Ultra in Schweden – Ein Reisetagebuch in 3 Teilen (2)
Viele haben sich sicherlich gefragt, warum ich hier in letzter Zeit so still war. Nun – zuerst einmal mache ich wenigstens einmal im Jahr Blogpause, was man mir gnädig nachsehen möge. Aber dieses Mal hatte es auch den Grund, dass ich vor lauter Trainieren zu nichts mehr kam. Schuld war…ein schwedischer Ultra.
Nein, kein blonder Nazi-Hooligan bedrohte mich, keine Angst. „Ultra“ bezeichnet eine Form des Extremmarathons, also alle Distanzen über 42 Kilometer, nach oben hin offen. Alle, die mich kennen, wissen, dass ich in den letzten Jahren immer mehr von Sport und Laufen begeistert bin und schon an einigen Wettbewerben teilnahm. Alle, die mich kennen, wissen auch, dass ich einen gewissen Hang zum Exzessiven habe. Ich mag keine oberflächlichen Beschäftigungen mit Sachen, schaue Filme und lese Bücher immer zu Ende, auch wenn es quälend ist (ja, ich habe auch die berüchtigte Langfassung von „La Belle Noiseuse“ geschaut, bei der über viele Stunden nichts anderes zu sehen ist als ein gelangweilter Michel Piccoli, der langsam ein Porträt zeichnet, und noch nicht einmal ein besonders gutes!). Das geht bis hin zu einem gewissen Fanatismus – wenn mich etwas begeistert, dann möchte ich komplett eintauchen darin und keine halben Sachen machen.
Der Lauf
Bohuslän ist eine Region nordwestlich von Göteborg, die sich durch eine besonders interessante Küstenlandschaft auszeichnet. Nur hier gibt es einen speziellen Granitstein, der die vielen vorgelagerten Inseln und Schärengärten mit fast vulkanisch anmutenden Felsgebilden geprägt. Zahlreiche kleine Inseln und Buchten prägen das Bild, manche von Brücken verbunden, zwischendrin gibt es wieder ausgedehnte Waldlandschaften, die zum Teil direkt bis zum Wasser reichen. Das Alles ist die abwechslungsreichste nordeuropäische Landschaft, die man sich vorstellen kann, und daher geradezu fantastisch für Wanderer und Läufer geeignet, da man immer wieder neue Entdeckungen macht. Schon seit einigen Jahren veranstaltet die Firma Icebug hier ihre „Challenges“, die zunehmend Beachtung in der Läuferszene finden.
Die Bohusläner „Icebug Challenge“ besteht aus zwei Wettbewerben, einem 80km-Ultralauf und einem dreitägigen Etappenlauf („Experience“) über dieselbe Strecke. Beides spricht vollkommen unterschiedliche Läufertypen an: Der Etappenlauf wendet sich an Schnellläufer aber auch an gemütliche Wanderer, der Ultralauf ist für die Verrückten, die einen ganzen Tag laufen wollen.
Ich hatte mich leichtsinnigerweise für Letzteres angemeldet. Brav hatte ich 7 Wochen lang jeden Tag trainiert, immer länger werdende Läufe abwechselnd mit Intervallen, zum Teil barfuß am Strand an der Ostsee, um die Fußmuskulatur zu stärken. Noch nie war ich so viel gelaufen – es ging vor allem darum, die Muskulatur daran zu gewöhnen, einfach immer wieder zu funktionieren, auch wenn man müde ist.
Morgens um 3:15 war aufstehen angesagt, Frühstück um 3:30. Läufer wissen, dass nichts schlimmer ist, als mit verdauendem Magen zu laufen, daher will man normalerweise mindestens 2 ½ Stunden nichts gegessen haben, bevor man läuft. Gleichzeitig muss man aber auch während des Laufs nicht zu viel, aber dennoch genug essen, denn gerade bei einem Ultra wie diesem ist eine gewisse Ernährungsbasis unerlässlich, sonst geht der Körper irgendwann in den Shutdown.
Mit einem Bus ging es dann zum Startpunkt auf der Insel Malmön. Ich schaute mir nervös die Mitläufer an – allesamt sehr fit aussehende Schweden, die alle nicht so aussahen, als machten sie das zum ersten Mal. Normalerweise kommen zu diesem Lauf viele Ausländer, aber in diesem Jahr war ich einer von nur zwei Deutschen (den erfahrenen Ultraläufer Torsten hatte ich am Tag vorher schon in der Jugendherberge kennengelernt), das war’s quasi mit der Auslandsbeteiligung. Ich dagegen: blutiger Anfänger im Ultrabereich mit gehörigem Muffensausen!
