschulen wurde dieses Problem letztlich „unter der Hand“ geregelt.

Eine durchgeübte Nacht in der Hochschule

Auch Professorin G. ignorierte gerne mal Regeln, die ihr nicht passten. Als sie der Meinung war,
Student Henri sei nicht gut genug vorbereitet für die Probe am nächsten Tag, wies sie ihn an, sich in
der Hochschule einschließen zu lassen, um über Nacht zu üben. Henri spurte natürlich und
versteckte sich abends vor dem Schließdienst. Dann verbrachte er die ganze Nacht bei Kerzenlicht
an seinem Instrument; aus Kostengründen und um genau solche Situationen zu verhindern, wurde
in der Hochschule nachts nämlich der Strom abgeschaltet. Henri hatte Glück und wurde nicht
erwischt – sonst hätte es für ihn womöglich ernsthafte Konsequenzen gegeben. Aber auch wenn er
aufgeflogen wäre und er es gewagt hätte, G. anzuschwärzen, hätte G. wahrscheinlich nichts zu
befürchten gehabt. Über den pädagogischen Wert einer durchgeübten Nacht hat sich wohl keiner
der Beteiligten damals Gedanken gemacht.

Frau Q. schnippt ihre Popel auf den Boden

Viele weitere Geschichten könnten wir erzählen. Muster, die uns immer wieder auffallen, reichen
von übergriffigen Einmischungen ins Privatleben bis hin zur Anerziehung von Ticks und Spleens.
Bei Professorin I. muss (!) man zehn Minuten vor jedem Auftritt einen Schokoriegel essen; bei
Herrn J. darf man während des Studiums keine Beziehung führen; Frau K. missbilligt es, wenn man
zur Hochzeit des Bruders fährt; Professor L. gibt einen Studenten praktisch auf, weil er seine kranke
Mutter pflegt (Stichwort: „Falsche Prioritäten“); Frau M. fordert von ihren StudentInnen detaillierte
Tagespläne, die dann im Unterricht auch minutiös durchgegangen werden. Widersetzen sich die
StudentInnen, wird das natürlich als Respektlosigkeit und Vertrauensbruch gewertet. Und dann sind
da die Sonderrechte, die sich manche Lehrkräfte einfach herausnehmen: Professor N. erscheint nur
selten zu Klassenkonzerten (seiner eigenen Klasse, wohlgemerkt!); Frau O. bringt ihren permanent
bellenden Hund mit in den Unterricht; Professorin P. setzt jeden Sonntag um 10 Uhr ein internes
Klassenkonzert an; Frau Q. schnippt im Unterricht ihre Popel auf den Boden; Professor R.
verkündet beim Tag der offenen Tür; dass „die Deutschen nicht Fagott spielen können“ und er
deshalb nur russische StudentInnen aufnimmt; Herr S. weigert sich, überhaupt feste
Unterrichtszeiten festzulegen, sondern will lieber, dass alle StudentInnen sich permanent in der
Hochschule bereit halten. Wer selbst MusikerIn ist und solche Geschichten für normal hält, sollte
sie einmal einem Nicht-Musiker erzählen und seine Reaktion beobachten.

Machtmissbrauch – auch ohne Sex

In keiner dieser Geschichten geht es um Sex; niemand wurde vergewaltigt, belästigt oder
begrapscht. Es blieben unseres Wissens auch keine Narben zurück – zumindest keine sichtbaren.
Daher werden sie wohl eher nicht Teil einer großen medialen Enthüllungsstory über Professor XY
sein. Für viele MusikerInnen sind solche Erlebnisse im Studium und danach Alltag. Sie werden jetzt
vielleicht mit den Achseln zucken und sagen: „Tja, die Musikwelt ist eben ein hartes Pflaster. Wer
zu schwach ist und das nicht aushält, der soll es eben lassen.“ Doch wenn man sich einmal von
diesem Dogma gelöst hat, wird einem das ganze Ausmaß und die ganze Dramatik der Vorfälle klar:
Es handelt sich in vielen Fällen um schwere Verstöße gegen Hochschulregeln, Arbeitsverträge,
Prüfungsordnungen und sogar Gesetze. Im privaten Umfeld hätte man manches noch als harmlose
Geschmacklosigkeit abtun können, doch im Rahmen eines Unterrichtsverhältnisses handelt es sich
um klaren Machtmissbrauch. Die Vorfälle hätten Disziplinarverfahren, Abmahnungen oder
Kündigungen nach sich ziehen können, ja sogar müssen. Von einer juristischen Aufarbeitung
müssen wir hier gar nicht mal sprechen. Doch das passierte in keinem einzigen der oben
beschriebenen Fälle. Die Frage ist natürlich: Warum?

