Was ist eigentlich „gute Musik“? – Gehaltsästhetik nach Harry Lehmann
Seit meiner Lektüre von Harry Lehmanns Kunstphilosophie „Gehaltsästhetik“ 2015 geht mir das Buch nicht mehr aus dem Kopf. Zentrale These des Buches war ja die Feststellung eines postmodernen Moments im Fortgang der Künste („Alles schon mal dagewesen!“), dem mit einer gehaltlichen Aufladung der Werke unter utilitaristischer bzw. pragmatischer Nutzung aller nun zu freier Verfügung stehenden ästhetischen Mittel zu begegnen sei. Nur so lasse sich der kulturelle Stillstand, den die Postmoderne darstelle, überwinden. Schaut man sich 2019 ein wenig um im Bereich der zeitgenössischen Bildenden Kunst, scheint „Gehaltsästhetik“ das richtige Buch zur richtigen Zeit gewesen zu sein: Allerorten dominiert engagierte bzw. politisch aufgeladene Kunst, meistens von links, aber zunehmend auch von rechts.
Für immanentistische Ausdifferenzierungen / l’art pour l’art scheinen sich derzeit weder auf Seiten der KünstlerInnen noch beim Publikum viele begeistern zu können. In der Kunstmusik sieht’s ähnlich aus. Kreidlers „Neuer Konzeptualismus“ ist zwar ein nach vielen Seiten offenes Konstrukt, wurde vom Meister selber aber nicht selten gehaltsästhetisch im Sinne klassisch linker Gesellschaftskritik benutzt („Fremdarbeit“, „Charts Music“) – wogegen freilich nichts zu sagen ist. Aber ein Großteil derartig politischer oder besser politisierter Kunst und/oder Kunstmusik entspricht gerade nicht den Desideraten der Lehmann’schen Gehaltsästhetik. Warum das so ist, möchte ich in der Folge ausführen.
Gut/gut gemacht
Dem einen oder der anderen wird das nicht in den Kram passen, aber gut gemacht ist keine conditio sine qua non für gute Kunst. Viele Romane und short stories von Philip K. Dick bsp.weise sind schlampig und eilig heruntergeschrieben, gehören aber aufgrund ihres herausragenden Gehalts zum besten, was das 20. Jahrhundert an Literatur hervorgebracht hat. Anders gesagt: Für die qualitative Beurteilung von Kunst ist das Auseinanderhalten von gut und gut gemacht zentral. Die Demokratisierung einst kostspieliger Produktionsmethoden durch die Digitalisierung hat eine historisch beispiellos gigantische Menge gut gemachter Artefakte hervorgebracht.
Manchmal habe ich den Eindruck, das hat die Geschmacksbildung vieler Menschen so verwirrt, dass sie nicht mehr imstande sind, zwischen gut gemacht und gut zu unterscheiden. Vor allem in der Rezeption des zeitgenössischen Mainstream-Kinos fällt mir das auf. Wie oft schon habe ich auf die Frage: „War der Film gut?“ die Antwort „Er war gut gemacht.“ bekommen, aber eher mit einem bewundernden als mit einem kritischen Unterton. Diese übertriebene, ja übergriffige Wertschätzung des Handwerklichen kommt vielleicht daher, dass man die FilmemacherInnen für die virtuose Beherrschung digitaler Produktionsmittel bewundert, mit denen man selber im Alltag nicht ganz so gut zurechtkommt. Das ist zwar eine psychologisch verständliche Reaktion, die aber das ästhetische Urteil nicht beeinflussen sollte. Das Recht auf ein ästhetisches Qualitätsurteil steht jeder Bürgerin zu, unabhängig davon, ob sie etwas von CGI versteht oder nicht. Ebenso sollte klar sein, dass sich mir die ästhetische Qualität bsp.weise Elektroakustischer Musik auch dann mitteilen muss, wenn ich die Max/MSP-Algorithmen, die die Komposition generiert haben, weder kenne noch verstehe. Falls das nicht möglich ist, hat die Komponistin versagt.