Nach der Fähre erreichten wir den Startpunkt auf Malmön. Während ich vor Kälte zitternd versuchte, in völliger Dunkelheit mein Equipment zu präparieren, ohne dass mir irgendwas vom Steg ins Wasser fiel, zückten die Pros ihre Kopflampen und teuren Rucksäcke, während ich mir mit meinem billigen Trinkrucksack von der Stange und nur dem Nötigsten befüllt vorkam wie ein Loser. Schneller als mir lieb war ging es nach kurzer Instruktion zum Startpunkt, vorher musste man aber noch eine Nummer fotografieren, die man im Notfall anrufen konnte. Klang schon Mal nicht gut…
Unzeremoniell ging es los – kein Startschuss, einfach nur Einzählen. Dieses Jahr gab es auch keine elektronischen Zähler, man wurde aufgefordert, bei jeder Versorgungsstation deutlich seine Nummer zu zeigen…na denn. Zwei, drei ehrgeizige Läufer liefen schnell los und wurden dann nie wieder gesehen, die Mehrheit setzte sich in dem für Ultras typischen langsamen Trott in Bewegung. Ein Pace von 6:10 Minuten pro Kilometer kommt den meisten erfahrenen Läufern ziemlich langsam vor, bei einem Ultra ist das schon ein mutiger Highspeed, den man erst einmal ewig durchhalten muss. Ich fühlte mich aber gut und genoss gleich die ersten Kilometer, die durch beschauliche Fischerdorfgassen und malerische Stege führten, während hinter uns langsam die Sonne aufging.
Plötzlich und ohne Vorwarnung änderte sich aber die Strecke und verwandelte sich in bizarre Felsformationen ohne jeglichen erkennbaren Weg, die man nur kletternd und hüpfend überwinden konnte. Am Morgen hatte ich mich kurzfristig entschieden, doch lieber meine härteren Trailrunning-Schuhe anzuziehen, da ich in der Beschreibung des Laufes irgendwas von „Trail“ gelesen hatte. Naiv wie ich war dachte ich, dass es halt mal ab und zu über Stock und Stein gehen würde. Torsten – auf dessen Höhe ich am Anfang lange lief – klärte mich aber auf, dass er mich für sehr optimistisch hielt, dies als meinen ersten Trailrun zu machen, und dann auch noch gleich als Ultra. Mir wurde ganz bange zumute – ein bisschen Erfahrung hatte ich zwar schon mit Klettern von einer schönen Canyoning-Tour in den Alpen, aber tatsächlich hatte ich Trailrunning nicht im Geringsten trainiert! Würde ich eingehen und scheitern? Das schien nun eine reelle Möglichkeit, vor allem als ich das Tempo realisierte, das die anderen bei den gefährlichen Steinüberquerungen an den Tag legten. In den folgenden 80 Kilometern sollte ich jedes Mal erleichtert aufatmen, wenn man Mal ein paar Meter auf einer normalen Strecke lief, denn das war tatsächlich fast nie der Fall! So muss sich ungefähr ein Pianist fühlen, der im Konzert Rachmaninoff 3 vom Blatt spielen soll…man kann zwar grundsätzlich Klavier spielen, aber dennoch!