Alles normal bei uns

Diese Frage stellten wir natürlich auch denen, die uns diese Geschichten erzählt haben. Warum seid
Ihr nicht zur Hochschulleitung gegangen? Warum habt Ihr die betreffende Person nicht
konfrontiert? Warum habt Ihr nicht auf einem schriftlichen Protokoll der Ereignisse beharrt? Warum
habt Ihr keine Anzeige erstattet? Darauf erhalten wir in der Regel zwei Antworten. Erstens: Weil
wir Angst hatten. Angst davor, dass man uns nicht glaubt, Angst vor weiteren Übergriffen, Angst
vor sozialer Ausgrenzung unter den StudentInnen selbst, Angst vor der Zerstörung der Karriere.
Und diese Ängste sind nicht unbegründet, wie die Beispiele oben zeigen. Zweitens: Weil wir und
die anderen StudentInnen das für normal hielten und wir in unserem Umfeld keinerlei
Anhaltspunkte hatten, dies zu hinterfragen. Auch wenn sich durch die Fälle Mauser und Bose
langsam etwas in Bewegung setzt, ist es nach wie vor im System Musikhochschule nicht
vorgesehen, ungefährdet Kritik zu äußern. Diese Tatsache muss unserer Meinung nach als erstes
akzeptiert werden, bevor man Änderungen voranbringen kann. Wir brauchen keine Ausreden mehr
wie „Aber die meisten LehrerInnen machen ganz tollen Unterricht und sind sehr wohl kritikfähig!“
Das mag stimmen, doch das ist dann eher der Verdienst der einzelnen Personen, nicht der
Hochschule. Denn so gut wie niemand von den Lehrkräften verfügt über eine pädagogische
Ausbildung, die der Verantwortung, die die Betreuung einer Klasse mit sich bringt, gerecht wird. Es
bleibt viel zu oft dem Zufall überlassen, ob ein(e) LehrerIn auch tatsächlich ein(e) gute(r)
PädagogIn ist. Und dann definiert eben jede Lehrkraft selbst, was in ihrer Klasse „normal“ ist.

Es fehlen pädagogische Standards

Wer wissen will, wie man es besser machen kann, braucht bloß einmal einen Blick auf die
SchullehrerInnenausbildung in Deutschland zu werfen: Bevor man unterrichten darf, muss man erst
ein Studium mit mehr oder weniger großen Anteilen an Fachdidaktik, Pädagogik und Psychologie
absolvieren und ein Referendariat mit intensiver Betreuung durch andere Lehrkräfte durchlaufen.
Auch an „normalen“ Unis verläuft die Karriere ganz anders: Bevor man einen Professoren-Titel
erhält, hat man schon eine jahrelange akademische Karriere an der Uni hinter sich. Als TutorIn,
studentische Hilfskraft, SeminarleiterIn oder Lehrbeauftragte(r) ist man automatisch viel vertrauter
mit dem Thema Lehre und kennt auch die internen Gepflogenheiten einer Universität viel besser.
An Musikhochschulen braucht man dagegen noch nicht einmal einen pädagogischen Abschluss wie
das pädagogische Diplom. Besonders bei den Stars unserer Szene ist man schnell mit Berufungen
zur Stelle, um das Renommee des Hauses zu erhöhen. Es ist schon vorgekommen, dass eine
Hochschule einem 20-jährigen Virtuosen eine Professur anbietet. Wir wollen solchen Lehrkräften
keinesfalls ihre pädagogische Eignung absprechen, wir haben ihren Unterricht schließlich nicht
persönlich besucht. Doch wie konnten die Hochschulen feststellen, ob ein(e) Anfang-20-jährige(r)
ohne entsprechende Ausbildung StudentInnen einen angemessenen Berufsweg sicherstellen kann?
Auch das Argument, es handele sich lediglich um eine(n) LehrerIn von vielen, greift nicht. Jede(r),
der Musik studiert hat, weiß, dass der oder die HauptfachlehrerIn praktisch alleinverantwortlich für
den Werdegang der StudentInnen ist. Eine Aufgabe, die für eine Person – egal ob ProfessorIn oder
sogar nur Lehrbeauftragte(r)! – alleine nicht zu schaffen ist.