Anliegen, Stil und Gehalt: Vorschlag einer qualitativen Kategorisierung von Musik
Musik (sowie Kunst im Allgemeinen) bekommt ein Gesicht durch ihren Stil, d. h. durch die mehr oder minder gekonnte Verwendung mehr oder minder anerkannter Ausdrucksmittel. Darüber hinaus sollte Musik gehaltvoll sein, also ein frei wählbares außermusikalisches Anliegen durch ihren Stil vermitteln. Gehaltvolle Musik entsteht durch die Vermittlung dieses Anliegens mit stilistischen Mitteln, anders geht es nicht, denn „Music is a prostitute“ (S. Brown 2009), will sagen, eine überwältigende, aber ethisch und moralisch komplett indifferente Verführerin. Bezahlt man sie nur ordentlich, lässt sie alles mit sich machen, es ist ihr egal. Alles, was die Musik von sich selber weiß, ist, wie sie manipuliert.
Das Verhältnis von Anliegen und Stil kann in mannigfaltiger Art und Weise problematisch sein. Transportiert der Stil das Anliegen nicht, versteht keiner, was die Komponistin gemeint hat. Geht es dem Komponisten eigentlich nur um das Anliegen und die Musik dient nur als Schmiermittel, merkt man die Absicht und ist verstimmt. Ist die Komponistin Meisterin eines speziellen Stils, hat aber darüber hinaus kein Anliegen, lässt sich ihre Arbeit mit Fug und Recht als hochkultiviert, aber leer abkanzeln. Erst, wenn sich Anliegen und Stil gegenseitig kommentieren bzw. bereichern, entsteht wirklich interessante, d. h. gute Musik. Nach diesem Schema lässt sich jede Art von Musik qualitativ in eine von vier Kategorien einteilen.
- In Kategorie I stehen Anliegen und Stil in einem Missverhältnis. Ein Beispiel wäre etwa uncooler Pop, der zu kompliziert, zu angestrengt und zu intellektuell daherkommt, darüber hinaus auch noch schlecht produziert ist und nicht ins Ohr geht. Neue Musik, die sich auf die Vorführung erweiterter Spieltechniken beschränkt, gehört ebenso hierhier wie sog. intelligente elektronische Tanzmusik, die nicht groovt. Und natürlich sämtliche Formen volkstümlicher Musik, die keine Volksmusik sind.
- Die Musik der Kategorie II dient lediglich als Schmiermittel für ein Anliegen. Popmusik, die lediglich populär sein bzw. werden will und sonst nichts, ist hier richtig aufgehoben, ebenso politische engagierte Kunstmusik, deren Anliegen man evtl. zwar sogar unterstützt, die aber musikalisch nicht zu überzeugen weiß. Gute Filmmusik, die man aber einfach so, d. h. ohne dabei den Film zu sehen, nicht hören würde, gehört auch hierher, genauso wie animierende, d. h. funktionierende elektronische Tanzmusik, die einen, zuhause in Ruhe angehört, aber nur noch nervt. Und schließlich die meiste authentische Volksmusik, der man noch anhören kann, dass einst zur Unterstützung eines gesellschaftlichen Rituals entstand.
- Handwerkliche und/oder stilistische Meisterschaft in Abwesenheit eines Anliegens charakterisiert Musik, die in die Kategorie III gehört. Hier glaubt man die KomponistInnen ständig „Wir sind wahre KönnerInnen und demonstrieren Ihnen das auch gerne ausgiebig, aber außer für Musik interessieren wir uns eigentlich für nichts.“ sagen zu hören. Gekonnt komponierte Neue Musik gehört hierher, ebenso wie mehr oder minder akademischer Jazz „auf höchstem Niveau“, wie es immer so schön heißt. Weiterhin die meiste Improvisierte Musik und alle Formen mehr oder minder elaborierter (post-)moderner Salonmusik à la Quadro Nuevo, Kronos Quartett etc.
- Nur, wenn sich Anliegen und Stil gegenseitig befruchten oder hochschaukeln, entsteht Musik der Kategorie IV. Das kann gehaltvolle Musik jeglicher Couleur sein, denn Gute Musik ist (leider) kein Genre, sonst wäre es einfach. Es ist eher so, dass sich irgendwann intersubjektiv ein Erspüren dieser Gehalthaftigkeit einstellt. Und zwar nicht nur bei ExpertInnen. Wichtig dabei ist, dass auch normale HörerInnen irgendwann den Eindruck gewinnen, es hier mit einem guten und nicht etwa nur mit einem gut gemachten Stück Musik zu tun zu haben, denn das würde in die Kategorie III gehören.