Irgendwann waren wir um die halbe Küste rum und ich folgte Torsten blind einen Waldweg hinauf. Bisher hatte ich gar nicht auf die von den Veranstaltern angebrachten Wegmarkierungen geachtet (rotweiße Bänder, in regelmäßigen Abständen an irgendeinen Felsen oder Baum befestigt) sondern war einfach dem Pulk gefolgt, doch plötzlich waren Torsten und ich allein auf weiter Flur, in einer Art militärischem Sperrgebiet. Da konnte irgendwas nicht stimmen. Torsten blieb stehen und holte seine Karte raus. „Aha, da müssen wir 800 Meter zurück und dann anders abbiegen“. WHAT???? Der Alptraum jedes Läufers – er sollte in diesem Lauf nicht nur einmal, sondern mehrmals (!) Wahrheit werden. Torsten schien aber überhaupt nicht beunruhigt – er war schon vorher durch große Coolness aufgefallen, blieb immer wieder Mal stehen, um Fotos zu machen usw. Es schien ihn kaum zu stören, dass wir zurückmussten. So wie er verhielten sich auch die anderen Läufer, mit denen ich später lief. Niemand stresste sich besonders, immer wieder ging man es ruhig an, trabte an den Verpflegungspunkten nicht sofort los sondern spazierte erst einmal ein bisschen…Für Halbmarathon und Marathonläufer ist das unvorstellbar, aber Ultraläufer wissen eben, dass ein Tag sehr, sehr lang werden kann, und es am Ende gar nicht mehr auf Sekunden und meistens noch nicht einmal auf Minuten ankommt – man will einfach sicher gehen, dass man sich nicht zu früh stresst und verausgabt, denn am Schluss wird es eh für alle hart. So werden Ultraläufer auch nie nervös, wenn sie überholt werden – meistens sehen sie diese Person etwas später auf der Strecke wieder, total ausgepowert, während sie selber sich ihre Reserven besser eingeteilt haben und noch Kraft haben. Ultralauf ist also auch eine Erfahrung der Langsamkeit, man fühlt sich wie der Igel, der den Hasen am Ende doch überholt. Geduld gewinnt – genau wie beim Opernschreiben.
Nach etwas über 10 Kilometern kamen wir zur Fähre, die uns die erste aber schon jetzt willkommene Zwangspause bescherte, denn die Zeit wurde angehalten, damit wir in Ruhe übersetzen konnten. An Bord waren alle Läufer des Mittelfelds, die Ehrgeizigen vom Anfang hatten wohl schon die Fähre vorher erwischt. Nach dem Übersetzen ging es erst einmal wieder sehr gemütlich los, alle spazierten lässig den Berg hoch, während ich im falschen Ehrgeiz versuchte, hinauf zu hoppeln und erst einmal alle überholte. Eine Zeitlang war ich allein auf der Strecke und fühlte mich wie Herkules, wurde aber dann nach und nach wieder von denen überholt, die ich vorher bergauf überholt hatte – sie waren einfach fitter und hatten mit ihren Kräften besser gehaushaltet. Ein Schwede fragte mich besorgt „Is everything ok?“, als er mich cool überholte, während ich schon keuchte. Ich biss die Zähne zusammen und versuchte mitzuhalten in einem Tempo über dem, was ich eigentlich als Durchschnitt laufen wollte.
Die Landschaft wurde nun sehr abwechslungsreich. Zuerst liefen wir durch Waldwege, ab und zu unterbrochen von kleinen Türchen, die Kühe und Schafe auf Weidegebieten hielten. Sehr häufig lief man auch einfach durch Nachbars Garten, vorbei an Kinderschaukeln und Trampolinen, manchmal auch mit staunenden Kindern drauf. Dann bog die Strecke plötzlich in einen Feldweg ein, der sich schnell in einen steilen Anstieg über Wurzeln und Löcher hinweg entwickelte. Relativ schnell schon war ich mit einem Bein in einem Schlammloch gelandet und lief bis zum Ziel mit einem komplett durchnässten und versauten Schuh – Augen zu und durch! Die Schweden um mich herum waren bester Laune. Das Ganze wirkte eher wie ein Familienausflug als ein Lauf. Anscheinend hatte man sich viel zu erzählen, als Deutscher schnappte man einige verständliche Worte auf, aber letztens habe ich keine Ahnung, was die sich erzählten, vielleicht war es eine ausführliche Diskussion aller Charaktere aus „Game of Thrones“, keine Ahnung.
Mühsam folgte ich einem mindestens 5 Jahre älteren Herren, der leichtfüßig über gruselige Steinabgründe hüpfte, während ich eher vorsichtig abtastend vorankam, aus Angst, eines der vielen mir vollkommen neuen Terrainmerkmale falsch einzuschätzen. Besonders tückisch erwies sich ein bestimmtes mir vom Aussehen her bisher unbekanntes Moos zwischen den Steinen, bei dem man nie sicher sein konnte, ob es ein Loch oder festen Grund verbarg, die Schweden schienen immer auf zweiteres zu vertrauen!