Verbindliche Regeln für Lehrkräfte

Um hier anzusetzen, müssen verbindliche Fortbildungen her, sinnvolle pädagogische Ausbildungen
und vernünftige Einstellungskriterien bei der Auswahl der Lehrkräfte. Eine musikalische Eignung
bedeutet doch nicht zwangsläufig eine pädagogische! Es muss von vorneherein klar sein, was in
einen Unterricht gehört und was nicht. Verbindliche Lehrpläne, gerne auch hochschulübergreifend,
könnten dabei helfen. Wir haben gelernt, dass Machtmissbrauch, wie wir ihn in den Beispielen
schildern, nicht selten aus Unsicherheit entsteht: Wir wissen von Lehrkräften, die ihre Stelle mit
dem festen Vorsatz angetreten haben, die herrschenden Hierarchien zu durchbrechen und sich nicht
zum Machtmissbrauch verführen zu lassen. Nach kurzer Zeit taten sie jedoch genau dies, weil sie
nicht wussten, wie sie anders mit den pädagogischen und bürokratischen Herausforderungen, die
sich ihnen stellten, klarkommen sollten. Der Mangel an klaren Regeln führt dazu, dass jede
Lehrkraft sich ihre eigenen Regeln überlegen muss – und das in einem Kontext, wo dutzende
Kulturen aus den unterschiedlichsten Regionen der Welt aufeinandertreffen. Verhaltensregeln für
Lehrkräfte müssten daher verbindlich in den Arbeitsvertrag aufgenommen und dann auch
kontrolliert und ggf. sanktioniert werden – nicht als persönliche Bestrafung, sondern als
selbstverständlicher Teil einer Qualitätssicherung, wie sie in jedem normalen Unternehmen üblich
ist.

Qualitätssicherung an Musikhochschulen?

Qualitätssicherung – ein Begriff, den auch das „Netzwerk Musikhochschulen“ umtreibt. Das
Netzwerk ist ein Zusammenschluss von einigen Musikhochschulen, die die Qualität ihrer Lehre
überprüfen und weiterentwickeln wollen und dazu Fortbildungen anbieten. Dabei wurde uns von
einem Problem berichtet: Die Nachfrage nach Fortbildungen dort sei hoch – allerdings vor allem bei
den Lehrbeauftragten. Die ProfessorInnen seien deutlich in der Minderheit. Die Gefahr, die eigene
Macht im Unterricht zu missbrauchen, betrifft natürlich alle Menschen, die unterrichten; egal ob im
Rahmen einer Professur, eines Lehrauftrags, eines Meisterkurses oder auch an einer Musikschule.
Doch es scheint, dass mit steigendem Renommee und größerer Sicherheit des Arbeitsplatzes
weniger Kontrollen der eigenen Arbeit stattfinden und auch weniger Input gewünscht wird. Je
prekärer das Beschäftigungsverhältnis für die Lehrkraft, desto mehr muss sie ihr eigenes
Unterrichten hinterfragen, um weiter gute Arbeit zu liefern. Aber wer soll einem Professor sagen,
wenn er etwas falsch macht? Wenn die Freiwilligkeit nicht ausreicht, wird es nicht ohne strengere
Regeln gehen.