Stefan Hetzel
(*1966) – Komponist, Pianist, Blogger
Hochinteressant, weiterverfolgen! Ein Buch?
Steile Thesen meinerseits:
Musik der Kategorie IV gibt es nicht. Da kann Ai Weiwei so viele Ming-Vasen fallen lassen wie Damien Hirst Haie töten. Durch das „Anliegen“ (mit Tremolostimme auszusprechen) lugt stets das Plakative hinterm Gebüsch hervor wie bei weiland Schiller oder Brecht. Die falsche Parole bringt auch das Kunstwerk selber zum Schreien. Eine ausdifferenzierte soziale oder politische Analyse in Töne zu fassen hingegen, klingt ungefähr so attraktiv wie die Verarbeitung der AGBs von google zu einem kulinarischen Menü.
Musik der Kategorie III gibt es auch nicht. Wenn man gewollte handwerkliche Virtuosität heraushört (Richard Strauss anyone?) kann es auch mit der handwerklich-stilistischen Virtuosität nicht allzu weit her sein. Zu Quadro Nuevo: In welche Kategorie gehört eigentlich André Rieu? Nr. II mit dem Interesse „Geldverdienen“?
Die hier befindlichen Typen schließlich fordern die Frage heraus, ob nicht doch ein inhärentes Missverhältnis vorliegt, denn ansonsten müsste man einen Hörer, der im Club Musik genießt, die ihn zu Hause belästigt, den Filmzuschauer, der Bassgrummeln nur dann interessant findet, wenn gleichzeitig Batman über den Bildschirm läuft, als schizophren bezeichnen. Bei Popmusik, die Katastrophen auf noch so moralisch betroffene Weise konsumierbar macht, ist Kategorie I ohnehin angemessen.
Die Beispiele von Kategorie I zeigen, dass Avantgarden (uncooler Pop, der zu „zu“ ist) immer unter zu wenig Wirklichkeit für den eigenen Anspruch leiden, wohingegen es bei den Etablierten (z. B. die großen Events der Klassikwelt) genau umgekehrt ist.
„So komm! daß wir das Offene schauen,
Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.“
@Karl Gerber: Danke und – nein, es wird sich nicht zum Buch auswachsen, ich bleibe beim Weblogartikel.
@Marvin Balzer: Herzlichen Dank für Ihren ausführlichen Kommentar, dem ich komplett widersprechen muss.
Ihren sarkastischen Bemerkungen zu angeblich nicht existierender Musik der Kategorie IV sowie der Referenz auf Schiller und Brecht entnehme ich, dass sie „gehaltvoll“ komplett mit „belehrend“ gleichzusetzen scheinen. Und belehrt werden wollen sie nicht. – Gut, dann sind wir schon zwei.
Es wird sie vielleicht überraschen, aber ich halte auch Lachenmanns „Torso“ und Reichs „Drumming“ für gehaltvoll. In beiden Fällen geht es zwar, oberflächlich betrachtet, um innermusikalische Anliegen (Lachenmann: Etablierung erweiterter Spieltechniken, Reich: Etablierung eines neuen Ismus), doch waren diese eingebettet in einen zeitgeschichtlichen Kontext, der daraus außermusikalische machte. Weswegen diese Musik auch bis heute als relevant betrachtet wird.
Komponiert man hingegen 2019 wie Lachenmann oder Reich, entbehrt das, auch und gerade, weil deren einst revolutionäre ästhetische Mittel mittlerweile längst Kunstmusik-Mainstream wurden, jeden Gehalts, denn wir befinden uns ganz offensichtlich nicht mehr in der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts und haben ganz andere Probleme, auf die weder Kratzen am Steg noch endlos variierende Repetitionen die Antwort sind.
Gehalt entsteht also nicht aus der Absicht, den Oberlehrer spielen zu wollen, sondern „den Punkt zu treffen“, egal mit welchen musikalischen Mitteln. Ob ein Werk „den Punkt getroffen hat“, ist freilich manchmal schwer zu entscheiden und zeigt sich mitunter erst im größeren zeitlichen Abstand zu seiner Entstehung.