Als ich auf die Uhr schaute, waren die ersten 20 Kilometer wahnsinnig schnell vorbeigegangen. „Wenn das so weitergeht, ist das durchaus zu packen“ dachte ich mir. Aber vom Lesen vieler Erfahrungsberichte wusste ich, dass ein Ultra erst in der zweiten Hälfte richtig beginnt, nämlich dann, wenn sich herausstellt, ob man die richtige Ernährungs- und Flüssigkeitsstrategie verfolgt hat. Ich hatte mir den Trinkrucksack mit durch speziell für Ultras entwickeltem kalorienreichem Pulverwasser aufgefüllt, das fühlte sich schon mal gut an. Zwischendrin aber entwickelte ich bei den wenigen Versorgungsstationen zunehmenden Heißhunger auf kleine Nussriegel, die aber immer mehr wie ein Stein im Magen lagen. Schon bald wurde mir klar, dass die Verrichtung körperlicher Bedürfnisse ein echtes Problem bei einem Ultra darstellt – wer geht schon an einem Tag kein einziges Mal aufs Klo? Männer sind beim Pinkeln definitiv im Vorteil, aber auch die einigen teilnehmenden Frauen waren nicht gerade zaghaft dabei, mal eben schnell ihr Geschäft zu verrichten, auch, wenn man das alles notgedrungen mitbekam. Geht nicht anders – viele Ultraläufer sind stolz darauf, in diesem Bereich „Hardcore“ zu sein, sie laufen auch mal mit vollgepinkelten (oder schlimmeres) Hosen ins Ziel, wenn es nicht anders geht!
Irgendwann erweiterte sich das Feld zunehmend – die plappernden Schweden hatte ich bei der letzten Versorgungsstation hinter mir gelassen und jetzt befand ich mich lange auf der Strecke zusammen mit einer auch nicht mehr ganz jungen aber sehr tough wirkenden Schwedin mit weißblondem Haar und dem älteren Felsenhüpfer von vorher, der irgendwann davon zog und nicht mehr gesehen ward (am Ende war er dann aber einer der letzten im Ziel, siehe oben). Mit der Schwedin kam ich ins Gespräch und die folgenden 20 Kilometer hatten wir eine sehr nette Unterhaltung über Gott und die Welt. Li – so hieß sie – erzählte mir von ihrem Beruf als bekannte Sportreporterin und von ihren schon vielen Läufen, darunter ein Sieg beim Sahara-Marathon. Von soviel Expertise überwältigt, nahm ich mir vor, ihr einfach alles nachzumachen, denn ganz sicher war sie erfahrener als ich. Was mich erstaunte: jedes Mal, wenn es auch nur im Geringsten bergauf ging, fing sie sofort an zu gehen. Sie sagte mir, dass es gar keinen Sinn mache, bergauf zu rennen, das würde zu viel Kraft kosten. Gut, dass ich auf sie gehört habe!
Man muss dazu sagen, dass mit „Gehen“ hier ein sehr zügiges Gehen beschrieben wird, das für viele immer noch Lauftempo wäre. Aber es ist eben etwas anderes, ob man immer wieder gegen die Schwerkraft in die Luft springt, oder weite ausholende Schritte macht. So ging es viele Kilometer dahin, die wie im Flug vergangen. An den Verpflegungsposten traf man immer wieder Mal andere Läufer, besonders nett war ein Hafencafé, das uns mit leckeren Pfannkuchen versorgte. Nach den langen Naturstrecken befanden wir uns plötzlich in einer größeren Stadt, und plötzlich musste man an Ampeln anhalten und Fußgängern ausweichten. Li übernahm die Stadtführung und erklärte mir, dass hier die vielen Fischcremes hergestellt werden, die auch so mancher Deutsche sich zum Frühstück aufs Brot schmiert. Am Ende einer Brückenüberquerung trafen wir auf einen verwirrten Läufer, der vorher hinter uns gewesen war. Er hatte uns aber nie überholt! Anscheinend war er unabsichtlich eine Abkürzung gelaufen und wusste jetzt nicht mehr, wo er war.
Da ich die Strecke als Komoot-File auf meiner Uhr hatte, übernahm ich nun die Führung, aber schnell hatte auch ich mich verlaufen aufgrund der unorthodoxen Streckenmarkierung (Fähnchen auf der linken Seite der Straße, wenn man rechts laufen musste z.B.) und der zunehmenden Verwirrung über die vielen weißen und grünen Linien auf meiner Uhr, die ich aus Unerfahrenheit oft falsch interpretierte. Wir wurden aber durch zwei entgegenkommende Läuferinnen gerettet, die uns wieder auf den richtigen Weg schickten, dann aber verschwanden, denn sie hatten die Schleife, die wir laufen mussten, schon hinter sich.