Mechanismen, die bei einem Fehlverhalten automatisch greifen

Es sollte auch nicht immer nur in jedem Einzelfall entschieden werden, ob ein Anschreien des
Studenten oder ungefragtes Anfassen der Studentin gerechtfertigt war. Erst wenn in den
Arbeitsverträgen steht „Jegliches Anschreien der Studierenden ist untersagt und hat ein
Disziplinarverfahren zur Folge“ und „Für jeglichen Körperkontakt mit den Studierenden ist in
jedem Fall eine ausdrückliche Einwilligung einzuholen“, dürfte auch der letzten Lehrkraft klar
werden, dass respektloses und übergriffiges Verhalten keine pädagogische Basis hat. Dazu braucht
es Mechanismen, die bei einem Fehlverhalten nicht erst auf Antrag des Betroffenen, sondern
automatisch greifen. In Prüfungen könnten zum Beispiel studentische Beisitzer eingesetzt werden,
wie es an manchen Universitäten üblich ist. Oder es könnten – wie im Holzheid-Bericht angeregt –
regelmäßige Unterrichtsbesuche der Hochschulleitung stattfinden. Von einer englischen Universität
wurde uns berichtet, dass es verpflichtende Kurse für StudentInnen gibt, in denen sie jede Woche
einfach nur beraten werden. Das wäre nicht nur für StudentInnen sinnvoll: Viele der ehemaligen
StudentInnen, mit denen wir gesprochen haben, forderten Supervision für Lehrkräfte. Wer noch
mehr Ideen braucht, kann einfach die Opfer von Machtmissbrauch fragen. Die wissen in der Regel
ganz gut, was ihnen damals geholfen hätte.

Durch keine künstlerische Leistung der Welt zu rechtfertigen

Sicherlich: Für einzelne Lehrkräfte könnte das unbequem werden. Einige würden sich bestimmt in
ihrer künstlerischen Freiheit eingeschränkt fühlen. Doch für diese Sonderrolle, die einige
MusikerInnen für sich in Anspruch nehmen, gibt es keine Rechtfertigung. Anastasia, Chen, Henri
und all die anderen hatten nie das Glück, in den Genuss dieser Sonderrolle zu kommen. Stattdessen
stehen sie heute vor den Trümmern ihrer Karriere. Was zum Teufel hat es mit Musik zu tun,
jemanden vom Fahrrad zu stoßen? Wie soll jemand die Liebe zur Musik finden, wenn man ihm
sagt, er spiele „wie Müll“? Diese menschlichen Dramen lassen uns und viele andere ratlos und
betroffen zurück. Sie sind durch keine künstlerische Leistung der Welt zu rechtfertigen.

* Alle Namen in diesem Beitrag wurden geändert. Außerdem wurden Begebenheiten abgewandelt,
damit sie sich nicht mit den wahren Vorkommnissen in Verbindung bringen lassen. Der Kern der
Geschichte wurde aber jeweils sinngemäß erhalten. Die Namen und die Details der Vorfälle sind
den Autoren bekannt.

 

Laura Oetzel, Daniel Mattelé

 

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8 Antworten

  1. Uta O. sagt:

    Der Artikel hat mich sehr beeindruckt, besonders die Sachlichkeit, in der hier über haarstreubende Ereignisse berichtet wird. Als Nicht-Musikerin kann ich nur sagen, dass an anderen Hochschulen solche Ereignisse zwar nicht auszuschließen sind, aber auf eine andere Resonanz und Abwehr, auch von Seiten der Institutionen, treffen. Besonders wichtig ist der Satz: „Wer selbst MusikerIn ist und solche Geschichten für normal hält, sollte sie einmal einem Nicht-Musiker erzählen und seine Reaktion beobachten“. Macht braucht Kontrolle.

    • k. sagt:

      Ich wäre mit Vergleichen mit anderen Bereichen vorsichtig, Dinge wie Mobbing, Gewalt, Machtmissbrauch gibt es überall, auch im Medizinstudium, Jurastudium, Lehrerbildung. Es ist auch kein alleiniges Phänomen der Hochschulen, Mobbing gibt es auch vor dem Studium (z.B. Schule) und nach dem Studium (Beruf).

      Insofern wundert es gar nicht, dass es auch in der Musikausbildung Gewalt gibt, womit nicht gesagt ist, dass das in Ordnung ist.

      Das Spezifische in der Musik kann sein, dass man insbesondere in der Musikbildung sagt, dass Musik die soziale Kompetenz fördert (z.B. wenn man mehr für mehr Musik an der Schule wirbt. Nach dieser Argumentation müssten Musikprofessoren besonders sozial kompetent sein, haben sie sich doch viel und lange musiziert.  

      Auch sagt man gerne, insbesondere in der Musiktherapie, dass die Musik das Innenleben des Musizierenden nach außen zeigt. Nach dieser Argumentation hat jemand, der schöne Musik macht, auch ein guter Mensch sein. (Und heute wird diese Annahme auch noch verstärkt, da auch Interviews konsequent inszeniert sein können, um ein bestimmtes Image zu erzeugen.)