@Stefan Hetzel: Vielen Dank auch für Ihre Antwort! Wir sind uns einig darin, in der modernen Kunst eine Konzeptualität zu konstatieren. Reich hat auf die Aporien seines Lehrers Berio reagiert, indem er das, was an kompositorischem Aufwand getrieben wird, unter dem Parameter der Hörbarkeit dieser Operationen bewertete. Lachenmann hat auf den Serialismus Nonos reagiert, indem er der Beherrschung der strukturellen Parameter auch die Beherrschung der Instrumentenklänge beigesellte. Reich wurde wiederum durch Adams produktiv kritisiert, Lachenmann hat dies für seine Musik unter anderem selbst übernommen.
Gerade durch diese Selbstreferenzialität, der Überwindung der jeweiligen Vorgänger innerhalb der „Erfordernisse der Materialästhetik“, hat die Musik in besonderer Weise an der gesellschaftlichen Gesamttendenz teil, weil sich in den Werken die zunehmende technische Beherrschung der Welt spiegelt, wobei auch Entformalisierungen und Digressionen als rationaler Fortschritt gegenüber mechanischen Zurichtungen gesehen werden können. Der solcherart vermittelte „erschließende Schein“, also die Abbildung der Welt als schöpferische Mimesis, entscheidet über den künstlerischen Gehalt. Das heißt, aus Ihren Anmerkungen wird umgekehrt ein Schuh: Nicht die Zeitgeschichte, die sich gar nicht ohne weiteres auf den Punkt bringen lässt, sorgt für die Relevanz der Musik, sondern die Musik sorgt durch ihren innermusikalischen Dialog für realweltliche Aussagekraft, dem „objektiven Geist“ ihrer Epoche.
Zwar glaube ich nicht einmal an die Erschöpfung des Rohstoffvorrats in der Musik angesichts jüngerer Kompositionen wie limited approximations von Haas. Mit Materialfortschritt ist jedoch ohnehin die Entwicklung der Beziehung der musikalischen Elemente gemeint, also in etwa das Modell der Medienverschachtelung. Dieser Fortschritt sollte nun nicht eindimensional in eine Richtung gedacht werden und die Rezeption avancierter Musik durch ein winziges Spezialpublikum ist schon gar nicht unproblematisch. Insofern verfängt aber auch die Kritik an der Postmoderne nicht mehr, da postmodern nicht bedeuten muss, die, zudem nur begrenzt mögliche, Rohstofferweiterung aufzugeben, sondern nach immer grenzenloseren, freieren Kombinationen zu suchen, einer musique informelle als Integration auseinanderstrebender Elemente, einer „gewaltlosen Synthesis des Zerstreuten“ als Kritik an der realen Herrschaft.
Da Entfremdung als Auseinandertreten des Selbstbewusstseins der Subjekte von der äußeren Welt für die Moderne kennzeichnend ist, muss sich ein solches Bewusstsein auch in den Werken wiederspiegeln. Damit ist die Kunst auf Negation (nicht zwangsläufig auf expressive Negativität) geeicht, der Formulierung einer negativen Utopie. Eine solche Nicht-Identität lässt sich ästhetisch herstellen, begriffliches Identifizieren verhindert dies bereits. Die Künstler der Gehaltsästhetik entgehen dieser Forderung, „wenn sie ‚die Arbeit am Material‘ provokativ einstellen“ (Lehmann 226) und stattdessen einer „Idee“ (227) bzw. einem „thematischen Rahmen“ (228) folgen wie beim Deutschaufsatz.
In punkto Notwendigkeit eines Gehalts sind wir uns einig. Eine spezifisch gehaltsästhetische Kunst nach Harry Lehmann geht aber darüber hinaus. Er fordert, „dass die gehaltsästhetischen Werke ihren Rezeptionskontext mitliefern müssen“ (214). Der Künstler muss also sagen, was er uns mit seinem Werk sagen will. Es geht um ein Thema, namentlich gesellschaftliche Selbstbeschreibungen und ihrer Widersprüche oder auch die Erweiterung der Möglichkeitsbedingungen von Politik, und zwar, ohne dass diese „Fremdreferenzen […] ‚wegkomponiert‘ werden“ (226), d. h. stimmig im Werkzusammenhang aufgehen und in ihrer bloßen Setzung transzendiert werden.