Schneller als wir es ahnen konnten befanden wir uns aber wieder auf einem großen Feld und wieder einmal ging es steil bergab, diesmal bei starkem Gegenwind an der Küste. Eine Zeitlang hielt ich mit Li noch mit, aber ich merkte langsam, dass sie mit ihren Bewegungen von Stein zu Stein immer ein ganz klein bisschen schneller war als ich und sich immer weiter entfernte. Ich hatte nun zwei Optionen: mithalten und eventuell „overpacen“ (also zu schnell laufen, was die Ausdauerplanung für die gesamte Strecke anging) oder bewusst mein eigenes Tempo laufen. Ich entschied mich für letzteres – nach dem Lesen zahlreichen Ultra-Erfahrungsberichte wusste ich, dass ein totaler Einbruch nach Überanstrengung keine schöne Erfahrung ist und man das eher vermeiden sollte. Irgendwann war ich also mutterseelenallein, und mein größtes Problem war nun, dass ich einfach dringend ein Geschäft erledigen musste. Wollte ich mich wirklich irgendwo hinhocken und ohne Klopapier mein Geschäft verrichten, mich vielleicht mit dem seltsamen Moos abwischen und es hinterher bitter bereuen? Oder doch lieber einhalten, wie es die Musiker bei einem Stück von Morton Feldman meistens tun müssen?
Gottseidank wurde ich gerettet: die nächste Wegstation bot nicht nur willkommene Verpflegung, sondern auch richtige Toiletten – ich dankte den Göttern und zog weiter! Inzwischen wähnte ich mich zu meiner eigenen Überraschung einigermaßen im Mittelfeld, auch Torsten war wohl irgendwo hinter mir. Optimistisch schickte ich Whatsapp-Nachrichten an Freunde bei Kilometer 60: „Die nächsten 20 Kilometer schaffe ich auch noch!“. Das sollte sich zwar bewahrheiten, aber ganz so leicht wurde es dann leider nicht.
Hatte mein Körper bisher das viele Gehüpfe, Geklettere und Gespringe noch ganz gut gepackt und als abwechslungsreiche Bewegung empfunden, rebellierten nun schlicht und einfach die Muskeln und sendeten das eindeutige Signal „Aufhören!“ an mein Gehirn. Die Meter schleppten sich plötzlich nur noch so dahin. Ich ertappte mich dabei, immer öfter auf meine Uhr zu schauen und dann entsetzt zu sein, wenn nur wenige 100 Meter gepackt waren. Die Kilometer schlichen dahin, jeder einzelne war hart erkämpft. Auch setzten bei mir nun auch leichte Halluzinationen ein, die jeder Ultraläufer kennt. Ich lief allein im Wald, aber immer wieder hörte ich es hinter mir rascheln – hatte mich doch einer der anderen Läufer eingeholt? Aber jedes Mal, wenn ich mich umdrehte, erwies es sich als eine der Markierungsfähnchen, die im Wind flatterte. Ich hatte schon seit gefühlten Ewigkeiten keine Menschen mehr gesehen, aber plötzlich schien mir die Möglichkeit von Geistern sehr real. Der Weg wurde auch immer verschlungener und aufgrund der fortgeschrittenen Stunde dunkler – die gnadenlose Entfernungsanzeige zum Ziel auf meiner Uhr machte immer unlogischere Angaben. Es konnte sein, dass man sich der nächsten Kilometermarkierung erst näherte, sich dann aber wieder von ihr entfernte. Ein Kilometer fühlte sich immer mehr wie 10 an.
Die Organisatoren hatten in einem Anfall von Sadismus die Strecke auch immer schwieriger gestaltet. So gab es neue Highlights wie das Laufen über eine Schiene an einer Indiana-Jones-artigen Mine vorbei, dann ging es einen Berg hoch in einer steilen Schlucht, die nach oben hin immer enger wurde und schließlich an einem kleinen Durchschlupf endete, den man ab einer bestimmten körperlichen Ausdehnung gar nicht durchqueren konnte. Da aber Ultraläufer bei so einem Lauf nicht nur ca. 8-9000 Kalorien, sondern auch Muskelgewebe verbrennen, wäre wahrscheinlich sogar Arnold Schwarzenegger jetzt durchgekommen. Schon jetzt kamen mir meine Beine wesentlich dünner vor als noch vor einigen Stunden.