      Ein anderes Problem ist natürlich, dass Nicht-Musiker auch viele Dinge, die in einem Musikerberuf völlig normal sind, für nicht normal halten (was bei ernsthaft musizierenden Jugendlichen auch dazu führen kann, dass sie nur noch gleichgesinnte Freunde haben, was ihre Welt einschränkt). Meine Schüler finden es z.B. nicht normal, wenn ich abends nach dem Unterricht noch üben gehe. Und ich wiederum muss ihnen beibringen, dass sie vielleicht doch ein bißchen mehr tun könnten als 10 Minuten zwei mal die Woche. Ich verlange von ihnen aber natürlich kein Übepensum wie bei Vengerov als Kind. Die Musikhochschule deckt heute letztendlich alle Niveaus ab – „Klavier an einer Musikhochschule“ kann z.B. Solistenausbildung sein oder aber auch Nebenfach für Sonderpädagogik – da klaffen Welten aufeinander, das geht nicht ohne Regeln.

      Ein Problem ist auch, dass gerade die Konzertfach-Studenten, vor allem mit Solisteninstrumenten wie Geige und Klavier, schon oft vor dem Studium einschlägige Erfahrungen gemacht haben, auf Wettbewerben, Kursen, Förderprogrammen. Da passier(t)en unglaublich Dinge, zwischen den verantwortlichen Erwachsenen und den Nachwuchsmusikern, aber auch unter den Jugendlichen selbst (Jugend musiziert hat sich in den letzten Jahren tatsächlich wirklich viel Mühe gegeben, dass die Jugend nicht mehr zu früh mit dem Dreck konfrontiert wird). Wenn man sich trotzdem für ein Musikstudium entscheidet, ist man nicht so schockiert, man ist ja damit aufgewachsen. Da suchen die jungen Leute eher nach Überlebensstrategien, wie sie mit dem Dreck des Berufes klar kommen.

      Letztendlich ist es nicht immer ein direktes Problem zwischen dem Professor und dem Studenten, was zu einer solchen Tat führt. Es ist nicht unbedingt so, dass ein Professor einen Studenten persönlich fertig machen will (weil es ihn nicht mag, weil er ihn als zukünftige Konkurrenz sieht, weil der Student andere Ideen hat) oder unabsichtlich übergriffig wird (z.B. weil er eine Leistung von dem Studenten verlangt, was er nicht erbringen kann). Manchmal stecken Machtkämpfe und Feindseligkeiten unter dem Kollegium dahinter. Prof. A kann Prof. B nicht leiden, deshalb macht Prof. A die Studenten von Prof. B fertig. Oder umgekehrt: Prof. C macht Lehrbeauftragten D fertig, und als Rache macht der Lehrbeauftragte D die Studenten von Prof. C fertig. Oder Prof. E braucht extra gute Leistungen seiner Studenten, um sich gegen Prof. F zu beweisen und durchzusetzen. Das sind teilweise viel größere Gruppendynamiken am Werk, als die „Tat“ selbst.

      • k. sagt:

        Auch deshalb fand ich es schade, dass der Kulturrat nicht verstand, warum es Kritik an die Aussage gab «Wer mit Unsicherheit schlecht leben kann, der sollte von einer freiberuflichen Tätigkeit in der Kreativbranche Abstand nehmen.»

        Man ist nicht unbedingt soloselbständig, weil man Unsicherheiten so liebt. Sondern auch weil der Preis für die Sicherheit (z.B. feste Anstellung oder Verbeamtung) zu hoch ist. Feste Anstellung bedeutet nun mal, dass man mit diesen Gruppendynamiken und Machtverhältnissen in der Institution klar kommen muss, das kann und will nicht jeder. Wenn man in einer Institution ist, muss man sich nämlich praktisch auch mit Menschen arrangieren, deren Verhaltensweisen man nicht gut findet. Wer das nicht will oder kann, muss komplett raus.

        Warum wollen eigentlich alle überhaupt Professoren werden? Auch die ganz bekannten Musiker?