@M. Balzer: Wunderbare Replik, ich danke Ihnen! – Zu beachten bleibt, dass zumindest C. Gottwald 1975 in „Melos“ Reichs „Drumming“ als eher neurotisch-regressiv denn als Spiegel zunehmender technischer Beherrschung der Welt aburteilte (siehe https://wp.me/p1MYy1-2hm), ein folgenreiches Fehlurteil!
«Der solcherart vermittelte „erschließende Schein“, also die Abbildung der Welt als schöpferische Mimesis, entscheidet über den künstlerischen Gehalt.» Wow, das ist elegant formuliert!
«Zwar glaube ich nicht einmal an die Erschöpfung des Rohstoffvorrats in der Musik angesichts jüngerer Kompositionen wie limited approximations von Haas.» Diese Komposition kenne ich jetzt nicht, aber wenn sie auf Mikrotonalität abheben, die scheint mir als Komponist auch derzeit die meisten unausgeschöpften Potentiale zu bergen. Falls Sie das interessiert, hier ein Link zu meinen „variations 1, 2 & 3 for microtonal player piano“: https://wp.me/p1MYy1-7xq
«Mit Materialfortschritt ist jedoch ohnehin die Entwicklung der Beziehung der musikalischen Elemente gemeint, also in etwa das Modell der Medienverschachtelung.» Materialfortschritt und Medienverschachtelung können miteinander zu tun haben, müssen aber nicht.
Postmodernismus als musique informelle bzw., wie ich es lieber nenne, freie Konstruktion (die auch ganz ohne lähmende Ironie auskommen kann), da bin ich voll bei Ihnen!
«Damit ist die Kunst auf Negation (nicht zwangsläufig auf expressive Negativität) geeicht, der Formulierung einer negativen Utopie.» Nein, ich glaube nicht, dass „die Kunst“ dystopisch sein muss, um wahrhaftig zu sein. Im Gegenteil: „Mad Max is easy.“ (Kim Stanley Robinson), will sagen, Entwurf und Ausführung einer anspruchsvollen „Planet B“-Utopie erscheint mir intellektuell weitaus anspruchsvoller und damit auch lohnender zu sein.
Dass die Künstler der Gehaltsästhetik Adornos Forderung nach ästhetischer Herstellung von Nicht-Identität prinzipiell „entgehen“, wie sie sagen, glaube ich nicht. Allerdings ist es mit der Nicht-Identität so eine Sache: viele meinen sie erblickt zu haben, aber niemand hat sie je gesehen… (genausowenig übrigens wie ihre Schwester Autopoiesis). ;-)
Eine schönen Wochenanfang wünscht Ihnen
S. Hetzel
Lieber Herr Hetzel,
die eleganten Formulierungen aus meiner Antwort speisen sich aus Notizen zu einem Artikel von Guido Kreis im Adorno-Handbuch, sind also bestimmt geklaut. Wobei man sich anhand eines solchen Handbuchs fragen kann, inwieweit sich Philosophie überhaupt zusammenfassen und systematisieren lässt, allein schon aufgrund der Schwierigkeit, ihre Sinnstruktur »dingfest« zu machen. Das gilt natürlich auch für die Offenheit der Rezeption künstlerischer Äußerungen. Dennoch finde ich die normative Forderung nach wie vor reizvoll, dass der Mensch in der Kunst mit den Windmühlen der Digitalisierung (Binärkodierung) seines eigenen Denkens kämpfen sollte. Nicht-Identität bedeutet dann quasi: »Komponiere so, dass Excel damit überfordert wäre« (während »Autopoiesis« und die damit verwandte »Kontingenz« auf die Unendlichkeit des Subjekts verzichten und bloß einem Organismus bei der Zellteilung zugucken). »Dystopisch« ist dafür zu einengend, wahrscheinlich ist der Begriff Negation missverständlich. Ich meinte eher die Vermeidung alltäglicher Denkschubladen (Bilderverbot?), die auch aus den Gesellschaften diverser Fantasy/Science-Fiction-Erzählungen nicht wegzudenken sind und konkrete Planet-B-Utopien gerne in die Nähe jeweils passender realhistorischer Staaten rücken. Ihre Komposition ist beeindruckend! Ein echter Spieler und ein fleißiger Stimmer wären grandios; oder ist Ihnen Midi tatsächlich lieber?