Irgendwann befand ich mich plötzlich wieder an einer Küste. Eine weite Wiesenstrecke direkt am Wasser lag vor mir – meine Füße frohlockten über den weichen Untergrund! Wenig später aber fluchte ich: mit jedem Schritt sank man einen gefühlten halben Meter ein, und schon bald war man in der Abendsonne von einem Mückenschwarm umgeben, der mir die Hölle heiß machte. Irgendwann – auf einer wunderschönen Holzbrücke – näherte man sich aber dann tatsächlich dem 75. Kilometer. Ich hatte mir die Strecke auf der Karte nicht genau angeschaut (ein Fehler!), aber ich hoffte, dass man nun die letzten Kilometer „auslaufen“ könne, wozu ich mich gerade noch in der Lage fühlte.
Plötzlich hörte ich eine Stimme hinter mir: „Nicht hetzen lassen!“. Es war Torsten, der unerbittlich aufgeholt hatte und noch total frisch schien. Wie eine Gazelle hüpfte er an mir vorbei, für mich unvorstellbar energetisch in diesem Moment. Ich gab es sofort auf, ihm zu folgen und gab mich ohne schlechtes Gefühl seiner größeren Ultra-Erfahrung geschlagen. Kurz darauf traf ich ihn aber dann doch noch Mal, sein Magen hatte Probleme gemacht und er musste sich kurz erleichtern. Er zog aber wieder davon und sollte am Ende über 6 Minuten früher als ich im Ziel sein.
Nun begann – vollkommen überraschend für alle Teilnehmer – der mit Abstand ätzendste Streckenabschnitt. Das Ziel Hunnebostrand war nämlich eigentlich schon erreicht, aber um die Strecke auf 80km zu bekommen hatte man entschieden, alle Läufer noch einmal als krönenden Abschluss auf einen langweiligen und vollkommen überwucherten Berg hochzuschicken, und zwar von allen möglichen Seiten, immer auf denselben doofen Funkmast zu. Es ging also rauf, auf den Funkmast zu, dann wieder runter, dreimal um die Kurve, wieder rauf, Funkmast, toll! Dann wieder runter, erneut rauf…wieder einmal der Funkmast, diesmal von links, dann von rechts usw.
Alle Läufer, mit denen ich nach dem Rennen sprach, empfanden diese letzte Passage als einzige psychische Folter, und ich kann das bestätigen. Kilometer 75-79 fühlten sich also an wie eine Art Vorhölle, wie als ob man den langweiligsten Takt eines ohnehin schon langweiligen Einaudi-Stückes immer wieder hören müsse.
Aber irgendwann war man plötzlich runter vom Berg und bog in einen langen Küstenweg ein, der direkt zum Ziel am Hafen von Hunnebostrand führte. Ich erlebte das, was man unter Läufern als „Second Wind“ kennt, ein euphorisches Erstarken, die letzten paar hundert Meter lief ich so schnell wie normalerweise Intervalle. Endlich im Ziel: Ein unbeschreibliches Gefühl, mein erster Ultralauf war geschafft! Ich setzte mich erst einmal hin – grundsätzlich fühlte ich mich noch ok, aber beim Aufstehen und Hinsetzen musste ich mich abstützen, ein Gefühl, dass jeder Langstreckenläufer kennt. Ich öffnete meine Schuhe und zog die Socken aus – so genau möchte ich nicht beschreiben, was ich sah, aber es war blau, schwarz und voller Blasen.
Mit meiner Platzierung war ich mehr als zufrieden: 23. Platz, fast direkt hinter Torsten und nur drei Plätze neben der Marathonsiegerin Li. Fürs erste Mal mehr als respektabel.
Und hätte mir jemand in diesem Moment ein Ticket für den nächsten Icebug-Ultra angeboten…ich hätte es sofort gekauft!
Moritz Eggert
PS: Dank an Li Edqvist und Torsten Selle für einige der Fotos
PPS: Besonders vielen Dank an Thomas Schäfer von den Darmstädter Ferienkursen für die motivierende Unterstützung und viele, viele aufmunternde und solidarische Whatsapp-Nachrichten!
Komponist
Gratulation und danke für den schönen Bericht!
P.S. Als Kind hatte ich mich immer wieder gewundert, warum die Hobbits und die Elfen während ihrer Reisen nie aufs Klo gehen….