        Für die Studenten ist das Nutzen einer Musikhochschule klar – der Unterricht ist kostenlos, man kann kostenlos üben, man ist sozial versichert, die Studienzeit wird auf die Rente angerechnet, ausländische Studenten bekommen Aufenthaltsgenehmigung, man bekommt einen akademischen Abschluss. Das Musikstudium in Deutschland ist, was das angeht, großartig und einmalig.

        Wenn man mit dem Studium fertig ist, steht man allerdings gerade vor dem Dilemma – Unabhängigkeit/Freiheit oder Sicherheit/Gruppenzugehörigkeit (wenn es nicht gut läuft mit mehr Unterwerfung und mehr Ausbeutung, wenn es gut läuft mit mehr Sagen und mehr Möglichkeiten).

        Ich denke, das war auch ein Problem bei Bose: er wollte gleichzeitig beides und zwar in einer unguten Mischung. Die Leute waren zunächst auch deshalb so fasziniert von ihm, weil er eben als Professor wilde Freiheiten propagiert hat (nach dem Motto: „ich bin zwar Professor, bin aber nicht spießig-brav und bin in erster Linie Künstler und lasse mich nicht von den Mächtigen diktieren, wie ich mich zu verhalten habe, es ist die Aufgabe eines Künstlers, nicht der Macht zu beugen.“ Dabei war er selber nicht machtlos, im Gegenteil.)

        Die Taten von Bose wären im Übrigen auch dann nicht in Ordnung, wenn er als Privatlehrer ohne Professur unterrichtet hätte oder wenn er rein als Privatperson gehandelt hätte. Dass das Gericht die Tat nicht als eine strafbare sexuelle Handlung bewertet hat, ist ein anderes Problem, was Vergewaltigungsfälle im Allgemein betrifft.

  2. Christian Ebbertz sagt:

    Ich habe diesen Beitrag gerne geteilt. Nach kritischen Rückfragen von Empfängern komme ich nur in einer Hinsicht ins Grübeln: Einzelfallgeschichten müssen der Ausgangspunkt von einer statistischen Erhebung sein. In jedem System verhalten sich Menschen von falsch bis bösartig bis… usw. Erst wenn man einen Überblick über die statistische Relevanz des Problems hat, weiß man, ob ein systemisches Problem vorliegt, oder man weitere Beispiele davon kennengelernt hat, wie übel manche Menschen sind.

    • Laura Oetzel sagt:

      Eine solche statistische Erhebung würden wir sehr begrüßen! In München hat es an der HMT eine solche gegeben. Sie förderte systemischen Machtmissbrauch zutage. Passend dazu wurde sie auch erst einmal unter Verschluss gehalten: https://www.br.de/nachrichten/kultur/das-schweigen-aus-angst-war-an-der-tagesordnung,Qs6iu0T
      Nach unserer persönlichen Erfahrung können die allermeisten unserer musikstudierten Bekannten von ähnlichen Erfahrungen berichten. Es ist auf jeden Fall genug, um Anlass zu einer deutschlandweiten Datenerhebung zu geben. Es wäre schön, wenn die Hochschulen hier aktiv würden.

      Viele Grüße
      Laura Oetzel vom Harfenduo

  3. r sagt:

    Ich möchte euch, dem Harfenduo, von ganzem Herzen danken für diesen unglaublich wahren und treffenden Beitrag. Ich komme selbst ehemals aus diesem Bereich und konnte über viele Jahre genau die Dinge beobachten und selbst erleben, die ihr hier aufzeigt.
    Ich finde es enorm wichtig, dass diese Vorfälle an die Öffentlichkeit getragen werden und euer differenzierter Beitrag hat mich sehr beeindruckt und berührt.

  1. 28. Februar 2021

    […] für den „Bad Blog Of Musick“ der nmz gesammelt.[6]Laura Oetzel & Daniel Mattelé: „Du spielst wie Müll“, veröffentlicht am 20.01.2021 auf […]

  2. 18. August 2021

    […] wurde am 20.01.2021 auf Deutsch als Gastbeitrag auf dem Bad Blog of Musick veröffentlicht (→ „Du spielst wie Müll“ Gastbeitrag des „Harfenduos“ zum Thema Machtmissbrauch in der musikal…). Die unten aufgeführten Geschichten haben sich in deutschen Musikhochschulen ereignet. Daher sind […]